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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Menschen der Tsantsas

Alfonso Jaramillo | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Es gibt Geheimnisse, die zwischen Blättern, dichten Wäldern, zwischen Hitze und Regen oder in der eigenen Sprache aufbewahrt werden. Es gibt Geheimnisse, die der Dschungel verschlingt. Eines dieser Geheimnisse ist die Art und Weise, auf welche die „Tsantsas“ oder die Schrumpfköpfe entstanden. Die „zivilisierte“ Welt sucht bis heute nach der „Schrumpfformel“, nach der genauen pflanzlichen Zusammensetzung dieses Geheimnisses, das sich nur die Jívaros ausdenken konnten.

Als die „zivilisierte“ Welt auf diesen Stamm im Amazonas traf, veranlassten sie dessen kriegerischer Charakter und die nicht alltägliche Praxis, die Köpfe ihrer Feinde zu schrumpfen, sie als Jivaros zu bezeichnen, was soviel wie „Wilde“ bedeutet. Heutzutage lehnt dieses Volk die Bezeichnung als rassistisch und ethnozentristisch ab und fordert stattdessen, daß man sie Shuar nennt, was „Leute“ oder „Person“ bedeutet. Abgesehen von dieser Selbstbezeichnung mit eher allgemeinem Charakter, kann man im Inneren dieses Volkes noch andere Bezeichnungen finden, die seiner jeweiligen geographischen Lage entsprechen. So haben wir die Muraya Shuar, ein Bergvolk, das im Tal des Flusses Upano angesiedelt ist; die Untsuri Shuar, die sich zwischen den Bergketten des Cóndor und Kutukú niedergelassen haben und die Pakanmaya Shuar, die in der Trankutukú-Zone leben.

Die Shuar zählen rund 110.000 Menschen. Ursprünglich waren sie in der Provinz von Morona Santiago angesiedelt, im ecuadorianischen Amazonas. Heute hat sich ihr Lebensraum auf fast den gesamten Osten Ecua-dors ausgedehnt, vor allem in Regionen, die dem Ökosystem der Berge angehören. Wenn eine Shuar-Gruppe eine ufernahe Ansiedlung hat, dann bleibt sie dort auch seßhaft und ihre Bevölkerung konzentriert. Wenn sie aber eine von Flußufern entfernte Ansiedlung besitzen, leben sie als Nomaden, und die einzelnen Verbände dieser Shuar-Gruppe sind verstreut. Nach Statistiken von 1998 verfügt das Volk der Shuar über ein Territorium von 718.220 Hektar, die bereits legalisiert sind, und ungefähr 150.000 Hektar, die noch legalisiert werden sollen. Innerhalb dessen existieren auch Gebiete, über die sie noch mit anderen indigenen Gemeinschaften im Konflikt stehen. Die „zivilisierte“ Welt übertrug natürlich auch die kastilische Sprache auf dieses Volk. Sie hätte beinahe die Muttersprache der Shuar verdrängt. Es gelang ihnen jedoch, aus ihrer Shuar-Sprache ein einflussreiches Instrument zum Schutz ihrer kulturellen Identität und ihrer Autonomie zu machen. Sie fanden auf diese Weise einen Zugang zur Moderne, ohne auf ihre eigene Sprache und Kultur zu verzichten.

Die Shuar erreichen ihre Gemeinschaft in ihrer eigenen Sprache über das Sistema de Educación Radiofónica Bicultural Shuar (SERBISH). Das ursprüngliche Ziel des SERBISH war die Verbreitung des Kastilischen, um die Gleichheit in der Behandlung als ecuadorianische Staatsbürger zu beanspruchen und gleichzeitig aus dem Shuar eine moderne Sprache zu machen, die ihre Identität schützt und stärkt. Heute umfasst das SERBISH fast den gesamten Osten Ecuadors und verschafft mehr als 7.500 Kindern in 297 Einrichtungen einen Zugang zum Bildungsystem, das von der Grundschule bis zum Abitur reicht. Dank dieser Anstrengungen können die Shuar auf eine Analphabetenrate von insgesamt nur 2 Prozent verweisen. Dies ist aber nicht der einzige Erfolg der „Jivaros“. Im Jahre 1964 gründete man die Federación de Centros Shuar, die erste autonome Organisation dieser Art in Lateinamerika und Vorläuferin der indigenen Bewegung Ecuadors, die sich in den 90er Jahren verstärkt in die Politik einschaltete. Nicht zuletzt aufgrund des von der indigenen Bewegung ausgeübten Drucks wurde 1998 eine neue Verfassung verabschiedet, in der man Ecuador als ein sozial und kulturell vielfältiges Land anerkennt, auch dank dessen, dass die Föderation wie ein Staat Shuar im ecuadorianischen Staat funktioniert und Verantwortung von der Verteilung des Bodens bis zur Unterhaltung des Gesundheits- und Bildungssystems übernimmt und sogar über ein spezielles Verwaltungsregime für indigene Rechte verfügt.

Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu gerechtfertigt, zweimal nachzudenken, bevor man ein Volk als „Wilde“ bezeichnet, das einen Weg der Annäherung an den Rest der Welt gefunden hat, ohne seine Identität zu negieren oder zu zerstören; ein Volk, das die Grundlagen der Organisation in der indigenen Bewegung gelegt hat und außerdem noch immer ein Geheimnis hütet, jenes Geheimnis, das die zivilisierte Welt bis heute nicht entschlüsselt hat. Die Tsantsa.

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