Anmerkungen aus Kolumbien
Also in meiner Ausgabe von Kindlers Literaturlexikon „Hauptwerkeder lateinamerikanischen Literatur“ gibt es keinen Nicolás GómezDávila. Eine Internetrecherche ist deutlich erfolgreicher, die Suchmaschinenennt immerhin ungefähr 44.000 Links, davon 778 aus Deutschland. Ganzunbekannt ist der Kolumbianer also nicht mehr, möglicherweise kommt erja auch langsam in Mode. Nach allem, was man von ihm liest, war ihm daswohl nicht sehr wichtig. Gómez Dávila, geboren 1913 in Cajicá und gestorben1994 in Bogotá, entzog sich allen öffentlichen Diskursen und Zirkelnund lebte in freiwilliger Zurückgezogenheit. Das konnte er sich leisten; erstammte aus einer wohlhabenden Familie, und er hatte eine riesige Bibliothek.Hochgebildet und polyglott las er seine Griechen und Lateiner im Original.Die europäische Kultur war sein Orientierungspunkt, allerdings nichtdie seiner Zeitgenossen. Demokratischen Geist hielt er für eine Verirrung derZeit, die den Niedergang der europäischen Kultur markiert. Als erzkonservativerKatholik war er ein entschiedener Gegner des 2. Vatikanischen Konzils.Er nannte sich selbst einen Reaktionär, eine in Kolumbien übliche Selbstbezeichnungfür diese Form des antimodernen, konservativ-katholischen Denkens.Sein Werk besteht aus notas und escolios, Anmerkungen und Glossen,und wurde größtenteils erst nach seinem Tod veröffentlicht.
Im deutschsprachigen Raum begann die Rezeption seiner Werke in denNeunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, der Karolinger Verlag Wien undLeipzig hatte erste Notas veröffentlicht. Weitere folgten. Nun hat Eichborn inseiner Anderen Bibliothek unter dem Titel „Das Leben ist die Guillotine der Wahrheit“ eine Auswahl seinerGlossen editiert.
Ein tolles Buch! Die andere Bibliothek ist ja nun wirklich eine edle Reihe. Und Gómez Dávila ist fürmich eine Entdeckung, ich kannte den Kolumbianer bis dato nicht. Das Buch hat allerdings einen wirklichenSchönheitsfehler: Es wird mit einem Essay von Martin Mosebach eingeleitet. Nach der Lektüre dieses Essaysweiß ich nicht so recht, zu welcher Kategorie Mensch ich nun eigentlich zähle. Vermutlich zu denen, die, wieMosebach schreibt, den Meister nur deshalb begeistert zitieren, weil sie ihn nicht vollständig gelesen haben,„sie wären sonst mit Gewissheit auf das eine für sie bestimmte Wort gestoßen, dass jede Gemeinsamkeit mitdem Autor gnadenlos aufkündigt“. Ich befinde mich allerdings nicht in der schlechtesten Gesellschaft, solldoch Gabriel García Márquez gesagt haben: „Wenn ich kein Kommunist wäre, dann dächte ich vollständigwie Gómez Dávila“. Soll heißen, er denkt partiell wie dieser, obwohl G.D. Kommunisten gar nicht mochte?Da hat wohl einer etwas nicht richtig verstanden.
Dieser Essay ist einfach nur ärgerlich. Da wird nichtssagend über Aphorismen philosophiert – die Fragmenteder Vorsokratiker sind gar keine solchen, ja wer hätte das gedacht? – und dann festgestellt, dass dieDeutschen Gómez Dávila besonders liebten (Don Nicolás und seine lieben Deutschen), vermutlich weil er inihnen „eine Saite“ klingen lässt, „die den Spaniern, von denen er abstammt, und den Franzosen, die ihn erzogenhaben, nicht bekannt“ ist. Nein, so was auch!
Um es kurz zu machen, diesen Essay muss man sich nicht unbedingt antun. Die Glossen von Gómez Dávilaaber schon. Seine Bemerkung Der Satz muss feine Manieren zeigen, aber Kanten haben und kurz sein, waroffensichtlich nicht nur so dahin geschrieben. Kurz, geistreich, streitbar – einfach brillant, das sind die Glossenvon Nicolás Gómez Dávila. Man muss ja seine Gedanken nicht immer teilen, und über manches mag manvielleicht nicht einmal diskutieren – aber es macht Spaß zu verfolgen, wie er sie formuliert.
Martin Mosebach hat dieses Buch zusammengestellt, er hat aus der Vielzahl der Anmerkungen und Notizendes Kolumbianers eine gute Auswahl getroffen.. Damit hat er seine etwas verquasten Ausführungen im einleitendenEssay allemal wettgemacht.
Nicolás Gómez Dávila
Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten
Ausgewählte Sprengsätze
Eichborn Verlag.
Die Andere Bibliothek.
Frankfurt am Main 2006.
ISBN: 3-8218-4572-4
Aber nun zum Meister selbst, mit willkürlich ausgewählten escolios:
Mancher berühmte Mann trägt mitunter so schwachsinnige Ideen vor, dass wir nicht zu glauben
wagen, wir verstünden.
Unter Intellektuellen ist das Gespräch Austausch fremder Ideen.
Früher griffen die Narren die Kirche an, heute reformieren sie sie.
Die Zweideutigkeit bestimmter Wörter ist der Beweis für die Eindeutigkeit, mit der sie an der zweideutigen
Realität hängen, die sie bezeichnen.
Die Zivilisationen unterscheiden sich radikal voneinander. Von einer Zivilisation zur anderen erkennen
jedoch die wenigen Zivilisierten einander mit einem diskreten Lächeln.
Der Linke schließt seine vehementen Anklagen gegen die Gesellschaft mit einem zarten Seufzer des
Selbstmitleids ab.
Der übersetzte Dichter hat mehr Bewunderer als seine Gedichte.
Die Sprachgemeinschaft des Schriftstellers ist nicht die kurzzeitige Gruppe von Sprechenden, die ihn
umgeben, sondern die Literaturgeschichte, der er angehört.
Kunstwerk ist heute jedes Ding, dass sich teuer verkauft.
Die Hölle scheint keine so übermäßige Strafe mehr zu sein, seitdem wir die Nachbarn ein wenig
erkundet haben.
Irren ist menschlich, lügen demokratisch.
Im Ozean des Glaubens fischt man mit einem Netz aus Zweifeln.
Bei demokratischen Wahlen wird darüber entschieden, wen auf legalem Wege zu unterdrücken statthaft
ist.
Niemand gleicht den anderen mehr, als wer sich für anders hält.
Je größer ein demokratisches Land ist, desto mittelmäßiger müssen seine Regierenden sein: Sie
werden von einer größeren Anzahl von Menschen gewählt.
Wir Reaktionäre sind unglückselige Menschen: Die Linken stehlen uns die Ideen und die Rechten das
Vokabular.