Es war einmal, ich erinnere mich nicht mehr genau wann, da verloren wir in unserem Dorf die Zeit. Ich möchte nicht sagen, daß wir nur gefaulenzt hätten. Und es war auch nicht so, daß wir von morgens bis abends nur gearbeitet hätten.
Nein, so war es auch nicht. In Wahrheit hat man uns die Zeit weggenommen: irgendjemand stahl die einzige Uhr des Dorfes. Eines Morgens wachten wir alle zu spät auf, weil die Uhr auf dem Marktplatz, welche immer zu jeder Stunde geschlagen hatte, verschwunden war. Von diesem Moment an änderte sich alles. In meinem Dorf wußten wir nun nicht einmal mehr, wann Essenszeit war. Don Pancho öffnete seinen Laden so spät, daß sich davor eine Schlange von Menschen bildete, die daraufwarteten, ihre Einkäufe erledigen zu können. Schließlich waren alle so verärgert, daß sie die Waren mitnehmen wollten, ohne zu bezahlen. Es geschah auch, daß sein Sohn Jörge so spät in den Hühnerstall kam, um die Eier zu holen, daß aus ihnen schon kleine Küken geschlüpft waren.
Die Lehrer kamen zu spät zum Unterricht, und die Schüler freuten sich über die Freistunden. Die Tageszeitung, welche normalerweise die neuesten Nachrichten bekanntgab, erschien jetzt mitten in der Nacht und verlor ihre brennende Aktualität. Der arme Chirimilo, der nachmittags immer gebratene Bananen verkaufte, kam nun mit seiner Pfeife, die ihn ankündigte, gegen Mitternacht, wenn sich die Kinder schon schlafen gelegt hatten und auch die alten Leute nichts mehr kaufen wollten. Das leckere süße Brot und die frisch gemolkene Milch, die man normalerweise schon zeitig zum Frühstück im Dorf lieferte, waren jetzt nicht vor Mittag fertig. Die einzigen, welche weiter lebten wie bisher, als sei nichts geschehen, waren die Tiere.
Ohne zu wissen wie, krähte der Hahn bei Tagesanbruch und der Esel (der gezeigt hat, daß er eigentlich gar nicht so dumm ist) iate auch weiterhin zur gewohnten Zeit. Um das Problem zu lösen, begannen die meisten nun auf andere Art und Weise die Zeit zu messen. Man sagte: „Dort kommt der Zug, also müßte es 12 Uhr sein“, oder wenn die Sonne am Himmel aufging: „Es müßte ungefähr 7 Uhr sein“. Man begann auch die Zeit mit Dingen in Verbindung zu bringen, die man fühlte; wenn man Hunger hatte, müde war oder gelangweilt, dachte man an eine bestimmte Uhrzeit. Da die Kinder jetzt länger spielten, begannen sie Dinge zu erfinden. Unter anderem bauten sie verschiedene Arten von Uhren, die dazu dienen sollten, das Problem ein wenig zu lösen. Aber diese waren nicht sonderlich praktisch, schon weil die Sonnenuhr nicht in der Nacht funktionierte und die Sanduhr nur für eine Stunde ausreichte. Um die Tage zu zählen, füllten sie eine Flasche mit sieben Bonbons und aßen eins (aber wirklich nur eins) jeden Tag. Wenn sich der Behälter geleert hatte, konnte man sagen, daß eine Woche vorübergegangen war. Die erfundenen Zeitmesser aber konnten die alte und geliebte Uhr nicht ersetzen, so daß Jaime und seine Freunde sich einen Plan ausdachten. Dieser bestand im Bauen einer neuen Uhr, die man als Köder für den Dieb nutzen wollte, der sicherlich wieder versuchen würde, sie zu stehlen. Man entschied sich für die Sonnenuhr und benutzte als Zeiger einen trockenen Ast von dem alten Baum, der sich in der Mitte des Platzes befand. Um die Zeit zu markieren, kennzeichnete man mit numerierten Pflöcken die Stellen, welche die Sonne auf ihrem Weg berührte, und es reichte, aus auf den Schatten des Zeigers zu schauen, um zu wissen, wie spät es war.
In jener Nacht warteten sie ganz still und versteckt an verschiedenen Orten. Plötzlich fiel ein Schatten auf den von den Kindern ausgewählten Ast. „Ob das der Dieb ist?“ fragten sich die Kinder fast ohne zu atmen. Aber der Schatten wurde schnell länger, erstreckte sich über den Baum und zeigte den schlanken Körper einer Katze, die sich mit Vergnügen die Krallen schliff. Später, als die kleinen Wächter schon fast eingeschlafen waren, überraschte sie eine klägliche Melodie. Ein Mann, weder jung, noch alt, sang mit Begeisterung:
Uhr, zeig nicht die Stunden an,
weil ich es nicht aushallen kann,
sie wird mich für immer verlassen,
wenn es wieder Tag wird.
Mit Sicherheit gehörte diese Stimme dem Dieb. Ein verliebtes Herz sehnt sich nach dem Augenblick, wo es auf ewig mit seiner Geliebten vereint sein kann. Aber sie irrten sich wieder. Die flehende Stimme verschwand mitsamt dem dazugehörigen Mann in der Dunkelheit. Schließlich tauchte ein geheimnisvoller Schatten auf, der mit großer Schnelligkeit die Zeichen herausriß, welche sie am Morgen gesetzt hatten. Man hörte seinen gehetzten Atem, und es schien, als spreche er mit sich selbst. Die Kinder stürzten sich entschlossen auf ihn, entrissen ihm die Tasche und strahlten sein Gesicht mit einer Taschenlampe an. Plötzlich hielten sie erstaunt inne: „Aber das ist doch Don Diego, der Uhrmacher!“
Nachdem sich der Schrecken gelegt und er sich den Staub ausgeklopft hatte, erzählte Don Diego seine Geschichte. In der letzten Zeit fühlte er sich immer älter und einsamer. Allmählich wurde es ihm unmöglich, alle Uhren des Dorfes zu reparieren. Niemand wollte die kleinen Teilchen herstellen, die man braucht, um eine Uhr zusammenzubauen. Es blieb als einzige funktionierende Uhr jene vom Dorfplatz übrig. Und weil das eine gute Uhr war, machte sie ihm nicht viel Arbeit. Das Schlimmste aber war, daß es ihm so vorkam, als wollten sich die Kinder und Jugendlichen nicht mehr mit ihm unterhalten. Schließlich erschien es ihm so, als ob die Jahreszeiten von Mal zu Mal langsamer vergingen, was ihn noch trauriger stimmte. Er fühlte sich so verlassen, daß er eines Tages eine verrückte Idee hatte; wenn er die einzige funktionierende Uhr stähle, würde die Zeit stehen bleiben und er nicht mehr älter werden.
Am nächsten Morgen hatte sich schon fast das ganze Dorf auf dem Platz versammelt, um zu erfahren, was geschehen war. Als sie die Geschichte vom alten Uhrmacher hörten, fühlten sich die Anwesenden ein wenig schuldig. Einige hatten vergessen, Don Diego zu besuchen, andere kannten ihn nicht einmal, aber die Mehrheit hatte einfach keine Zeit für eine Unterhaltung mit ihm gehabt. Don Diego gab die Uhr zurück, und gemeinsam setzten sie sie wieder auf dem Dorfplatz ein. Inzwischen umarmte und entschuldigte man sich und versprach zugleich, die Form für die Herstellung der kleinen Teilchen zu finden, die Don Diego brauchte, um die anderen Uhren reparieren zu können. Dann versprach Don Diego, den Kindern zu zeigen, wie man Uhren richtig zusammensetzt. Von diesem Tag an gab es wieder eine Uhr und auch genügend Zeit für viele andere Dinge.
Übers. aus dem Spanischen: Nora Pester