Stimmen aus der Bewegung
Die Menschen in Venezuela sind in Bewegung. Viele engagieren sich im bolivarischen Prozess, in der Umgestaltung des Landes. Es ist ein Prozess mit vielen Problemen, mit vielen Rückschlägen und Aufgaben. Aber es ist ein Prozess der läuft, ein Prozess, der wirklich etwas bewegt. Das zeigt sich, schaut man auf die Protagonisten dieses Prozesses, lässt man sich von ihnen erklären, was in Venezuela passiert. Wer nicht selber dort hin fahren kann, der ist auf Berichte und insbesondere auch auf Interviews aus zweiter Hand angewiesen. Das Anfang des Jahres auf Englisch erschienene Buch „Venezuela Speaks!“ liefert gleich 18 solcher Interviews mit Basisaktivisten aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Arbeiter aus landwirtschaftlichen Kooperativen sind ebenso vertreten wie solche aus besetzten Betrieben. Es geht um Landreform, die Rechte der Frauen und die von sexuellen Minderheiten, um Studenten, Medien, Kultur und die Indigenen.
Die Interviewpartner nehmen kein Blatt vor den Mund, sind jeweils tief verankert in ihrer jeweiligen Bewegung und bieten so Schlaglichter auf das jeweilige Feld der Politik, die durch das eigene Erzählen der Aktivisten anschaulich und greifbar werden. Die Interviews zeigen, wie sehr sich das Bewusstsein vieler Menschen in den gut zehn Jahren des Prozesses bereits gewandelt hat, ohne dabei ein zu optimistisches Bild zu zeichnen. Die Interviews machen klar, wie dies Gregory Wilpert im Vorwort gut zusammen fasst, wie viele Schwierigkeiten es gibt und wie unzufrieden viele der Basisaktivisten auch mit der Regierung sind – die für Venezuela notwendige Differenzierung von Staat und Regierung vollziehen sie oft nicht nach –, was sie nicht davon abhält, Chávez und die Bolivarische Revolution weiter zu unterstützen und durch ihre Aktionen weiter voran zu treiben. Diese Problematik, diese solidarische Kritik aus dem Prozess selber gehört zu den Dingen, die insbesondere die Linke hierzulande lernen kann, die doch gewohnt ist, nur in schwarz und weiß, in Unterstützung und Ablehnung zu denken. Aber nicht nur das kann man aus diesem Buch lernen. Es bietet einiges mehr.
Wer sich intensiv mit den Errungenschaften und den derzeitigen Grenzen des Prozesses in Venezuela auseinander setzen will, der kommt um dieses materialreiche Buch kaum herum. Gerade auch, weil die Einführungen vor jedem Interview, die die Gespräche in einen größeren Rahmen einordnen, den jeweiligen Gesprächspartner in den Prozess einordnen, lassen die Autoren die Leser nicht allein. So ermöglichen sie, dass sich auch Einsteiger selbst ein gut reflektiertes Bild von den Fortschritten, von den Problemen und Chancen machen können, die der laufenden Prozess bietet.
Vom Prinzip her sind alle Interviews nebst Einleitung lesenswert. Für den weiteren Fortgang des Prozesses und den Aufbau einer neuen Ökonomie sind jedoch insbesondere die Gespräche mit Gewerkschaftsaktivisten und die mit Menschen vom Land von Interesse. Beispielhaft sollen deshalb hier zwei dieser Interviews herausgenommen werden, um an ihnen den Erkenntnisfortschritt aufzuzeigen, der durch das Buch gewonnen werden kann.
Die Geschichte der Besetzung von Mitsubishi in Barcelona (Anzuátegui) hat zumindest derzeit kein Happy End. Die Arbeiter von Mitsubishi bildeten eine neue Form von Gewerkschaft als Antwort auf die Beteiligung der alten Gewerkschaften Venezuelas bei Putsch und Ölstreik in den Jahren 2002/2003. Diese neue Gewerkschaft – wie üblich in Venezuela eine Betriebsgewerkschaft – ist im langwierigen Aufbau einer neuen bolivarischen Gewerkschaftsbewegung eingebunden, agiert aber vor allem vor Ort im Betrieb und in Verbindung mit der organisierten Volksmacht. Während die alte Gewerkschaften in Sozialpartnerschaft mit dem Kapital auch die schwersten Verstöße gegen die Arbeiter tolerierten, sind Félix Martinez und Richard La Rosa, die beiden interviewten Mitsubishi-Arbeiter, mit ihrem Einsatz und dem Widerstand gegen Lohnkürzungen oder die Senkung der Arbeitsstandards Vorbilder der Bewegung.
Der bis heute wichtigste Kampf der neu organisierten Mitsubishi-Arbeiter, in deren Rahmen sie auch ihre Fabrik besetzten, war der Kampf gegen Leiharbeit. Im Januar 2009 beschlossen deshalb 860 von 883 Arbeiter, den Betrieb zu besetzen. Am gleichen Tag versuchte die Polizei des bolivarisch regierten Bundesstaates, die Fabrik zu stürmen. Zwei Arbeiter starben, aber auch durch die Hilfe der Arbeiter von benachbarten Fabriken – der Autoglashersteller Vivex ist beispielsweise seit Dezember 2008 besetzt – konnte die Erstürmung abgewehrt werden. Wichtig war aber vor allem die Verbindung mit den umliegenden Consejos Comunales. Die Menschen bildeten einen Ring um die Fabrik, so dass die Polizei die Erstürmung abbrechen musste. Die Arbeiter, die von unten her demokratisch organisiert sind, gewissermaßen Teile der syndikalistischen Tradition aufnehmen und damit ein Gegenbild zur herkömmlichen bürokratischen Gewerkschaft darstellen, erreichten durch die Besetzung viel. Aber nicht alles. Denn Mitsubishi wurde gezwungen, den Leiharbeitern fortan die gleichen Bedingungen zuzugestehen wie den regulär Beschäftigten. Eine Verstaatlichung des Betriebes unter Arbeiterkontrolle unter Beteiligung der organisierten Volksmacht, wie es die Aktivisten gefordert hatten, konnte aber wohl schon Aufgrund der Bedeutung der Kooperation mit Japan nicht zustande kommen. Dennoch sind die Erfahrungen, die das Interview transportiert, wichtig für die weiteren Verlauf des Prozesses. Gerade auch die negativen und die derzeitigen Grenzen, die die Regierung setzt.
Das gilt natürlich auch für die Geschichte der Aktivisten der nationalen Bauernfront. Schließlich ist der Aufbau der Landwirtschaft in einem Land, das immer noch zu großen Teilen von Lebensmittelimporten abhängig ist, existenziell für die Zukunft. Immer wieder müsse, so sagen die beiden Interviewten, das Land an vielen Stellen besetzt werden, selbst wenn es zu 99,99 Prozent ungenutzt sei, wie das Land, das die Aktivisten zum Aufbau einer eigenen Kooperative besetzt haben, über die man gerne mehr erfahren würde, denn außer den Prinzipien „Organisierung, Bildung und Mobilisierung“ erfährt man von dem konkreten Projekt nicht viel. Außer, dass es bei der Besetzung wie vielerorts zur Konfrontation mit staatlichen Stellen kam. Das Verhältnis zum Staat ist zweigeteilt. „Wir kämpfen für unsere Rechte und Bedürfnisse und auf der anderen Seite treten wir in den Dialog um eine neue Agrarpolitik zu entwickeln“, sagt Aktivist Ramón Virigay.
Auch wenn man sich als Leser an der einen oder anderen Stelle vielleicht eine weitere Nachfrage in die Tiefe gewünscht hätte, ist das Buch ist im Ganzen eine Bereicherung für die Diskussion über die Basisbewegung in Venezuela, auch gerade deshalb, weil die Interviews die persönlichen Erfahrungen einzelner Aktivisten und ihre individuelle Kampfgeschichte im Rahmen des großen Ganzen zugänglich machen.
Carlos Martinez, Michael Fox, Jojo Farrell:
Venezuela Speaks! Voices From The Grassroots,
PM Press 2010, ISBN 9781604861082, ca. 20 Euro