Das Jahr 1992 ist sowohl für Lateinamerika als auch für die indigenen Völker der Welt ein besonderes. Es markiert eine Zäsur des historischen Umdenkens und der politischen Mobilisierung, die bis heute wirkt und wohl auch bis weit in das 21. Jahrhundert hinein ausstrahlen wird. Es ist ein Einschnitt, der so plastisch wie kaum ein zweiter zeigt, welche Sprengkraft Geschichte und Erinnerung innewohnt und wie diese für die Emanzipation unterdrückter Völker nutzbar gemacht werden kann. Damals gewann der 12. Oktober 1492, der bis dahin als Tag der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus gefeiert wurde, eine ganz andere Bedeutung. Aus 500 Jahren europäischer Welteroberung wurden 500 Jahre Widerstand. Die treibende Kraft dieser globalhistorischen Umdeutung war eine Allianz von Organisationen, Initiativen und Persönlichkeiten, die nicht nur die Kampagne „500 Jahre indigener, schwarzer und Volkswiderstand“ ins Leben gerufen hatte, sondern diese Widerstandsbewegungen auch verkörperte. Im Rückblick auf die zwei Dekaden, die zwischen 1992 und 2012 liegen, soll der historische Platz der 500-Jahres-Kampagne und das daran anknüpfende Ringen der indigenen Völker um ihre Emanzipation näher umrissen werden.
Perspektivenumkehr
Der Stein des Anstoßes, der alles ins Rollen brachte, war die Arroganz der westlichen Eliten und Regierungen. Das 500-Jahres-Jubiläum der Entdeckung Amerikas am 12. Oktober 1492 durch Kolumbus, italienischer Seefahrer in spanischen Diensten, sollte in traditionell eurozentristischer Manier begangen werden. Dieser Tag ist in Spanien als „Tag der Hispanität“ (Día de la Hispanidad) Nationalfeiertag und und wird auch in den meisten lateinamerikanischen Ländern als „Tag der Rasse“ (Día de la Raza) gefeiert. In den USA wird beim „Columbus Day“ jedes Jahr am zweiten Montag im Oktober – 1992 entsprechend ebenfalls am 12. Oktober – festlich der „Entdeckung der neuen Heimat“ gedacht. Immerhin hatte sich damals unter den regierungsoffiziellen Organisatoren der geplanten „500-Jahres-Feier“ genug schlechtes Gewissen angesammelt, um das Ganze unter das pluralistisch und neutral klingende Motto einer „Begegnung zweier Kulturen“ zu stellen. Was aus europäischer Sicht als „Entdeckung” oder „Begegnung“ dargestellt wurde, war in der historischen Erfahrung der anderen, der indigenen Kultur(en) der Auftakt zu 500 Jahren Eroberung, Zerstörung, Ausrottung, Kolonialisierung – und Widerstand!
Bereits 1990 hatte sich in Reaktion auf die offizielle Einladung des spanischen Königs an die Staatsoberhäupter Lateinamerikas, im Juli 1992 in Madrid zu einer gemeinsamen Feier zusammenzukommen, Protest artikuliert. Die kontinentale Widerstandskampagne formierte sich auf drei Vorbereitungstreffen: 1989 in Kolumbien, 1990 in Quito (Ecuador) und 1991 in Quetzaltenango (Guatemala). Man war sich relativ rasch einig darüber, den 500-jährigen Kampf gegen Kolonialismus, Ausbeutung, Imperialismus und Eurozentrismus ins Zentrum der öffentlichen Debatten zu rücken. Klar war auch, dass dies aus der Perspektive von „unten“ geschehen und die Völker beider Amerikas einbeziehen sollte. Als problematisch erwies sich jedoch, dass die „popularen“ und die indigenen Teilnehmer ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten unterschiedlichen Interpretationen der vergangenen 500 Jahre folgten. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die um 1992 ausgelöste Debatte und Mobilisierung zu einer dauerhaften Perspektivenumkehr der historischen Wahrnehmungs-, Interpretations- und Identitätsmuster geführt hat. Die Geschichte beider Amerikas wird nunmehr von „unten“, aus der Sicht der „ersten Amerikaner“ und als Widerstand von „langer Dauer“ diskutiert. Wie bei jedem neuen historischen Diskurs gibt es zahlreiche Widerstände, die jedoch nichts daran ändern können, dass das Amerika des 21. Jahrhunderts zugleich als indigenes Amerika begriffen wird. Die Frage, welches Gewicht letzteres besitzt und wie die „anderen Amerikas“ darauf reagieren, prägt die Debatte bis heute.
Rückeroberung der eigenen Geschichte
1992 war vor allem ein Sieg der Besiegten von 1492. Die europäischen Eroberer wähnten sich bis dahin als Sieger der Geschichte. Sie gaben dem Doppelkontinent seinen heutigen Namen, dessen Einwohner bekamen in Verkennung der realen Geographie die koloniale Sammelbezeichnung „Indios“ bzw. „Indians“, und es wurde eine Europäisierung der gesamten Region angestrebt. Die Kolonialisierung durch die Spanier, Portugiesen, Briten, Franzosen, Holländer und Russen (die Schweden und Dänen waren eher marginal beteiligt) verlief zwar in Zeit, Raum und Konsequenzen unterschiedlich, brachte aber den betroffenen indigenen Völkern die gemeinsame Erfahrung von Ausbeutung, Dezimierung und Marginalisierung. In den ersten vierhundert Jahren nach 1492 wurden sie zu 90 Prozent ausgerottet. Die Überlebenden fristeten in Reservaten, als billige Arbeitskräfte oder als verfolgte „Wilde“ ein ständig gefährdetes Dasein am Rande oder außerhalb der „modernen“ Gesellschaft. Bis in die 1970er Jahre hinein galten die „Indios“ und „Indians“ als „aussterbende Rasse“. Zur „Lösung des Indianerproblems“ betrieben die nord- und lateinamerikanischen Nationalstaaten eine forcierte Assimilationspolitik. Danach setzte schrittweise eine „indigene Renaissance“ ein, die sich aus der engen Symbiose von Überleben und Widerstand speist.
Heute umfassen die indigenen Völker Lateinamerikas (indígenas) etwa 40 Milllionen Menschen. Zu den American Indians bzw. Alaska Natives, wie sie offiziell in den USA heißen, und den Aboriginal Peoples Kanadas gehören zusammen etwa fünf Millionen. 1992 traten die indigenen Völker beider Amerikas nicht nur endgültig aus dem Schatten des Eurozentrismus, sondern eroberten sich ihre bislang unterdrückte, verdrängte und verschwiegene „lange Erinnerung“ zurück. Die Geschichte war nun nicht mehr die Geschichte der Sieger von 1492. Und 1992 war auch nicht das „Ende der Geschichte“, wie es Francis Fukuyama prophezeit hatte. Vielmehr war es ein Wendepunkt, der „America profunda“, das ursprüngliche, verborgene Amerika, nach 500 Jahren „Untergrund“ zurück ans Tageslicht der politischen und historischen Auseinandersetzungen brachte.
Diese machten auch vor den Teilnehmern der „500-Jahres-Kampagne“ nicht halt. Es zeigte sich, dass die „populares“, die für sich in Anspruch nahmen, die Volksmassen zu repräsentieren, auf ihre Art ebenfalls ein Produkt von 500 Jahren Kolonialismus waren. Zwar konnten sie – wie die indigenen Völker auch – Widerstand von „langer Dauer“ für sich reklamieren. Fixpunkte dieses Narrativs waren der antikoloniale Widerstand gegen die europäischen Kolonialmächte, die Unabhängigkeitskämpfe, der Widerstand gegen den nordamerikanischen Imperialismus und das Ringen um nationale Befreiung. Kolonialismus wurde mit Blick auf das 20. Jahrhundert vor allem als neokoloniale Abhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten vom imperialistischen Zentrum und damit als eine „äußere Angelegenheit“ definiert. Ausgeblendet blieb der „interne Kolonialismus“, dem die indigenen Völker ausgeliefert waren. Für diese war die Kolonialherrschaft mit der Errichtung unabhängiger Republiken nicht vorbei, sondern hatte lediglich ihr Gesicht verändert und sich teilweise sogar verschärft. Als besonders bedrückend empfanden die „indios“ die Homogenisierungs- und Assimilierungspolitik der weißen, kreolischen und mestizischen Eliten. In dieses Bild fügte sich die Reduzierung der Indigenen vor allem des Andenraums und Mesoamerikas auf ihren sozialen Status als campesinos (Bauern und Landarbeiter) ein. Diese Zuschreibung war nicht nur Teil der staatlichen „Indianerpolitik“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern wurde auch von den meisten Linken geteilt. Diese sahen im Klassenkampf und in der Proletarisierung die Haupttrends gesellschaftlicher Entwicklung. Der De-Ethnisierung von „außen“ setzten immer mehr Indigene die eigene „Re-Ethnisierung“ entgegen. Es war weniger die Existenz von zwei verschiedenen Identitätspolitiken, die die „populares“ und die „indígenas“ innerhalb der „500-Jahres-Kampagne“ entzweite, als vielmehr der Umstand, dass erstere nicht oder zu spät letztere in ihrer Andersartigkeit und dem Beharren darauf als gleichberechtigt zu akzeptieren bereit waren. Gerade die vergangenen zwanzig Jahre haben aber auch gezeigt, wie sehr sich dies gewandelt hat. Vor allem im Kampf gegen die Folgen einer neoliberalen Globalisierung fanden die indigenen Völker und die von ihnen getragenen Bewegungen große Anerkennung als Protagonisten des sozialen und politischen Widerstandes.
Globalisierung von unten
Im Verhältnis von indigenen Völkern und Globalisierung sind vier Punkte hervorzuheben: Erstens sind die indigenen Völker selbst Produkt der ersten Globalisierungwelle, die mit der „Entdeckung“ Amerikas 1492 und dessen anschließender Eingliederung in das expandierene europäische Weltsystem ihre Anfang nahm. Es ist vor allem die gemeinsame Erfahrung der kolonialen Eroberung, Verdrängung und Vernichtung, die alle indigenen Völker der Welt teilen. Zweitens waren und sind die indigenen Völker von den Folgen der gegenwärtigen Globalisierungswelle in besonderem Maße betroffen. Die fortschreitende Inwertsetzung natürlicher Ressourcen und die damit verbundene Gefährdung der von ihnen bewohnten (Über-)Lebensräume zwingt die Indigenen geradezu zum Widerstand gegen die neoliberalen Akteure und Spielregeln, die diese neue Runde der Ausplünderung vorantreiben. Drittens leiden indigene Völker besonders unter solchen globalen Problemen wie Klimawandel, Waldsterben, Vernichtung von Biodiversität, Ernährungskrise und Armut. Ihre Jahrtausende zurückreichende Weltsicht, die sich auf die enge Verbundenheit mit „Mutter Erde“ (Pachamama) gründet und soziale Harmonie betont, erweist sich angesichts dieser globalen Krisen als höchst modern und liefert zahlreiche Anknüpfungspunkte für transnationale Bündnisse zum Schutz von Natur und Mensch. Viertens hat sich die indigene Renaissance selbst von einer lokalen zu einer globalen Bewegung gemausert. Sowohl im Rahmen der UNO als auch in Gestalt transnationaler Zusammenschlüsse und Kooperationen agieren indigene Völker aus aller Welt miteinander und mit anderen, nichtindigenen Akteuren.
Blickt man auf das Jahr 1992 zurück, dann sind vor allem der Erdgipfel in Rio und die Verleihung des Friedensnobelpreises an Rigoberta Menchú, eine indígena aus Guatemala, in diesen Kontext einzuordnen. Ganz im Zeichen der 500-Jahres-Kampagne stand auch die Proklamierung eines Aktionsjahres für die indigenen Völker durch die UNO im Jahr 1993. Diesem schloss sich von 1995-2004 unter demselben Motto eine (erste) UNO-Dekade an, gefolgt von einer zweiten bis 2014. Als besonders symbolträchtig erwies sich der Aufstand vom 1. Januar 1994 in Chiapas. Unter Führung des EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional – Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) hatten sich im Südwesten Mexikos die indigenen Gemeinschaften erhoben und mehrere Orte militärisch besetzt. Sie erklärten der PRI-Regierung unter Präsident Salinas de Gortari den Krieg und forderten deren Sturz. Zu ihrer Agenda gehörten die Demokratisierung des Landes, die Durchführung einer Agrarreform, die Erfüllung zentraler Grundbedürfnisse der Bevölkerung wie Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnung und Wasserversorgung sowie die Forderung nach Autonomie für die indigenen Völker des Landes. Unmittelbarer Anlass für die zapatistische Rebellion war der Eintritt Mexikos in die Nordamerikanische Freihandelszone (engl.: NAFTA), mit dem die neoliberale Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung enorm forciert wurde. Dank der politischen Mobilisierung der mexikanischen wie internationalen Zivilgesellschaft vermochten die Zapatisten der Gegenoffensive der Regierungstruppen standzuhalten. Nach zwölftägigem Kampf wurde ein Waffenstillstand vereinbart und es begann eine Phase der Verhandlungen, die im Februar 1996 mit einem ersten Abkommen über indigene Rechte abgeschlossen werden konnte. Als „Diskursguerilla“ nutzten die Zapatisten neue Medien wie das Internet, um transnationale Netzwerke zu initiieren, die nicht nur ihr Überleben sicherten, sondern auch die Kommunikation über adäquate Strategien einer globalen Bewegung gegen den Neoliberalismus in Gang hielten. Sie sind zugleich ein überzeugendes Beispiel dafür, dass Linke und Indigene voneinander lernen und eine neue Qualität politischer Moblisierung der Subalternen bewirken können. Die indigenen Bewegungen Lateinamerikas wie die der übrigen Weltregionen sind erfolgreiche Pioniere einer „Globalisierung von unten“, die sich als Alternative zur Neoliberalisierung der Welt versteht und seit 2000 deutlich stärker geworden ist.
Begegnung von Kondor und Adler
Auf interamerikanischer Ebene verkörpert das Jahr 1992 eine neue Stufe des Zusammenwirkens der indigenen Völker beider Amerikas, wobei der Norden durch den Adler und der Süden durch den Kondor symbolisiert werden. Zeichen gewachsenen indigenen Selbstbewußtseins sind auch die Bezeichnungen des Kontinents Amerika als „Abya Yala“ oder „Turtle Island“, die – wie die Symbolgestalten von Kondor und Adler – ihre Wurzeln in vorkolonialen Weltbildern haben. Zugleich markiert 1992 eine neue Konstellation im Verhältnis zwischen den indigenen Völkern im Norden und Süden der Amerikas. In den beiden Jahrzehnten davor bildeten die First Nations Nordamerikas – in enger Kooperation mit den Maori Neuseelands – die Speerspitze der sich formierenden globalen Bewegung der indigenen Völker. Auch in ihren Heimatländern sorgten solche Aktionen wie die friedliche Besetzung von Alcatraz 1969 oder die militärischen Konfrontationen in Wounded Knee 1973 und Oka (Quebec) 1990 für internationales Aufsehen und erfuhren die Sympathie großer Teile der nichtindigenen Bevölkerungsmehrheit. Die „Red Power“ konnte dabei von einem politischen Klima profitieren, das maßgeblich von der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner und der Bewegung gegen den Vietnamkrieg der USA geprägt war.
Ab 1990 gewann die politische Mobilisierung der indigenen Völker Lateinamerikas deutlich an Kraft und Profil. Ein erstes Achtungszeichen war der Aufstand 1990 in Ecuador. 1992 fanden überall südlich des Rio Grande ähnliche Aktionen statt – in Mexiko, Guatemala, Kolumbien, Ecuador, Bolivien, Chile, Brasilien … Die bewaffnete Rebellion der Zapatisten 1994 bildete nicht zuletzt wegen ihrer geographischen Verortung, vor allem aber wegen ihrer global ausstrahlenden Symbolkraft auch den neuen Nexus der indigenen Bewegungen beider Amerikas. Das Selbstbestimmungsrecht und die Autonomie indigener Völker hatten in den zapatistischen Gemeinschaften einen konkreten Bezugspunkt ihrer Umsetzung gefunden. Mit ihrem Durchhaltewillen, dem Ausbau ihrer de facto-Autonomie und ihrer innovativen Strategie, die 2001 im Marsch nach Mexiko-Stadt und in der Rede der indigenen Comandanta Ramona vor dem mexikanischen Parlament gipfelte, vermittelten die Zapatisten auch den indigenen Völkern Nordamerikas eine Vorstellung davon, was möglich ist.
In Hinblick auf die Anerkennung der Rechte indigener Völker durch die Staaten beider Amerikas lassen sich wichtige Unterschiede zwischen Nord und Süd konstatieren. Ein Beispiel dafür liefert die Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1989, in der zahlreiche dieser Rechte verbindlich fixiert sind. Unter den 22 Unterzeichnerstaaten sind 15 lateinamerikanische Staaten, von denen wiederum zwölf die Konvention nach 1992 ratifiziert haben. Die USA und Kanada fehlen hingegen. Auch die Abstimmung über die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker vom September 2007 verweist auf ein ähnliches Süd-Nord-Gefälle innerhalb des amerikanischen Doppelkontinents. Während fast alle lateinamerikanischen Delegierten in der UN-Vollversammlung für diese stimmten, wurde sie von nur vier Ländern abgelehnt – neben Australien und Neuseeland wieder die USA und Kanada. Auch wenn die vier „Nein-Sager“ aufgrund des massiven Drucks ihrer eigenen indigenen Bevölkerung und der Furcht vor dem internationalen Imageschaden ihre Haltung inzwischen revidiert haben und der Deklaration beigetreten sind, wirft dies dennoch ein bezeichnendes Licht auf ihre Haltung gegenüber den Rechten der indigenen Völker. Als eine weitetere Auswirkung des Jahres 1992 können die Verfassungsreformen gelten, mit denen zahlreiche lateinamerikanische Länder den multiethnischen und multikulturellen Charakter ihrer Gesellschaften anerkannt haben.
Aufstieg und Ausdifferenzierung
Innerhalb Lateinamerika gibt es jedoch in Hinblick auf die Formierung und Erfolge der indigenen Bewegungen gewichtige Unterschiede. Galt in den 1990er Jahren noch der ecudorianische Dachverband CONAIE im kontinentalen Vergleich als Vorreiter, so hat sich dies spätestens seit der Regierungsübernahme von Evo Morales Anfang 2006 zugunsten Boliviens verändert. Dies hängt zwar auch mit dessen indigener Herkunft und seiner politischen Führungsrolle innerhalb der sozialen Bewegungen seines Landes zusammen. Dies allein reicht aber nicht hin, um die bolivianische Spitzenposition zu erklären. Um solche Erfolge wie die Neugründung als Multinationaler Staat, die neue Verfassung mit ihren zahlreichen Bezügen zu den Rechten und Werten der indigenen Völker oder die Verbesserung der Lebensverhältnisse vieler Bolivianer begründen zu können, bedarf es weiterer Faktoren. Zu diesen zählt einerseits das große demographische Gewicht der indigenen Bevölkerungsmehrheit – ca. 65 Prozent der Bolivianer identifizieren sich mit ihrer indigenen Herkunft. Andererseits liefert Guatemala mit einem ähnlich hohen Anteil an indigener Bevölkerung, die aber politisch unterrepräsentiert und organisatorisch zu zersplittert ist, um dem bolivianischen Fanal folgen zu können, ein Gegenbeispiel. Auch in Peru, das viele historische und ethnische Gemeinsamkeiten mit Bolivien hat, sind die indigenen Bewegungen politisch vergleichsweise schwach. Und in Chile kämpfen die Mapuche auch 22 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur noch um die verfassungsmäßige Anerkennung ihrer Identität und Rechte. Bezieht man die Erfahrungen des Jahres 1992 ein, dann liefern diese einen wichtigen Schlüssel für die Erklärung der bolivianischen Erfolgsstory: Dort hat es die indigene Bevölkerung vermocht, die „lange Erinnerung“ der vorkolonialen Geschichte und des antikolonialen Widerstandes in Gestalt des Katarismo wachzuhalten und in ein Fundament zur Herstellung der Aktionseinheit der indigenen und sozialen Bewegungen zu verwandeln.
Der bolivianische Fall hat aber auch eine Kehrseite. Er belegt zum einen die Feststellung, dass Regierungswechsel nicht mit Machtübernahme gleichzusetzen ist. Zum anderen kommt es mit wachsender politischer Partizipation unter bzw. zwischen den indigenen Völkern zu einer wachsenden Ausfifferenzierung der Lebenslagen und Interessen. Für beides liefern die Konflikte um das Straßenbauprojekt durch das von verschiedenen indigenen Ethnien bewohnte Schutzgebiet TIPNIS ein anschauliches Beispiel. Zusammenfassend läßt sich feststellen, dass in Lateinamerika auf der Grundlage wachsender politischer Moblisierung in den letzten 20 Jahren eine deutliche Machtverschiebung zugunsten der indigenen Völker stattgefunden hat, die in Bolivien am weitesten vorangekommen ist, ohne dass sich damit aber die Notwendigkeit fortgesetzten Widerstandes erledigt hätte. Im Gegenteil: Guatemala, Peru und Mexiko, aber auch Bolvien selbst zeigen, wie groß die Diskrepanz zwischen den proklamierten Rechten und dem Alltagsleben trotz der erkämpften Erfolge noch ist.
Globale Austrahlung und interkultureller Dialog
Zur Bilanz indigener Emanzipation gehört aber ebenfalls der Verweis auf deren globale Ausstrahlung. Nach jahrzehntelangem Ringen wurde im September 2007 von der UN-Vollversammlung die Deklaration der Rechte indigener Völker mit überwältigender Mehrheit angenommen. Ungeachtet aller Kompromisse ist die Anerkennung dieser Rechte, vor allem des Rechts auf Selbstbestimmung, durch die Staatenwelt ein Meilenstein im Ringen um indigene Emanzipation. Dies gilt nicht nur für die indigenen Völker selbst, sondern betrifft auch das Verständnis und die Praxis globaler Problem- und Aktionsfelder. Als Beispiele seien die Erweiterung der Menschenrechte durch die Anerkennung kollektiver Rechte, die Neuakzentuierung der Konzepte von Staatlichkeit und Souveränität, die Debatten um die Neubestimmung des Verhältnisses von Natur und Mensch sowie der interkulturelle Dialog genannt. Obwohl die indigenen Völker mit ca. 350 Mio. Menschen nur fünf Prozent der Weltbevölkerung umfassen, stellen ihre Forderungen und ihr Weltverständnis eine grundsätzliche Herausforderung der westlich-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise dar. Ihr „anderer Blick“ ist für uns alle eine Chance, die bisherige Entwicklung einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen und neue Auswege aus der globalen Krise zu finden. Die beginnende Debatte um das Konzept der „Buen Vivir“, das auf Prinzipien indigener Weltsicht beruht und Eingang in die Verfassungen von Bolivien und Ecuador gefunden hat, stellt einen ersten, hoffnungsvollen Schritt dar. Voraussetzung ist die Anerkennung der indigenen Völker als gleichberechtigte Dialog- und Aktionspartner bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft. Dazu gehört das Eingeständnis, dass die indigenen Völker zu den ersten und am härtesten betroffenen Opfern des europäischen Kolonialismus gehören. Eine wichtige, vielleicht die wichtigste Form der historischen Wiedergutmachung besteht in der Einsicht, dass wir Europäer noch viel von ihnen lernen können. In dieser Hinsicht stehen wir erst am Beginn eines schwierigen, nichtsdestotrotz notwendigen interkulturellen Dialogs.
Literatur
- Anaya, James: Indian Givers: What Indigenous Peoples Have Contributed to International Human Rights Law, in: Journal of Law & Policy, vol. 22 (2006), S. 107-120
- GTZ: Indigene Völker Lateinamerikas und Entwicklungszusammenarbeit. Eschborn 2004
- Gudynas, Eduardo: Buen Vivir. Das Gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum. RLS Analysen 2012
- Hale, Charles R.: Between Che Guevara and the Pachamama: Mestizos, Indians and Identity Politics in the anti-quincecentery Campaign, in: Critique of Anthropology, 14 (1994) 1, S. 9-39
- ila: Indigene und schwarze Bewegungen, Nr. 316, Juni 2008
- iz3w: Aufbegehren – Die Politik der Indigenität, Nov./ dez. 2007
- Jackson, Jean E./ Warren, Kay B.: Indigenous Movements in Latin America, 1992-2004: Controversies, Ironies, New Directions, in: Annual Review of Anthropology, 34 (2005), S. 549-573
- Käss, Susanne: Indigenous Participation in Latin America. The gulf between documented rights and everday reality, in: KAS International Reports, 5/ 2012, S. 70-89
- Kossok, Manfred: Das historische Jahr 1992, in: Quetzal – Magazin für Politik und Kultur in Lateinamerika, Heft 1, Februar 1993, S. 2-5
- Martí i Puig, Salvador: The Emergence of Indigenous Movements in Latin America and Their Impact on the Latin American Political Scene, in: Latin American Perspectives, vol. 37 (Nov. 2010) 6 (Issue 175), S. 74-92
- Mokrani, Dunia: Konfliktszenarien in der zweiten Amtszeit von Präsident Evo Morales. RLS Papers, Oktober 2011
- Quetzal: Indígenas, Heft Nr. 8/ August 1994
- Schilling-Vacaflor, Almut: Die indigenen Völker Lateinamerikas: Zwischen zunehmender Selbstbestimmung und anhaltender Marginalisierung. GIGA Focus, 8/ 2010
- Simmons, Deborah: After Chiapas: Aboriginal Land Claims and Resistance in the New North America, in: The Canadian Journal of Native Studies, XIX (1999) 1, S. 119-148
- Yashar, Deborah: Resistance and Identity Politics in an Age of Globalzation, in: ANNALS, American Academy of Political & Social Science, 610, March 2007, S. 160-181
Bildquellen: [01] Agencia Brasil , Antonio Cruz; [2] Public Domain; [3] NASA World Wind, Blue Marble; [4] Quetzal-Redaktion, wd.