Ich bleibe hier
Flavia ist knapp 14 und die Kleinste in ihrer Clique. Seit ein paar Wochen ist sie verliebt. Das ist neu für sie, denn früher verliebte sie sich ständig, fand 50.000 Jungen gleichzeitig toll. Nun gut, Diego ist – dem Anschein nach – älter als 14 und macht es ihr zudem nicht leicht. Er ist halt ein Teenager und will wohl vor allem cool sein. Das Mädchen leidet sehr, und trotzdem gibt es an, glücklich zu sein. Mit ihren Freunden hängt Flavia die meiste Zeit im Viertel herum: Die Teenager rauchen, kiffen, spielen Billard. Nebenher werden auch Zukunftspläne geschmiedet. Das nächste Schuljahr muss geschafft werden, sonst bleibt nur noch die Abendschule. Oder ist es doch besser, eine Lehre zu machen? Wie heißt das, wo man Kleider entwirft?
Die Zukunftsvorstellungen dieser Kinder und Jugendlichen sind noch recht vage, wichtig ist vor allem die Gegenwart – die Freunde, die Schule, die nächste Zigarette. Nichts Besonderes also.
In diesem Film aus der Reihe „Fremde Kinder“ findet absolut nichts Außergewöhnliches statt. Das ganz normale, alltägliche Leben von Teenagern wird ‘abgefilmt’ – ein Leben zwischen Familie, Freunden, Schule. Unspektakulär, und genau genommen eher langweilig. Das einzig andere, vielleicht sogar Ungewöhnliche an diesem Film ist der Ort der Handlung: Flavia und ihre Freunde leben nicht in Halle an der Saale, Hamburg oder Bochum, sie leben in Montevideo, Uruguay. Flavias Mutter jobbt nicht in München oder Österreich, um ihre Familie durchzubringen, sondern in den USA. Es gefällt ihr dort nicht, aber was soll sie machen. Sie muss ihre Familie ernähren. „Hier gibt es nichts, für niemanden“, meint Flavia einmal und fügt hinzu: „Aber es ist mein Land. Ich bleibe hier.“
Flavia lebt in Montevideo bei ihrer Großmutter. Sie will es besser machen als ihre Mutter und Oma, die beide keine Ausbildung haben und deshalb im Ausland in schlechtbezahlten Jobs arbeiteten bzw. noch arbeiten. Die Oma war in Buenos Aires; aber das ist lange her. Heute dürfte es auch dort keine Jobs für Uruguayer mehr geben. Die Dreizehnjährige will lernen, vielleicht studieren. Später, aber nur vielleicht, will sie auch einmal ins Ausland gehen. Allerdings nicht für immer, und ihre Kinder sollen auf jeden Fall in Uruguay zur Welt kommen. Hier, in ihrem Land, sind die Menschen geselliger, zugänglicher, freundlicher als in den USA. Davon ist sie überzeugt. Das Mädchen möchte der Mutter auch nicht in die USA folgen; besuchen ja, aber nicht dort leben. Zukunftsträume eines Teenagers, alltäglich und gewöhnlich. Fraglich, ob Flavia ihren Wunsch vom guten Leben in Uruguay verwirklichen kann. Danach fragt der Film allerdings nicht, er lässt allein die Teenager sprechen.
Der Film über Flavia und ihre Clique ist gerade einmal 30 Minuten lang, die Kürze ist seine Stärke. Er könnte fast noch kürzer sein. Wie gesagt, es passiert eigentlich nichts in diesem Film. Wir sehen hier das Leben in Südamerika, ganz normales, alltägliches Leben: keine Kinderbanden, kein Drogenkrieg, keine Slums. Das ist auch Südamerika, nur bekommt man es hierzulande so kaum zu sehen. Flavia und Diego leben in Montevideo nicht viel anders als Cindy und Kevin in Leipzig. Ihre Träume unterscheiden sich nur wenig voneinander. Und ihre Zukunft wohl auch.
Das macht für mich den Wert dieses kleinen Films aus, macht ihn ungewöhnlich im Meer der Südamerikareportagen voller Gewalt, Indios und Dschungelexotik.
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Fremde Kinder – Ich bin die Kleinste.
zdf-doku, 26.06.2008
Bildquelle: Screenshots von ZDF Doku.