Seit die linken, progressiven Regierungen in Argentinien, Venezuela und Brasilien in unterschiedlicher Weise ihrer Macht verlustig gingen, wird verstärkt über die Zukunft Lateinamerikas diskutiert. Dabei fällt auf, dass die damit verbundenen Rekonfigurationen zumindest in der deutschsprachigen Debatte kaum in den globalen Kontext gerückt werden. Ansätze einer solchen Perspektive finden sich zwar dort, wo die neue Etappe der Beziehungen zwischen Kuba und den USA einbezogen (Welttrends und SWP-Aktuell, Mai 2016) oder nach der „Lateinamerikanisierung Europas“ (Brand 2016:96ff) gefragt wird. Insgesamt bleiben aber die geopolitische Strategie der USA und die überregionale Rolle der neuen Aufsteiger, die sich im BRICS-Klub (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) zusammengeschlossen haben, unterbelichtet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Exklusivität erheben zu wollen, seien im folgenden einige Gedanken für eine weitergehende Debatte vorgestellt, die teilweise auch in aktuellen spanischsprachigen Publikationen zu finden sind (CRIES 2016, IEEE 2016).
Lateinamerika, Juni 2016
Die drei wichtigsten Länder Südamerikas, die alle noch vor einem halben Jahr von linken Regierungen geführt wurden, sind seitdem in unterschiedlicher Weise der Revanche ihrer rechten Gegner zum Opfer gefallen. Der Kirchnerismus in Argentinien, seit 2003 an der Regierung, ist im November 2015 abgewählt worden. Seitdem wird das Land von Mauricio Macri, einem weit rechts stehenden Unternehmer, regiert. In Venezuela sieht sich Präsident Nicolás Maduro, der sich im April 2013 nur mit hauchdünner Mehrheit (50,66 Prozent) gegen seinen rechten Herausforderer Henrique Capriles durchsetzen konnte, seit Dezember einer oppositionellen Parlamentsmehrheit von fast zwei Dritteln gegenüber. Das Land wird zudem von einer schweren Wirtschaftskrise geschüttelt, und die Venezolaner leiden unter einer Welle von Gewalt, die zu den höchsten der Welt zählt. Brasilen erlebt gegenwärtig den Absturz vom Vorzeigebeispiel einer aufstrebenden „Gestaltungsmacht“ zum instabilen Krisenfall. Am 17. April 2016 stimmten 367 von 513 Abgeordneten für die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT). Dieser juristisch verbrämte Staatsstreich der traditionellen Eliten, dem ähnliche Rechtsputsche in Honduras (2009) und Paraguay (2012) vorausgegangen waren, hat weitreichende Folgen. Brasilien fällt nicht nur als regionale Führungsmacht auf unbestimmte Zeit aus, das außenpolitische Vakuum und die anhaltende Wirtschaftskrise dürften auch die anderen vier BRICS-Staaten, die selbst mit schwierigen Problemen zu kämpfen haben, schwer treffen.
Auch wenn Bolivien, Chile, Ecuador und Uruguay weiter von linken Präsidenten regiert werden, stellt der Rechtsschwenk in Argentinien, Venezuela und Brasilien eine Zäsur nicht nur für die Latinolinke, sondern für die gesamte Region dar. Die Wirkung dieser Zäsur wird durch zwei Ereignisse verstärkt, die auf den ersten Blick nichts damit oder miteinander zu tun haben: Der epochale Kurswechsel Washingtons gegenüber Kuba, der am 17. Dezember 2014 eingeleitet worden war, und der Abschluss eines Transpazifischen Freihandelsabkommens (TPP) im Februar 2016. Die angekündigte Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und der sozialistischen Inselrepublik, die inzwischen mit der gegenseitigen Eröffnung von Botschaften und der Reise von Barack Obama nach Kuba im März 2016, immerhin der erste Besuch eines US-Präsidenten seit 1928, ihre Fortsetzung gefunden haben, signalisiert vor allem zweierlei: Erstens das offene Eingeständnis Washingtons, dass es mit seiner Blockade- und Isolierungspolitik gegenüber der kubanischen Revolution gescheitert ist; zweitens zeigt die neue Kubapolitik Obamas, dass Washington von einer eher „abstinenten“ Haltung gegenüber Lateinamerika auf einen Kurs pragmatischer Hinwendung umgeschwenkt ist. Einen Schwenk anderer Art verkörpert die Trans-Pacific Partnership (TPP). An diesem Freihandelsbündnis, das sich mehr oder weniger offen gegen China richtet, sind neben den USA und Kanada sowie sieben pazifisch-asiatischen Ländern (Australien, Neuseeland, Brunei, Singapur, Malaysia, Vietnam und Japan) mit Mexiko, Peru und Chile auch drei lateinamerikanische Länder beteiligt. Mit der Formierung einer pazifischen Achse in Lateinamerika, die ihren Vorläufer in der 2012 von Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile gegründeten Pazifik-Allianz (Alianza del Pacifico; AdP) hat, vertiefen die USA als Hegemonialmacht der westlichen Hemisphäre die Fragmentierung Lateinamerikas weiter. Beide Entwicklungen – Kuba und AdP/TPP – verweisen auf die Reformulierung der geostrategischen Prioritäten Washingtons, die ihrerseits eine Reaktion auf globale Strukturverschiebungen und -brüche darstellt, die sich im Prisma des Krisenjahres 2008 bündeln und von dort aus auf Lateinamerika zurückwirken.
Globale Verschiebungen und Brüche
Die Weltwirtschaftskrise von 2008 hatte in den USA ihren Ausgangspunkt und ihr Epizentrum. In der Kombination von klugem Krisenmanagement und strukturellen Vorteilen, über die die USA als westliche Hegemonialmacht verfügen (US-Dollar als Weltgeld, Aufstieg zur Energieweltmacht im Zuge der „Fracking-Revolution“) ist es Washington relativ schnell gelungen, sich von den Folgen der Finanzkrise zu erholen, während der EU-Raum, insonderheit die Euro-Zone, bis heute an den Verwerfungen von 2008 laboriert. Für die BRICS-Staaten gab die Krise den letzten Anstoß zur Bildung eines eigenen Klubs, in dessen Rahmen sie Alternativen zur westlichen Dominanz schaffen wollen. 2008 war auch die Geburtsstunde der „Gruppe der 20“ als neues Forum von global governance. Neben den westlichen Führungsmächten (G7 plus EU) und den BRICS zählen Australien, Indonesien, Südkorea, Saudi-Arabien, Türkei, Mexiko, Argentinien zur Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, die 1999 als informeller Zusammenschluss entstanden war. Im Rückblick markiert das Jahr 2008 auch einen ersten deutlichen Bruch zwischen Russland und dem Westen. Letzterer sah im kurzen Russisch-Georgischen Krieg um Südossetien einen imperialen Akt Putins, während dieser sich darin bestätigt fand, dass die USA und die NATO ihren Kurs der „Osterweiterung“ auf Kosten Russlands forcieren wollten. Zu einem zweiten Kalten Krieg zwischen beiden Seiten führte dann 2014 der Konflikt um die Ukraine. Lateinamerika hatte zwar die Krise von 2008 relativ gut überstanden und konnte von dem noch bis 2013 anhaltenden Rohstoffboom profitieren, geriet aber mit dessen Nachlassen an die Grenzen seines (neo-)extraktivistischen Wirtschaftsmodells und damit erneut in die Krise, die diesmal noch härter ins Kontor schlug und nun auch Wirtschaftsriesen wie Brasilien paralysiert hat.
Relativ unbeschadet hatte auch China die Krise von 2008 überstanden und mit seinem anhaltenden Rohstoffhunger den lateinamerikanischen Wirtschaftsboom befeuert. Mit der Aufnahme der asiatischen Volksrepublik in die WTO 2001 hatte sich China in rasantem Tempo der führenden Wirtschaftsmacht der Welt, den USA, angenähert, die zugleich den wichtigsten Absatzmarkt für die chinesischen Exporte bildete. Dieser Aufstieg, dem auch Indien folgte, hat zwei gravierende Konsequenzen: Zum einen begann sich das Epizentrum der Weltwirtschaft nach Asien zu verlagern, zum anderen fühlen sich die USA, obschon ökonomischer Partner und Profiteur des chinesischen Erfolges, dadurch politisch in ihrer Hegemonialstellung herausgefordert.
Washingtoner Prioritäten und das eurasische Dilemma
Mittel- und langfristig bereitet der Aufstieg Chinas Washington die größte Sorge, da es dadurch seine Hegemonialstellung gefährdet sieht. China kann nicht nur auf seinen riesigen Markt und seine Exportkraft als neue „Werkstatt der Welt“ verweisen, der asiatische Gigant hat auch deutlich an politischem Gewicht gewonnen und damit begonnen, geostrategische Projekte zu entwickeln, die mit den Interessen der USA kollidieren. Obama, der in seiner ersten Amtszeit (2009-2013) vor allem mit dem Krisenmanagement, innenpolitischen Projekten (Gesundheitsreform etc.) sowie dem Rückzug aus Irak und Afghanistan beschäftigt war, reagierte 2012 auf die chinesische Herausforderung mit einem „Pivot to Asia“ (Schwenk nach Asien). Auch wenn dieser Schwenk auf der traditionellen Präsenz der USA als pazifische Macht und den Militärbündnissen mit Japan, Südkorea und Australien aufbaut, stellt die Verlagerung des Gravitätszentrums der Außenpolitik Washingtons in den asiatisch-pazifischen Raum eine Neuausrichtung dar, die dieser Region oberste Priorität einräumt und damit auch die Bedeutung und den Stellenwert anderer geopolitischer Interessenfelder und Räume (neu) bestimmt. Neben der bereits erwähnten Freihandelsinitiative (TPP) beinhaltet der „pivot“ vor allem militärische und bündnispolitische Maßnahmen. So sollen bis 2020 60 Prozent der US-Flotte im Südwestpazifik konzentriert werden. Außerdem wurde ein neues „AirSea Battle“ – Konzept entwickelt, um die militärische Effektivität und Schlagkraft der US-Streitkräfte zu erhöhen.
Kurzfristig hat dann der offene Konflikt mit Russland, der 2014 in den geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Westen (USA, EU) und Russland um die Ukraine eskaliert ist, zwar die Neuausrichtung der US-Außenpolitik überlagert, zugleich aber auf ein Dilemma aufmerksam gemacht, das sehr wohl mit dem „Pivot to Asia“ in Verbindung steht. Den Kern dieses Dilemmas bildet die Stellung Russland als dominante eurasische Macht, die es dem Land prinzipiell erlaubt, geopolitisch in zwei Richtungen zu agieren. Seit Peter I. hat sich Russland zumeist westwärts orientiert, ist aber zugleich nach Osten bis zum Pazifik und zum Amur, der heute die Grenze zu China bildet, expandiert. Im Ergebnis der Ukraine-Krise ist es Washington zwar gelungen, einen Keil zwischen Westeuropa und Deutschland einerseits sowie Russland andererseits zu treiben, womit der Albtraum – aus der Sicht Washingtons – einer europäisch-russischen Allianz vorerst gebannt ist. Der Preis ist jedoch auch für den „Gewinner“ USA ein hoher. Er besteht darin, dass Wladimir Putin nun den Schulterschluss mit China sucht und dort – vor allem wegen des „Pivot to Asia“ – auch mit offenen Armen empfangen wird. Aus chinesischer Sicht ist die strategische Partnerschaft mit Russland auch deshalb von hoher, wenn nicht sogar höchster Priorität, weil es mit seiner „Seidenstraßen-Initiative“ korrespondiert. Bezieht man noch die Zusammenarbeit beider Länder in den BRICS und der Schanghaier Kooperationsorganisation (SCO) in die geopolitischen Überlegungen ein, dann bekommt man eine ungefähre Vorstellung, welche Kopfschmerzen die forcierte Annäherung zwischen Russland und China den Strategen in Washington noch bereiten wird. So bekommt auch das geplante Freihandelsabkommen zwischen USA und EU (TTIP) – wie schon seine pazifische Schwester (TPP) – eine geopolitische Stoßrichtung gegen die sich anbahnende eurasisch-chinesische Blockbildung. Die geschilderten Entwicklungen unterstreichen einmal mehr, dass regionale Blockbildung und die Herausbildung einer multipolaren Welt die gegenwärtige Phase der Globalisierung immer stärker bestimmen. In diesem Kontext muss auch die gegenwärtige regionale Rekonfiguration der westlichen Hemisphäre genauer eingeordnet, untersucht und interpretiert werden.
Regionalisierung und Fragmentierung in den Amerikas
Aus Washingtoner Sicht gliedert sich die westliche Hemisphäre geopolitisch in drei Teile. Die entscheidende zentrale Region bildet „NAFTA-Land“, das sich aus den drei Mitgliedsstaaten der Nordamerikanischen Freihandelszone, USA, Kanada und Mexiko, zusammensetzt. Seit der sicherheitspolitischen Zäsur von 9/11 2001 wird die Region unter Federführung Washingtons zum „Fortress North America“ ausgebaut. Schwere Sorgen bereitet den USA besonders die Situation in Mexiko, dem schwächsten Glied in den „NAFTA-Kette“. Die südliche Grenze der USA markiert nicht nur die Territorien zweier Staaten, sondern trennt zugleich das mächtigste Land der Welt von einer Volkwirtschaft, die zwar zu den Aufsteigern gerechnet wird, aber dennoch strukturell zum globalen Süden und historisch zu Lateinamerika gehört.
Mit einer Armutsquote von fast 50 Prozent weist Mexiko ein immenses Wohlstandsgefälle gegenüber seinem nördlichen Nachbarn auf, weshalb die Mexikaner zur größten Gruppe unter den US-Einwanderern angewachsen sind. Migration und Drogenbekämpfung stehen an oberster Stelle auf der Washingtoner Mexiko-Agenda. Mit dem seit 2006 tobenden Drogenkrieg, der bislang 150.000 Mexikaner das Leben gekostet hat, und als Transitland für illegale zentralamerikanische Einwanderer in die USA ist Mexiko zu einem ernsten Sicherheitsrisiko für Washington geworden. Mit der Ausweitung ihrer Sicherheitsperimeter nach Süden sowie speziellen Programmen (SPP – Security and Prosperity Partnership 2005-2009; Merida-Initiative seit 2008) versuchen die USA, die mexikanische Schwachstelle von „NAFTA-Land“ ihren Sicherheitsvorstellungen anzupassen. Nach jüngsten Überlegungen soll „Nordamerika die kontinentale Basis der US-Globalpolitik“ bilden (Petraeus, David et al. 2014:4). Von hier aus können dann auch TPP an der pazifischen und TTIP an der atlantischen Gegenküste in das Gesamtsystem zur Verteidigung und Stabilisierung der globalen US-Hegemonie gegen die Aufsteiger der BRICS eingebunden werden.
Die zweite Zone bildet das „Amerikanische Mittelmeer“ (American Mediterranean). Mit der karibischen Inselwelt sowie den angrenzenden Küstengebieten Mexikos, Zentralamerikas (einschließlich Panama) und der südamerikanischen Karibikstaaten (Kolumbien, Venezuela) stellt die Kontrolle über diese Region (Greater Caribbean bzw. Middle America) im geopolitischen Selbstverständnis Washingtons eine unverzichtbare Voraussetzung für die Weltmachtstellung der USA dar. Für Saul Bernhard Cohen, einem der führenden Vertreter der US-Geopolitik, ist diese zweite Zone sogar geopolitischer Teil Nordamerikas (Cohen 2015:148). Bei der Anbindung und Subordination des „Amerikanischen Mittelmeeres“ unter die geopolitische Dominanz der USA kommt dem NAFTA-Land Mexiko eine Schlüsselrolle und Scharnierfunktion zu.
Die dritte Region setzt sich aus den nichtkaribischen Ländern Südamerikas zusammen. Aufgrund seiner Größe und wirtschaftlichen Bedeutung stellt Brasilien zwar die „natürliche“ Führungsmacht Südamerikas dar, muss sich dabei aber mit der Hegemonialmacht der westlichen Hemisphäre auseinandersetzen bzw. arrangieren. Unter den Regierungen von Luiz Ignácio da Silva (Lula) und Dilma Rousseff ( 2003-April 2016) hat sich Brasilien als regionale Führungsmacht mit globalen Ambitionen profiliert, die einerseits bereit gewesen ist, den USA mit eigenen Projekten und Allianzen (Mercosur, UNASUR, BRICS) Paroli zu bieten und zusammen mit Venezuela und Argentinien eine gesamtamerikanische Freihandelszone unter US-Führung (Free Trade Area for the Americas – FTAA) auf dem Amerika-Gipfel 2005 in Plata del Mar zu verhindern. Andererseits zeigte sich das südamerikanische Land durchaus bereit, mit den USA punktuell zu kooperieren. Dem kam entgegen, dass Lula und Dilma Rousseff im Vergleich zum Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez, auch von Washington als Gemäßigte angesehen wurden. Chávez hatte bis zu seinem Tod im April 2013 zahlreiche regionale Integrationsprojekte (ALBA, Banco del Sur, Telesur, Petrocaribe) – teilweise in Kooperation, teilweise in Konkurrenz mit Brasilien – angestoßen und vorangetrieben. Dabei verstand er sich in der Nachfolge des Befreiers (Libertador) Simón Bolívar als anti-imperialistischer Gegenspieler der USA. Mit dem rapiden Verfall des Ölpreises, der nach einem Hoch im Sommer 2014 (110 Dollar pro Barrel) auf 36 Dollar zum Jahresende 2015 abstürzte, und dem Tod von Chávez rutsche Venezuela in eine Krise ab, die den Chavismus als regionalen Akteur weitgehend paralysiert und seit Jahresbeginn 2016 zu einem innenpolitischen Überlebenskampf mit der rechten Opposition zwingt.
Mitte 2016 ist Südamerika so fragmentiert wie schon lange nicht mehr. Die Länder, in denen der Neoliberalismus hegemonial geblieben ist (Kolumbien, Peru, Chile), haben sich unter Führung der USA pazifisch (AdP, TPP) umorientiert. In Paraguay und Argentinien haben die Rechten die Macht zurückerobert, während die früheren linken Regionalmächte Brasilien und Venezuela paralysiert sind, womit auch die von ihnen initiierten und geführten Integrationsprojekte in der Sackgasse stecken. Für die verbleibenden Linksregierungen in Bolivien, Ecuador und Uruguay wird es schwer werden. Ihre schwindende Hegemoniefähigkeit droht in eine „katastrophale Pattsituation“ (A. Gramsci) zu münden, die den 1999 eingeleiteten lateinamerikanischen „Linkszyklus“ damit auch beenden wird (Modonesi 2015).
Ein neuer Zyklus – aber wohin führt er?
Der anstehende neue Zyklus zeichnet sich bereits in ersten Konturen ab. Die meisten Beobachter heben die „Rückkehr der USA in die Region“ (Maihold 2015:3) als ein wesentliches Merkmal der neuen regionalen Ordnung hervor. Allerdings bedarf eine solche Feststellung einer Präzisierung dahin gehend, dass Washington auch während des „Linkszyklus“ nie „draußen“ war. Zwar hatten die außenpolitischen Prioritäten, die im Zeichen des „Kriegs gegen den Terror“ standen und seit 2001 klar im Nahen und Mittleren Osten lagen, das Bild vermittelt, dass die USA Lateinamerika vernachlässigt hätten. Die Aktivitäten des SOUTHCOM, des seit 1963 für Lateinamerika (außer Mexiko) zuständigen Regionalkommandos der US-Streitkräfte, und die Reaktivierung der IV. Flotte im April 2008 zeugen ebenso wie die Errichtung neuer US-Militärbasen in Ecuador (Manta 1999-2009) und Kolumbien (sieben Basen seit 2009 in Kolumbien) davon, dass Washington als Hegemonialmacht während des gesamten Zeitraums in der Region präsent war. Die Unterstützung der Putsche in Venezuela (2003) und Honduras (2009) sowie der Plan Colombia von 2001 lassen sich ebenfalls als Belege dafür anführen. Eine andere Frage ist die Intensität der US-Präsenz in Lateinamerika. Die Fokussierung auf die Kriege in Afghanistan und den Irak sowie die Welle linker Regierungen hatten tatsächlich zu einer temporären Abschwächung des US-Einflusses in Südamerika (mit Ausnahme Kolumbiens) geführt.
Anders stellt sich die Situation in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik dar. Hier konnte Washington seinen Einfluss kontinuierlich ausbauen. Neben der schon 1994 eingeleiteten Nordamerikanisierung Mexikos (NAFTA) spielen SPP (2005-2009), die Merida-Initiative (seit 2008) und die regionalen Sicherheitsinitiativen CARSI (Zentralamerika seit 2010) und CBSI (Karibik seit 2009) eine zentrale Rolle. Auch das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Zentralamerika (CAFTA) von 2005 verweist auf die engere Anbindung der isthmischen Staaten an die USA.
In diesem Kontext stellt die Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und Kuba tatsächlich eine Zäsur dar. Allerdings muss sich erst noch zeigen, in welcher Richtung sie die Region beeinflussen wird. Dies wiederum hängt wesentlich von der inneren Entwicklung Kubas ab. Gelänge es dem sozialistischen Inselstaat, die neuen Spielräume zur ökonomischen Stärkung zu nutzen und dabei sozial ausgleichend zu wirken, würde sich daraus eine Stärkung der linken Kräfte in der Region ergeben.
Offen ist derzeit zweitens, wie sich die Präsenz und der Einfluss Chinas in der Region weiter entwickeln werden. 2014 lag der chinesische Anteil am Außenhandel mit Lateinamerika mit 12,5 Prozent erstmals vor dem Europas (12,4 Prozent). Die Ressourcenausstattung Chinas spricht dafür, dass China seine Agrar- und Rohstoffimporte aus Lateinamerika weiter ausbauen wird. So verfügen die 1,3 Milliarden Chinesen (22 Prozent der Weltbevölkerung) nur über sieben Prozent der globalen landwirtschaftlichen Anbaufläche und sechs Prozent der Süßwasserreserven. Bereits heute hat Lateinamerika einen Anteil von 28 Prozent an den chinesischen Agrarimporten (CEPAL 2015:48, 53f.) Ungeachtet aller Unwägbarkeiten über Dynamik und Stärke des chinesischen Engagements in Lateinamerika dürfte klar sein, dass China ein Gegengewicht zur Präsenz der USA in der Region bleiben wird.
Die Problematik der wirtschaftlichen Ausrichtung auf China besteht für die lateinamerikanische Linke in erster Linie darin, dass sich damit die „Rohstoff-Falle“ weiter vertieft. Die Latinolinke hat nur dann eine Chance, wenn sie aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Die niedrigen Rohstoffpreise bieten insofern eine Chance zum Umsteuern, als dass damit Alternativen zum Neo-Extraktivismus wieder attraktiver und praktikabler werden. Sollte es den Linken gelingen, sich auf ihre ursprünglichen Stärken (Mobilisierung sozialer Bewegungen) zurückzubesinnen, hätten sie gerade dort eine Chance, wo die Rechten seit längerem (Kolumbien) oder kürzerem (Argentinien) regieren. Auch wenn die Präsidentschaftswahlen in Peru der Bevölkerung in der Stichwahl nur die Wahl zwischen zwei neoliberal orientierten Kandidaten gelassen haben, zeichnet sich auch dort im Zuge des Aufschwungs sozialer Bewegungen die Revitalisierung linker Alternativen ab. In Kolumbien kommt es bereits vor Unterzeichnung des in Havanna verhandelten Friedensabkommens zwischen Regierung und linker Guerilla zu einem Erstarken sozialer Bewegungen.
Aktuell sind die Machtkämpfe in Brasilien und Venezuela, deren Ausgang ebenfalls offen ist, von Ausschlag gebender Bedeutung dafür, in welche Richtung sich der neue Zyklus entwickeln wird. In Venezuela bleibt der Chavismus ein Machtfaktor ersten Ranges, während seine Gegner nur die Feindschaft gegen die von Chávez proklamierte „Bolivarische Revolution“ zusammenhält. Für das Grundproblem des Landes, die übergroße Abhängigkeit vom Erdöl, hat auch die Rechte kein Konzept. Statt die Ölrente im Sinne einer Diversifizierung einzusetzen, will sie lediglich die Kontrolle darüber zurückerlangen, um weiterhin ihrem parasitären Lebensstil frönen zu können. Will der Chavismus die Rechte in die Schranken weisen, dann braucht er dafür sowohl ein neues Wirtschaftsprogramm als auch eine Strategie zur Entmachtung der Oligarchie. Ähnliches müssten die Linken in Brasilien leisten. Wie auch immer, in beiden Ländern werden sich die Kämpfe radikalisieren. Die Millionen von Menschen, deren Leben sich durch linke Politik verbessert hat und die daraus Hoffnung schöpfen konnten, haben nun auch viel zu verlieren.
In der Bündelung und Interaktion mit den oben skizzierten Faktoren kann es gelingen, den von den Rechten initiierten Roll-back abzuwehren. Da selbst der Ausgang der Wahlen in den USA und damit die Richtungsentscheidung über die künftige Außenpolitik offen ist, bleiben die Auseinandersetzungen um die Zukunft Lateinamerikas spannend. Und der Linken kann es dabei durchaus gelingen, das Blatt zu wenden. Dazu braucht sie aber nicht nur einen neuen Anlauf und einen langen Atem, sondern vor allem einen neuen Ansatz, der über Neo-Extraktivismus und Verteilungspolitik hinausweist. Für jene Akteure, die wie die BRICS für Alternativen zur westlichen Dominanz eintreten, steht beim Kampf in und um Lateinamerika schon deshalb viel auf dem Spiel, weil die Region in der Vergangenheit die Spitze des Kampfes gegen den Neoliberalismus bildete. In ihrem gemeinsamen Streben nach mehr Autonomie gegenüber dem Westen bieten Latinolinke und BRICS auch anderen Kräften eine Möglichkeit, eigene Wege aus der weltweiten Krise des Kapitalismus zu finden. Nur in Rückkoppelung mit dieser globalen Dimension können die regionalen, nationalen und lokalen Kämpfe gegen den Neoliberalismus ihr wahres alternatives Potential entfalten.
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Literatur:
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Entäuschte Hoffnungen, ebenda, 31. Mai 2016, S. 12/13
Brand, Ulrich (Hrsg.): Lateinamerikas Linke. Ende des progressiven Zyklus? VSA, Hamburg 2016
CEPAL: Latin America and the Caribbean and China: Towards a New Era in Economic Cooperation. Santiago de Chile 2015
Cohen, Saul Berhard: North and Middle America, in: derselbe, Geopolitics. The Geography of International Relations. London et al. 2015, S. 95-159
Dilger, Gerhard: Brasiliens Putschisten wollen die ganze Macht. RLS – Standpunkte, 7/2016
Hilpert, Hanns Günther/ Wacker, Gudrun: Geoökonomie trifft Geopolitik. Chinas neue außenwirtschaftliche und außenpolitische Initiativen. SWP-Aktuell 52, Mai 2015
Maihold, Günther: Brasiliens Krise und die regionale Ordnung Lateinamerikas. SWP-Aktuell 36, Mai 2016
Manyin, Marc (coord.): Pivot to the Pacific? The Obama Administration’s „Rebalancing“ Toward Asia. RSC-Report for Congress, March 28, 2012
Modonesi, Massimo: The End of Progressive Hegemony and the Regressive Turn in Latin America. The End of a Cycle?, in: Viewpoint Magazine, 21. Dezember 2015
Petraeus, David et al.: North America – Time for a New Focus. Council on Foreign Relations, Independent Task Force Report No. 71, New York 2014
Sánchez de Rochas Díaz, Emilio: Repensando la geopolítica de América Latina. ¿Es necesario un estudio geopolítico de América del Sur?, Instituto Español de Estudios Estratégicos (IEEE), Documento Análisis, 15/ 2016 (8. März)
Serbin, Andrés (coord.): ¿Fin de ciclo y reconfiguración regional? América Latina y las relaciones entre Cuba y los Estados Unidos. Anuario de la Integración Regional de América Latina y Caribe, 2016. Edición Especial. CRIES, Buenos Aires 2016
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Welttrends Nr. 115, Thema: Lateinamerikas Linke im Abschwung?, Mai 2016, S. 26-51
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Bildquellen: [1]-[3] Quetzal-Redaktion, Soledad Biasatti