Reportage über die Umweltverschmutzung der Schmelzhütte Doe Run in La Oroya, Peru
Im Mittelpunkt der Reportage „Blei im Blut“ steht ein kleiner Ort in den Anden: La Oroya. Der Steckbrief für die Kleinstadt liest sich wie die Geißelung einer Gemeinde durch ein Industrieunternehmen:
Land: Peru; Lage: Zentralanden, 3750 Meter über dem Meeresspiegel; Erkennungsmerkmal: der Schornstein von Doe Run; wichtigstes Unternehmen: die Schmelzhütte von Doe Run; Einwohner: 20.000 (ohne Vororte), mehrheitlich beschäftigt bei Doe Run; Gesundheit: hoher Anteil an Krebserkrankungen durch Emissionen von Doe Run; Umwelt: karg, zerstört durch Doe Run; besondere Charakteristik: einer der am meisten verseuchten Orte der Welt.
Über 850 Tonnen hochgiftiger Abgase emittiert der Schornstein von Doe Run Peru – Tag für Tag. Die Folge – Krankheiten, vor allem bei Kindern. Besonders Asthma und Hautausschläge sind häufig. Im Blut finden sich Schwermetalle wie Blei und das krebserregende Arsen.
Das ist der traurige Alltag in La Oroya; das ist das Thema der tiefsinnigen Dokumentation. Leider geht jedoch die Reportage nicht auf die direkten gesundheitlichen Folgen der latenten Bleivergiftungen der Bewohner ein. Und so muss der Rezipient bei anderen Quellen nachforschen, ab welchen Bleibelastungen im Blut die geistige und emotionale Entwicklung von Kindern als gefährdet gilt. Das ist ein wissenschaftlich derzeit noch umstrittenes Gebiet. Der bisher festgelegte Schwellenwert von zehn Mikrogramm Blei pro Deziliter Blut sei nach Ansicht einiger Mediziner zu hoch und führt bereits zu Störungen des Nervensystems. Einigkeit besteht hingegen darin, dass Blei vor allem die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt, was zu schlechterem Lese- und Schreibvermögen und auffällig oft zu hyperaktivem Verhalten führt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass weltweit etwa die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren, die in urbanen Ballungszentren leben, eine höhere Bleikonzentration im Blut haben als die erwähnten zehn Mikrogramm pro Deziliter.
Dieser Grenzwert setzt also die Maßstäbe. In La Oroya weisen die Kinder im Durchschnitt erschreckende 33,6 Mikrogramm Blei pro Deziliter und in Einzelfällen sogar 60 oder mehr Mikrogramm Blei pro Deziliter auf. Das ist das Drei- bis Sechsfache des wahrscheinlich bereits zu hoch angesetzten Schwellenwertes der WHO! Und schuld daran ist Doe Run.
Obwohl sich die Bewohner der Gesundheitsgefährdung durch die Schmelzhütte bewusst sind, stehen sie vor dem Problem, dass sie aus finanziellen Gründen nicht emigrieren können. Sie arbeiten folglich weiter bei Doe Run, praktisch dem einzigen Arbeitgeber in La Oroya. Die Firma wiederum bezahlt einen so niedrigen Lohn, dass an einen Umzug in andere Gegenden nicht zu denken ist. Ein Teufelskreis. Und so berührt es den Zuschauer zu sehen, wie die Menschen in ihren ärmlichen Hütten genau gegenüber dem Industriemoloch leben. Die Reportage konstatiert die Situation in einfachen Worten: „Sie sind abhängig von dem, was sie gleichzeitig krank macht.“
Die Liste der Kritiker von Doe Run ist lang. Arbeiter, Umweltschützer und sogar die Kirche kämpfen vereint gegen das Unternehmen. Der Erzbischof von Huancayo, Pedro Barreto, betont beispielsweise, dass die Würde des Menschen nicht dem Profitstreben nachgestellt sein dürfe. Angesichts dieser Situation hilft die katholische Kirche vor Ort und auch das Hilfswerk MISEREOR mit Gesundheitsuntersuchungen oder Volksküchen, das Leid der Anwohner zu lindern. Der Erzbischof setzt sich zudem direkt dafür ein, dass Doe Run die erlassenen Umweltvorschriften einhält. Doch bei Umweltminister Antonio Brack Egg, vor seiner politischen Karriere einer der bekanntesten Umweltschützer des Andenstaates, erhält er nicht einmal Versprechungen. Trotzdem setzt die Kirche ihren Kampf – sogar mit wissenschaftlichen Methoden – fort.
Spätestens an dieser Stelle der Reportage wird deutlich, dass die Dokumentation recht einseitig über den erzbischöflichen Protest berichtet. Das ist schade. Vor allem deshalb, weil andere Organisationen wie das Blacksmith Institute, The Inter-American Association for Environmental Defense (AIDA), die peruanische NGO CopperAcción, die Bewegung Movimiento por la Salud de La Oroya (MOSAO), das Projekt El Mantaro Revive oder der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in ihrem Einsatz gegen Doe Run nicht erwähnt werden. Das ist zugleich einer der wesentlichsten Kritikpunkte an der Dokumentation.
Die Recherche bleibt zudem oft an der Oberfläche hängen. So erfährt der Zuschauer nur magere Zahlen zu Doe Run, zu den Firmengewinnen, zum Grad der Luft- und Wasserverschmutzung oder zu den juristischen Ausnahmeregelungen durch den Staat. Denn es wäre schon ein darlegenswerter Fakt gewesen, dass Jahr um Jahr das Unternehmen vom Kongress Aufschub erhält, um die geforderten Umweltauflagen umzusetzen. Dieses Procedere nahm zudem seit 1999 immer weiter an Brisanz zu. 2006 gab es beispielsweise eine erste Zäsur durch die erteilte Fristverlängerung für die Installation einer Entschwefelungsanlage. Im Frühjahr 2009 eskalierte schließlich die Situation. Doe Run sollte seine Aktien beim Staat als Bürgschaft zur Umsetzung der Umweltauflagen hinterlegen. Das ging der Unternehmensführung zu weit. Sie meldete kurzerhand Insolvenz an. Plötzlich sah sich die peruanische Regierung unter Druck gesetzt. Und so erfolgte im Oktober 2009 eine erneute Fristverlängerung. Doe Run Perú erhielt weitere 30 Monate zur Erfüllung der Umweltauflagen; Zeit, in der es ungestraft seine giftigen Emissionen über La Oroya und die Region verbreiten kann.
Wie dringend der Handlungsbedarf zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Menschen vor Ort ist, illustriert das Ende der Dokumentation. Denn einer der Protagonisten stirbt plötzlich an einem Gehirntumor. Angesichts des traurigen Endes, das dem Zuschauer die direkten Verknüpfungen zwischen der Kontamination (vor allem durch Arsen) und dem Wohlergehen der Bewohner plastisch vor Augen führt, vermag die Reportage emotional zu bewegen. Sie zwingt zum Nachdenken – über den Sinn des Lebens, die Ziele der Menschheit, die Relation zwischen Kapital und Arbeit. Die Tag7-Redaktion des WDR hat somit ihren eigenen Anspruch, „über die Veränderungen durch globales Wirtschaften, über soziale Konflikte, ethische Herausforderungen und die Frage nach dem ‚Sinn’“ zu berichten, erfüllt. Bei den Reflexionen geht es dann auch sicherlich nicht mehr nur um einen der dreckigsten Orte der Welt: La Oroya, Peru.
Blei im Blut
Ein Film von Ralph Weihermann
WDR, 2009.
Bildquelle: Matthew Burpee