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Historias Mínimas – Filme aus Argentinien

Nora Pester | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Es ist vollkommen egal, ob Marlon Brando oder irgend ein Typ von der Straße in einem Film mitspielt, genauso wenig ist die Arbeitsmethode entscheidend; worum es geht, ist diesen winzigen Moment von Authentizität einzufangen. Und, ehrlich gesagt, glaube ich, dieses Mal ist mir das gelungen.“ Dass es Carlos Sorin und seinen Laiendarstellern gelungen ist, beweist Historias Mínimas (Argentinien/Spanien 2002), ein tragikomischer Roadmovie, der letzten Sommer in den deutschen Kinos zu sehen war und eine bemerkenswerte Öffentlichkeit erzielte.

Tausende Meilen südlich von Buenos Aires sind drei Menschen auf den einsamen Landstraßen Patagoniens unterwegs. Im Laufe ihrer Reise durch die endlose Weite überschneiden sich ihre Geschichten und Träume.

Don Justo (80), ehemaliger Besitzer eines kleinen Lebensmittelgeschäftes, das nun von seinem Sohn geführt wird, bricht bei Nacht und Nebel aus seinem Ruhestand aus, um seinen seit langem vermissten Hund malacara zu suchen, den ein Durchreisender in San Julián gesehen haben will. Er trampt in Bergschuhen die Landstraße entlang und hofft, dass ein Lastwagenfahrer ihn mitnimmt. Während Don Justo sich seinem Hund nähert, stellt sich heraus, daß er nicht nur seinem Gefährten, sondern Vergebung sucht.

Auch Roberto (40), Vertreter für Schlankheitsmittel, ist auf dieser Straße unterwegs, mit einer sehr empfindlichen Fracht: einer Geburtstagstorte. Sie hat die Form eines Fußballs und ist für Rene bestimmt, den Sohn einer jungen Witwe. Roberto will überraschend mit der Torte vor dem Haus der Witwe erscheinen und sie bitten, seine Frau zu werden. Dann könne sie gar nicht mehr Nein sagen. So steht es zumindest in einem seiner Marketingbücher. Unterwegs fällt ihm jedoch ein, dass Rene auch ein Mädchen sein könnte, und so lässt er die Torte in jedem Ort „geschlechtsneutral“ umarbeiten.

Zur selben Zeit und auf der selben Straße fährt María Flores (25) mit ihrem Baby in ein Fernsehstudio. Sie lebt in extrem bescheidenen Verhältnissen und ist entsprechend aufgeregt, als sie erfährt, dass sie den Hauptpreis in einer Gameshow gewonnen hat: einen Multiprozessor. Was auch immer das sein soll.

Die Idee für Historias Mínimas ist aus einer Werbeproduktion entstanden. Regisseur Carlos Sorin: „Vor einigen Jahren wurde ich engagiert, um einen Spot für eine Telefongesellschaft in einem winzigen, abgelegenen Dorf in der Wüste Patagoniens zu drehen. Dieses Dorf sollte an das Telefonnetz angeschlossen werden. Wir casteten Schauspieler, die die besorgten Dorfbewohner darstellen sollten. Als ich in dem Dorf ankam, einen Tag vor Drehbeginn, spürte ich, dass die große Aufregung der 150 Einwohner nicht den bevorstehenden Dreharbeiten galt, sondern der Einführung des Telefons. Da wurde mir klar, dass es sinnlos war, die Fiktion von etwas zu drehen, das sich in der Realität gerade vor meinen Augen abspielte. Also ließ ich die Hand voll Schauspieler im Hotel zurück und filmte die Dorfbewohner. Sie brachten ihre Kinder und ihre Frauen mit, auf ihren Handflächen hatten sie Telefonnummern notiert. Für viele war es das erste Mal, dass sie mit ihren Verwandten sprechen konnten. Es wurde Lamm gegrillt, und aus den Dreharbeiten wurde eine große Party. Das Negativmaterial stellte sich nicht nur als lichtempfindlich heraus: es registrierte ebenso die Stimmung dieses Tages, und so verfügte der Werbespot über eine ungeheure Kraft: Er zeigte etwas Reales, Authentisches, das absolut nichts mit der Künstlichkeit von Fernsehen und Werbung zu tun hatte. Seitdem hatte ich immer wieder die Idee, einen Spielfilm mit Laiendarstellern zu machen, als eine Möglichkeit, die Realität in einer anderen Weise darzustellen und wahrzunehmen.“ Gemeinsam mit Pablo Solarz entwickelt Sorin drei Stories. Ohne das Script fertigzustellen, beginnen sie mit ausgedehnten Castings in den Dörfern. Nach dem ersten Arbeitstag schreiben sie das Drehbuch auf die Leute um, die in die engere Wahl kommen. „Als wir dann mit dem Dreh begannen, waren Person und Charakter weitgehend identisch, und jedesmal, wenn wir Cut! riefen, ging es eigentlich so weiter wie während des Drehens. Wenn man mit Laiendarstellern arbeitet, muss man sehr flexibel sein, man arbeitet mit wenigen Regieanweisungen und ohne Markierungen. Wir haben eine Super-16-Kamera benutzt, die auf einer Steady Cam montiert war, um schnell auf alles reagieren zu können. Jede einzelne Einstellung war einzigartig und unvorhersehbar.“ Bis auf zwei Schauspieler hat Sorin alle Figuren mit Laiendarstellern besetzt. Der 80-jährige Antonio Benedictis (Don Justo) arbeitete bis vor 20 Jahren als Auto-Mechaniker. Er lebt noch heute im Dorf Montevideo, das im Film portraitiert wird. Hinzu kommen ein Geologe, ein „Chamame“-Musiker, Lehrerinnen, eine Büglerin, ein Bäcker, ein Kellner, eine Regisseurin… Sie alle verleihen dem Film jene Authentizität und Spontaneität, die unser Dasein lebens- und liebenswert machen. Und so hinterlassen die „kleinen Geschichten“ des Alltags beim Zuschauer das intensive Gefühl, in der scheinbaren Bedeutungslosigkeit des Individuums sein Glück zu finden. Drei Menschen vertrauen aus unterschiedlichen Gründen ihrer Zukunft. Sie bringen uns zum Lachen und stimmen uns melancholisch – ohne große Gesten und Konflikte, voller Hoffnung und Sehnsüchte. Sie eröffnen einen Mikrokosmos jenseits einer erstarrten, jammernden und überforderten Gesellschaft in der Krise. Historias mínimas ist Aufbruchstimmung ohne Durchhalteparolen und zeigt, dass ein Wirtschaftskollaps nicht das Ende der Welt bedeuten muss – wenn ausgerechnet dort ein neuer Anfang gewagt wird.

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