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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Der eiskalte Blick

William Ospina | | Artikel drucken
Lesedauer: 19 Minuten

Es ist wahrlich nicht leicht, vor einem Arzt die Menschenwürde zu bewahren, geschweige denn Kaiser zu bleiben“, sagt Hadrian am Anfang des Romans von Yourcenar. Bei der Lektüre dieser Worte glaubte ich mit einem Mal den geheimen Schrecken zu verstehen, den mir nicht nur Ärzte, sondern auch ihr Arbeitsumfeld einflößen. Die angespannte Stille in den Wartezimmern, die Friedhofsruhe in den Krankenhäusern, das schreckliche Wunderwerk der Operationssäle. Vielleicht verweist der Schrecken hinter diesen Dingen auf den unerbittlich lauernden Tod, der sich eines Tages zeigen wird, vielleicht geht der Schrecken aber auch von ihnen selbst aus. Nur Weniges lässt sich so sehr auf die Wehrlosigkeit und Ohnmacht des Menschen zurückführen wie die Macht der Ärzte. Wenn uns jemand die Hand gibt, ist er uns gleichgestellt, wenn er aber unseren Puls misst, scheinen wir in seinen Händen zu sein. Kaum eine andere Humanwissenschaft verleiht ihrem Besitzer eine so große Macht über die anderen wie diese altehrwürdige, die wir Medizin nennen. Heute ist sie eine Teildisziplin und verzweigt sich unendlich in Fachgebiete, die ihrerseits zusehends hochentwickelter und kostspieliger werden. Früher grenzte die Medizin an die Magie und an das Wunder. Jahrhundertelang waren ihre Adepten Halbgötter wie Empedokles, Götter wie Äskulap, Gelehrte wie Celsus und Supergelehrte wie Paracelsus, Demiurgen, Zauberer, Schamanen, Wunderheiler und Thaumaturgen. Sie besaßen die schönste aller Fähigkeiten, nämlich die zu heilen, das sterbliche Fleisch dem Tod aus den Armen zu reißen und es schadlos dem Wunder des Lebens zurückzugeben. Ihnen gebührte größter Dank und höchste Ehre. Ihre Stärkungsmittel wechselten sich mit den Heilmitteln der Hoffnung ab; sie ordneten sich anderen Geheimnissen unter und gaben nicht vor, den Schleier der Maja gelüftet zu haben und im Besitz eines unanfechtbaren und absoluten Wissens zu sein. Sie waren heilige Wesen, die in einer verzauberten Welt eine gleichermaßen rationale wie magische Aufgabe erfüllten; in dieser äußerst fantastischen Welt, in der der Glaube Berge versetzte, und in der man treuherzig an Wunder glaubte und sie zuweilen sogar vollbrachte.

Jene magischen Kräfte waren Attribute einiger Weniger, das gemeine Volk verfügte aber ebenfalls über ein gewisses Elementarwissen. Die Tradition hatte den Menschen über viele Generationen zahlreiche Geheimnisse und Hausmittel hinterlassen, um diesem Netz von großen Wunderwerken und kleinen Unannehmlichkeiten, das wir das Leben nennen, zu trotzen. Schmerzen, Fieber, Krämpfe, Bleichsucht, Ohnmachtsanfälle, Wunden, Verrenkungen, Risse, Brüche – dieses Spektrum von Gebrechen, das von blutrot bis blassgrün reicht und dabei über violett, weiß und blau schreitet, war in traditionell Bekanntes einzuordnen. Ebenfalls dort angesiedelt waren die Heilkräfte der Kräuter und Baumrinden, der wohltuenden Säfte und Schwefelwässerchen, die allumfassenden Kräfte der Zitrone und des Honigs, der Aromen und Salben, der Mondwässerchen und der Kräuterliköre und Obstler, der Punktionen, Schröpfköpfe und Raucher- und Hungerkuren, der Stärkungsmittel und Einreibungen; unzählige Hilfsmittel der Erfahrung, Improvisation und Hoffnung, um das gepeinigte Fleisch für die Spiele der Welt wiederherzustellen.

Selbstverständlich, dass der zweite und der vierte apokalyptische Reiter die Menschheit häufig heimsuchten, zahllose Leben auslöschten und die Völker verheerend plünderten. Selbstredend, dass der Tod niemals besiegt wurde. Aber ich wage zu behaupten, dass die Hauptgefahren der Spezies die Kriege und die Religionen waren, d. h. Fürsten und Priester wirkten fürchterlicher als Seuchen und Krankheiten. Selbst heute lässt sich feststellen, dass bestimmte Epidemien, wie die Cholera, eher Folgen von Armut und Unruhen als das Aufflammen menschlicher Sterblichkeit sind. Mit einer uralten Mischung aus Kräutern und Zuwendung heilte man unzählige Generationen von vielen kleineren und manchmal auch größeren Übeln. Nach Ansicht der heutigen Naturheilkundigen und derjenigen, die wohlmeinend Placebos verordnen, liegt der Grund dafür in den körpereigenen Abwehrkräften, durch die der Körper auf Beschwerden reagiert und ihnen trotzt; der Körper, der nach Schopenhauer eine Erscheinung des Willens ist; der Körper und der ihn durchtränkende Nebel von Träumen, den wir die Seele nennen. Und wie oft verstanden es die Zauberer und Ärzte, durch ihren Einfluss diese Reserven selbstheilender Energie zu steigern, diesen wundersamen Lebenswillen, der den wahren Kern alles Seins ausmacht. Die Haltung des eigenen Körpers und des Geistes gegenüber der Krankheit zu verändern, kann sehr wohl der Anfang der Heilung sein. Diese Mischung aus Illusorischem und Praktischem scheint die ideale Voraussetzung für Wunder zu bieten.

Aber solche Weisheiten scheinen Privilegien einer Welt der Einfachheit und der Unwissenheit zu sein. In der Welt aber, mit der wir zukünftig zu tun haben sollten, triumphierte die Vernunft. Die Götter waren tot oder abwesend und der alleingelassene Mensch zweifelte an jeglicher transzendentalen Ordnung und verleugnete alles, was nicht augenscheinlich war, selbst die Existenz des eigenen Geistes verneinte er und schenkte fortan sein Vertrauen nur noch der Erkenntnis, dem Verstand und der menschlichen Arbeit. Der moderne Positivismus, der alles, was außerhalb des Verstandes und seiner Methoden liegt, ebenso wie alles, was nicht logisch bewiesen werden kann, ausschließt, hat den Menschen auf die engen Dimensionen der Stofflichkeit und der Evidenz reduziert und ist der entheiligte Ausdruck einer Welt, die nur aus blinder Materie gemacht ist, ein kalter Mechanismus, der von starren und unerschütterlichen Gesetzen beherrscht wird. Leidenschaft, Hoffnung, Traum, Glaube, Schönheit oder die Zuflucht zum Göttlichen in der Welt haben hier keinen Platz mehr als aktive Kraft und wirksame Ursache der Wirklichkeit.

Ein ähnlicher Zustand hat für kurze Zeit gegen Ende des Römischen Reiches geherrscht. Flaubert schrieb, dass damals, als es die Götter nicht mehr gab und Christus noch nicht triumphierte, der Mensch in einer Welt ohne Transzendenz alleingelassen war. Dergestalt war das Zeitalter des Hadrian. Deshalb scheint Yourcenar, wenn sie über jenen Kaiser schreibt, von heute zu sprechen; da auch wir in einer Epoche leben, in der die Götter abwesend sind und in der selbst der Sinn für ein höheres Wesen abhanden gekommen ist. Genau aus diesem Grund sind Hadrians Ärzte weder Priester noch Auguren, weder Magier noch Thaumaturgen; sie sind lediglich Mediziner, die ein trauriges Gemisch aus Wasser und Blut wahrnehmen und außer Stande sind, im Menschen das komplexe und wesensbestimmende Gefüge aus Funktionen und Träumen, Sprache und Erfindung zu sehen. Vor dieser Betrachtungsweise, die die Wirklichkeit auf das Funktionale und das Augenscheinliche reduziert hat, vor der schrecklichen Blickrichtung des Positivismus „ist es wahrlich nicht leicht, die Menschenwürde zu bewahren, geschweige denn Kaiser zu bleiben.“

In der heutigen Zeit hat diese Würde kaum einer bewahrt. Unter dem kalten, leidenschaftslosen und unparteiischen Blick der Wissenschaft sind wir nur sterbliches Fleisch, das von Krankheiten zerrüttet oder bereits in den Fängen des unerbittlichen Todes ist. Es hat kaum Bedeutung, ob ein Arzt nun mehr oder weniger herzlich oder mehr oder weniger mitfühlend ist, die geistige Welt, der er angehört, ist die der schicksalhaften Atome und in diesem Königreich ist kein Platz für Magie, Hoffnung, die Berge des Glaubens oder außergewöhnliche Wunder.

Ich erinnere an die verblüffende Erklärung Juri Gagarins, er habe mit seinem Flug in das Weltall den Beweis erbracht, dass Gott nicht existiere. So wollte der marxistische Positivismus endgültig mit der Illusion der Göttlichkeit aufräumen, als ob der Auftritt der Sternenschiffe dafür nötig gewesen wäre, als ob wir nicht so schon gewusst hätten, dass die Priester jener Wissenschaftlichkeit und ihre Boten ebenfalls nichts Göttliches in der Welt haben wahrnehmen können. Um den Stellenwert des Menschen im Positivismus zu erkennen, braucht man nur die bakteriologischen Untersuchungen, Blutbilder, Glykämiekurven, Elektrokardiogramme und Elektroenzephalogramme zu betrachten – die Bezeichnungen sind im Übrigen nicht weniger abschreckend als das, was sie beschreiben . Wir sind nichts anderes als quantifizierbare Materie, messbarer Raum, schutzloses Zellgewebe, die schwindelerregende Unergründlichkeit der Atome, die mit der des Weltalls übereinstimmt, wo der naive und gehorsame Kosmonaut Gottes nicht ansichtig werden konnte.

Das heilige Feuer, das in den Worten von Buddha und Christus strahlte, scheint in uns verloschen zu sein und von den gewaltigen Mythen, die früher unsere Substanz ausmachten, ist auch nichts übrig geblieben. Ein von Gewebe und Flüssigkeit überzogenes Kalziumschema, eine Struktur aus Prozessen und Funktionen, wo alles Unerklärliche totgeschwiegen wird. Wir hielten das All für einen magischen Stemenchor, der wie Dante glaubte, die Liebe verkündete, die die Sonne und alle anderen Sterne bewegt; aber dann erklärten uns Wissenschaftler, das Universum sei nur abgrundtiefe Einsamkeit und schwindelerregender Taumel und nichts als unendliche Räume, deren Schweigen Pascal beunruhigend fand. Wir hatten geglaubt, dass die Welt voller magischer Kräfte und Götter war, ein tragischer Garten für die Schönheit und den Gesang; aber dann wurden wir belehrt, dass lediglich unbeseelte blinde Materie existiert und dass es auch in den Wäldern nichts Göttliches und in den Gewässern nichts Heiliges gibt, dass sich alles Schöne, wie die Byron’sche Nacht, in Unrat und Trümmer verwandeln lässt, dass das Zeichen der unerforschlichen Göttlichkeit von allem entfernt wurde und durch den Logos einer habsüchtigen, alles an sich reißenden Industrie, die sich der Geheimnisse der Welt bemächtigte, ersetzt wurde. Wir haben mit Hamlet wiederholt: „Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! wie edel durch Vernunft! wie unbegrenzt an Fähigkeiten! in Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig, im Handeln wie ähnlich einem Engel! im Begreifen wie ähnlich einem Gott! die Zierde der Welt! das Vorbild der Lebendigen!“; nun aber zeigen uns die Wissenschaftler das vollendete Bild unseres Seins mit Hilfe von Strahlen und es ist nicht mehr als das Schema aus Schatten und Knochen, wie wir es von unseren Röntgenbildern kennen.

Doch wo bleiben Traum und Liebe, Großzügigkeit und Hoffnung, die göttliche Seele und der aus Erinnerungen geschichtete Leib? Soll nichts davon von Bedeutung sein und auch gar nicht existieren? Soll nichts davon in den Stunden zählen, in denen wir der Welt, unserer Einsamkeit, den Geheimnissen der Krankheit, der Majestät des Todes gegenübertreten?

Wie seltsam ist doch der Geist dieser Zeit! Auf allen Gebieten verliert der Mensch die Kontrolle über seine Welt, erschafft und entscheidet er weniger und zugleich verfestigt sich die Auffassung, niemals zuvor seien wir perfekter, bedeutender und glücklicher als heute gewesen. Während man uns die Predigt der Überlegenheit hält, das Evangelium der Bequemlichkeit verkündet und den Menschen als Endziel aller Evolutionen und allen Fortschritts lobpreist, müssen wir einen zunehmenden Raumverlust für jedes menschliche Wesen konstatieren. Es gibt schon keine anderen Reiserouten mehr als die festgelegten und konventionellen des Tourismus; kein Objekt der Wirklichkeit, das sich nicht zur Ware hat wandeln müssen; wir sind nicht einmal mehr die Protagonisten unseres eigenen Lebens: Wer wissen will, was sich gestern ereignet hat, befragt nicht seine persönliche Erinnerung, sondern die Zeitungen und Zeitschriften. Über der anonymen einsamen und unterschätzten Masse, Abermillionen von gleichermaßen geheimnisvollen und sterblichen Individuen, wabert eine Wolke von durch Industrie, Werbung und Presse künstlich hergestellter Prominenz, deren Anekdoten als Spektakel ausgeschlachtet und vermarktet werden. Zu dieser Gruppe von Ikonen, die man uns ohne Ende verkauft, gehören auch die Politiker. Auch sie sollen wir nach ihrer Wahlparole, ihrem Antlitz und ihrem Lächeln auswählen. Aber zugleich erteilen wir allen Wirklichkeitsmodellen eine Absage.

Hatte die Renaissance uns die Illusion des universellen Menschen gelassen, dem die Ganzheit von Erde und Wasser, Luft und Feuer zur Verfügung steht, der neugierig ist auf die unendliche Vielfalt der Geschöpfe, der Formen und der Disziplinen, tritt heute eine nüchterne Schar von Spezialisten an, von denen jeder Einzelne es sich zur Aufgabe gemacht hat, uns von seiner Parzelle zu vertreiben. Die raffinierte, moderne Welt duldet vor allem keine passiven Zuschauer; wer in seiner Wissenschaft bestehen, konkurrieren und sie vermarkten möchte, muss sein Fachgebiet ständig eingrenzen und dabei immer mehr von jeweils weniger Dingen wissen.

Uns Menschen war nicht bewusst, dass diese fortschreitende Aufgabe all der Dinge, die früher dem Leben Sinn gegeben hatten, und die Vertreibung durch das Kapital aus unserem angestammten und ursprünglich frei zugänglichen Territorium dazu geführt haben, dass wir für Liebe und Freundschaft, ja – für die Welt, die Sterne, das Wasser und die Luft bezahlen müssen. Im – alarmierenden – Extrem endet dies in der Entfremdung von uns und unserem Erfahrungsschatz. Die Wissenschaft erklärte die gesamten traditionellen Erkenntnisse über unseren Körper für falsch und überholt und verbannte sie in den Bereich des Aberglaubens, um sich zu der alleinigen Hüterin des gültigen Wissens über Gesundheit, Krankheit, Leben und Tod zu ernennen.

Als Nächstes erfolgte die Technisierung der Diagnosevorrichtungen. Wo vordem Grundkenntnisse der Physiologie ausgereicht hatten, um eine Funktionsstörung oder ein gewöhnliches Leiden aufzuzeigen, wurden immer ausgeklügeltere Geräte und raffiniertere Verfahren notwendig. Aber sind die Diagnosen dadurch wirklich genauer geworden? Schon möglich, ganz sicher aber sind sie teurer geworden. Und wer wäre nicht bereit, in Gewissheiten zu investieren, wenn sein bedeutendstes Gut zur Rede steht – die Gesundheit? Schrieb nicht Schopenhauer, dass sie mit Glück gleichzusetzen ist? Also ist alles ihrer Erlangung oder ihrer Erhaltung unterzuordnen. Merkwürdigerweise scheint es dabei keine Rolle zu spielen, wenn mehr als die Hälfte der Menschheit aufgrund ihrer Armut vom Genuss dieser als unverzichtbar propagierten Vorteile fatalerweise ausgeschlossen ist.

Glücklicherweise gibt es trotz alledem einige kluge Ärzte, die bestätigen, dass dieser komplexe Apparat von Untersuchungen, Analysen und technischem Schnickschnack nicht notwendigerweise die Erfahrung eines guten Mediziners ersetzen kann, eines solchen, der den menschlichen Körper als autonome und sensible Ganzheit auffasst, in dem auch Angst, Begeisterung und Hoffnung wirken. Nach Meinung einiger klar Sehender verdanken wir diese hohe Technologie weniger der hoch entwickelten Wissenschaft als vielmehr der Gier des Kapitals nach einem weiteren Betätigungsfeld und riesigen Wachstumsmarkt. Wenn die Gesundheit unser wertvollstes Gut ist, warum sollte man sie dann wohlfeil anbieten? Wenn der Mensch zu Gunsten der hippokratischen Handwerkskunst bereitwillig seinen Tribut entrichtet, warum sollte man ihn davon abhalten? Auch über diesem altehrwürdigen Gebiet ziehen sich heute düstere Wolken zusammen. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Gesundheit
zur Ware verkommen ist, dass die Diagnosegeräte kostspielig und die pharmazeutischen Laboratorien riesige Industriebetriebe sind, kapitalistische Unternehmen also, die genau wie alle anderen auch vorrangig profitorientiert sind. Dies impliziert, dass sie an Absatzsteigerung interessiert sind, so wie z. B. die findigen Hersteller von Alka-Seltzer die beachtliche Verdoppelung ihrer Verkaufssummen dadurch erzielt hatten, dass in ihrer Werbung nicht nur eine, sondern gleich zwei Sprudeltabletten in ein Glas Wasser geworfen wurden. Ob es sich nun wirklich so zugetragen hat oder nicht – gut vorstellbar ist es auf alle Fälle. Vergessen wir auch nicht, dass die erfolgreichsten Pharmabetriebe meistens Filialen großer Firmen sind, die Insektizide und andere chemische Plagen herstellen. Die Engel des Guten entpuppen sich plötzlich als Teufel mit goldenen Hörnern. Die ehemalige Alchimie weiß auch ihre Gifte zu destillieren. Ich erinnere daran, dass Ernesto Cardenal in einem seiner von Ezra Pound beeinflussten Gedichte sagt, dass gewisse Firmen, die sich heutzutage als eifrige Wächter der Menschenliebe verkaufen, sich bei anderer Gelegenheit weniger liebenswürdig gezeigt haben, wie ein Hersteller von Präservativen, der noch eine weitere Substanz synthetisierte: Napalm.

Fazit ist: Im Grunde wissen wir nicht, wer die wahren Freunde der Spezies Mensch sind. Die Industrie zeigt sich gerne großzügig, wenn es ihr Vorteile bringt, ist allerdings knallhart, wenn es darauf ankommt. Sie macht Gutes wie Böses mit dem gleichen erstaunlichen Engagement, beherrscht sie doch einzig der geheimnisvolle Drang nach Geld, der wie eine Krebsgeschwulst auf Kosten des ihn nährenden Organismus zu wuchern und zu wachsen versteht.

Obwohl wir unserem eigenen Körper bereits entfremdet und Technik und Industrie preisgegeben sind, sollten wir die Entwicklung in diesem Prozess der Veräußerung nicht als abgeschlossen ansehen. Was passiert, wenn der Mensch Wissenschaft und Technik wehrlos ausgeliefert ist und sich im Laufe des Fortschritts das, was Ursprünglich zu seinem Wohle erfunden wurde, in ein unaussprechliches Übel umkehrt? In diesem Punkt scheint die Schlange der Modernität sich in den eigenen Schwanz gebissen zu haben. Sie hat der verwirrten Menschheit, auf der der uralte Fluch des Schmerzes und des Todes lastet, einen Teufelskreis aus Notwendigkeit und Ohnmacht geschaffen. In der Stunde der Krankheit war zwar auch bisher keiner im Besitz des Wissens, heute aber machen allein schon die Kosten es unerreichbar. So vollendet sich das System, das darin besteht, dass jeder Mensch von Beginn seines Lebens bis zum Ende für die Gesundheit, die er in der Welt zu genießen gedenkt, bezahlt. Kranke wie Gesunde müssen weltweit Monat für Monat ihren Tribut an die Kassen des Wissens entrichten, damit man sie eines Tages dem gefräßigen Schlund des Todes entreiße oder vor dem Ruin bewahre, zumal die Ärzte immer teurer und spezialisierter, die Diagnosen immer technischer und umfassender, die Operationssäle immer aseptischer und großartiger und die Krankenhäuser immer komfortabler und kostspieliger werden. Die unbezahlbaren Medikamente würden ein Heidengeld kosten oder das Leben des Gläubigers zur Gänze mit Hypotheken belasten.

Deshalb ist es unumgänglich, dass der Mensch ein anhaltendes Bewusstsein seiner Hinfälligkeit erlangt. Es ist gut, dass die Zeitschriften mit sensationshaschenden Enthüllungen über mögliche Leiden aufwarten, dass die Krankheit wie das berühmte Schwert beständig über dem Nacken des Sterblichen schwebt und dass dieser von seiner im Voraus bezahlten Krankenversicherung so abhängig ist wie früher von der göttlichen Gnade.

Aber genauso gut wie die Krankheit eine stetige und heimtückische Bedrohung darstellt, kann es passieren, dass sie einen verschont. Dass die Industrie den Gesunden besonders schätzt, darf nicht verwundern – ist andauernde Gesundheit doch eine Voraussetzung für die Produktivität! Somit ist die Erkrankung allein schon deshalb verabscheuenswert, weil sie das System von Leistung und Gegenleistung lahmlegt; es soll keiner krank werden, wartet doch seine Arbeit auf ihn; wenn ein Angestellter an Arbeitstagen ausfällt, stellt das fast schon einen aggressiven Akt dar, hat er doch zwei lange Wochen Jahresurlaub zu seiner freien Verfügung. Der Eifer, die Krankheit bereits im Keim zu ersticken, manifestiert sich in solchen Werbeslogans wie: „Beim ersten Anzeichen einer Erkältung oder einer Grippe nehme man dieses oder jenes.“ So wird die Krankheit beständig zurückgewiesen oder unterdrückt und in etwas äußerst Anormales und Unerwünschtes verwandelt. Dabei lässt sich auch einiges zu ihren Gunsten sagen. Was diese ungesunde Zivilisation als normal vorgibt, heißt, die Krankheit zu verleugnen, doch sie zu tilgen oder zu fliehen ist keinesfalls die beste Methode, ihr die Stirn zu bieten. Vielmehr ist sie Teil des geheimnisvollen Lebenszyklusses und sie versteht es, uns Dinge beizubringen, wie es die Gesundheit nicht vermag.

Ich meine: Bedeutet die Gesundheit Zeit für die Welt, könnte die Krankheit Zeit für den Menschen bieten, für seine Introspektion, die innere Sammlung, die Rückbesinnung auf die Geheimnisse des Körpers und die Beziehung des Menschen zum Kosmos. Der ärztliche Brauch, das Geheimnis des untersuchten und behandelten Leidens zu wahren und uns Substanzen zu verschreiben, die wir stillschweigend in gehorsamer Ignoranz zu nehmen haben, entfremdet uns von unserem eigenen Körper und einigen seiner beunruhigendsten Bekundungen.

Warum möchte die moderne Zivilisation, dass wir mit dem Rücken zu unserer tiefsten Bestimmung leben? Warum hat die Gewissheit des Todes keinen Platz in unserer Welt? Warum wird Krankheit in der gegenseitigen Bedingtheit von ständiger Gefahr und ständiger Verdrängung verstanden, wie eine Bedrohung, zu der es niemals kommen soll und der sich das Heer der Medizin und ihrer Industrien unermüdlich entgegenstellt? Eine der möglichen Antworten ist, dass die Wahrheit uns frei macht. Die Gewissheit des Todes ist so schwer zu ertragen, dass wir es im Laufe von mehr als zweitausend Jahren vorgezogen haben, lieber ewiges Siechtum zu erträumen, als den Tod zu akzeptieren. Die schwindelerregende und unhaltbare Idee eines ewigen Lebens, in nie endenwollenden monotonen himmlischen Chören oder in ewigen höllischen Feuern, schien uns ansprechender und frömmer.

Aber auch in unserer melancholischen Zeit der Trivialität und des Mülls, des Positivismus und der Krankenkassenbeiträge, der unbeseelten Materie und des schnellen Niedergangs, selbst in dieser Zeit haben die Gelehrten es verstanden, dem Menschen den Tod als einen Segen darzustellen, als etwas, das ohne den Verfall des Lebens, seines Glanzes und seiner unsagbaren Wunder auskommt. Der Tod mit seiner Ungewissheit und seinen Mythologien, mit seinem dichten Gefüge aus Schatten und Abgründen, mit seinem Versprechen von Gleichgültigkeit und Vergessen, mit seinen die Erinnerung auslöschenden Flüssen und seiner Gegenüberstellung von begrenzter Zeitlichkeit und dem Ewigen, mit seinem undurchdringlichen, einsamen, unentrinnbaren und fast übermenschlichen Geheimnis. Aber zu akzeptieren, dass wir auf diesen Ausgang ohne Wiederkehr zugehen, zwingt uns, das Glück als Bedingung des Lebens anzuerkennen. Keiner, der den Tod als Gewissheit gelassen hinnimmt, ist deshalb schon im Stande wahrzunehmen, dass sein Leben in den Schatzkammern der Habsucht einen niedrigen Wert darstellt und eine unbedeutende Figur in der Maskerade einer grausamen und dummen Welt ist. Die Gewissheit des Todes, die jeder Minute unseres Lebens eine tragische Aura verleiht, macht aus dem flüchtigen Schauspiel der Welt etwas überaus Glänzendes und Wertvolles. Sie ist erfüllt von so viel übernatürlichem Schrecken vor der Grausamkeit und ihrer Verbrechen, gleichzeitig aber von so viel Schönem und Großem der menschlichen Existenz, dass sie ehrfurchtsvolle Stille verleiht, wo vordem so viel eitles Wissen war. Sie vermindert unsere Arroganz und vergrößert unsere Freude so sehr, dass es uns nicht erlaubt ist, wie Sklaven der Possen einer Welt zu leben und gleichgültige Beobachter des menschlichen Leidens, wahnsinnige Käufer von gleißendem Müll oder erstaunte Konsumenten geistloser Darbietungen zu sein. Die unbequeme Wahrheit und die Gewissheit des Schmerzes, der Hinfälligkeit und des Endes vermögen es, uns beherzter und freier zu machen und gestatten uns, an dem Fest der Welt teilzunehmen, ohne die plumpe Hoffart desjenigen, der das Fest für ewig hält, aber mit der hellsichtigen Selbstlosigkeit desjenigen, der weiß, dass „das Alles“ „dem Nichts“ versprochen ist.

Nur so erhalten Gesundheit und Krankheit, die Würde des Lebens und die Majestät des Todes einen transzendentalen Sinn. Nur so lassen uns die historischen Exempel, die Mythen, die Musik und die Symbolik, die unerklärliche Natur, das Wunder der Künste und die Macht der Elemente, der Teppich der Träume und der Abgrund des Gedächtnisses, die göttliche Seele und der aus Erinnerungen geschichtete Leib die Stimme gegen die Ärmlichkeit einer Vorstellungswelt erheben, die uns auf wahrnehmbare Materie und reine Quantitäten zu reduzieren trachtete. Verdeutlichen wir uns, dass das Kapital und die Wissenschaft in Verein mit der ihr dienenden Technik das menschliche Leben in etwas verwandelt haben, das der Industrie tributpflichtig ist und rein ökonomischen Gesetzen gehorcht. Halten wir uns vor Augen, dass wir in einer Zeit leben, in der der Mensch, wenn es zum Sterben kommt, sich in ein Wegwerfprodukt verwandelt, das für das Kapital unbrauchbar und für die Wissenschaft sinnlos ist, genau in dem Moment, in dem der Mensch, lebendig und heilig bis zum letzten Augenblick, vielleicht prächtiger und ergreifender als jemals zuvor in seinem ganzen Leben erstrahlt! Begreifen wir, dass sowohl das Leben als auch der Tod ganz anders sind, als sie uns verheißen wurden und dass sogar dann, wenn diese Form der Würde und des menschlichen Edelmutes niemals erreicht wird, nichts, nicht einmal der eiskalte Blick des Basilisken, uns unserer Hoffnung berauben kann.

* Übers. a. d. Span.: Gabriele Eschweiler

Marguerite Yourcenar: Memoires d’Hadrien, Paris 1951; Deutsche Übersetzung: Ich zähmte die Wölfin, Stuttgart 1953.

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