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Rulfo, Juan: Mexiko – wunderbare Wirklichkeit

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Im grellen Licht der Sonne glich die Ebene einem durchsichtigen See. Sie war in Dunstschwaden aufgelöst, durch die hindurch ein grauer Horizont schimmerte. In einiger Entfernung sah man die Linien einer Bergkette und hinter den Bergen die weite Ferne.

Wieso scheint diese Passage aus Pedro Páramo eine Beschreibung des Bildes zu geben? Weil der Autor von Pedro Páramo auch das Foto geschossen hat? Möglich, dass das der Grund ist. Beim Betrachten der Fotos in diesem Band ist man immer irgendwie geneigt, noch einmal im schmalen Œuvre des Autors nachzulesen. Und wie der Band Juan Rulfo. Mexiko – wunderbare Wirklichkeit zeigt, geht es anderen ebenso. Immer wieder nehmen die Herausgeber auf die Bücher Rulfos Bezug, wenn sie doch eigentlich seine Fotografien beschreiben wollen. Die Schwarzweißfotos entstanden zumeist zwischen 1940 und 1955. Landschaften, karg oder idyllisch anmutend, Tempel aus vorkolumbischer Zeit. Kirchen, Ruinen, Bauern, Indios, Schauspieler. Alltagsszenen aus der mexikanischen Provinz: ein Fischer in Michoacán, Frauen irgendwo auf einer Dorfstraße, Maultiertreiber, Wäscherinnen, spielende Kinder. Mexiko, wie es vor gut einem halben Jahrhundert war. Oder wie Juan Rulfo es sah?

Juan Rulfo wird im Mai 1919 in San Gabriel (Bundesstaat Jalisco) geboren. Nach dem Tod seiner Mutter wächst er in einem Waisenhaus auf. Als 15-Jähriger geht er nach Mexiko-Stadt, schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch, unter anderem als Angestellter der Einwanderungsbehörde, und versucht nebenher, Jura und Literatur zu studieren. Ab Mitte der vierziger Jahre gelingt es ihm, Erzählungen in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen. Er gibt seine Stelle bei der Einwanderungsbehörde auf und wird Handlungsreisender. Während seiner Reisen durch ganz Mexiko entsteht die Mehrzahl seiner Fotos. Insgesamt, so heißt es, hat er etwa 7.000 Fotos und Negative hinterlassen, sowohl schwarzweiß als auch farbig. Die Mehrzahl von ihnen entstand, wie bereits erwähnt, in der Zeit bis 1955. Lediglich die Aufnahmen zu den Dreharbeiten verschiedener Filme dürften später entstanden sein. In den fünfziger Jahren entsteht auch sein literarisches Werk. Von einem Bändchen mit Filmszenarien (El gallo de oro y otros textos para cine, 1980; dt.: Der goldene Hahn) einmal abgesehen, hat Juan Rulfo zeit seines Lebens nur zwei Bücher veröffentlicht: 1953 den Erzählungsband El llano en llamas (Der Llano in Flammen) und 1955 den Roman Pedro Páramo. Diese beiden Bücher (323 Seiten in einem Band bei Volk und Welt, 1983) machten ihn zu einem der wichtigsten lateinamerikanischen Schriftsteller und sicherten ihm einen Platz in der Weltliteratur.

Fuentes schreibt in seinem Essay „Formen, die sich dem Vergessen widersetzen“, Juan Rulfo lasse „auf seinen Fotografien das ganze Dorf aus Pedro Páramo und El llano en llamas in einer vertrauteren und freundlicheren Gegenwart wieder auferstehen“. Es ist schon eigenartig: Vergleiche zwischen dem literarischen und den fotografischen Arbeiten drängen sich immer wieder auf, nicht nur bei oben genanntem Beispiel. Kann man sagen, Rulfo fotografierte wie er schrieb? Die Bilder scheinen die Bücher zu illustrieren, obwohl sie doch in der Mehrzahl viel früher entstanden sein dürften. Vielleicht liefern ja auch die Bücher die Geschichten zu seinen Fotografien.. Sowohl Fotos als auch Erzählungen und Roman sind Ergebnis genauer Beobachtung, geben ein präzises Bild der mexikanischen Wirklichkeit und sind doch kein platter Realismus. Die Bilder wirken zeitlos, muten seltsam archaisch an, realistisch und unwirklich zugleich. Andererseits: Alle handelnden Personen in Pedro Páramo, die das Leben in der mexikanischen Provinz schildern, sind eigentlich schon lange tot. Rulfo als der Realist, der eigentlich ein Fantastiker war, wie Monterroso schreibt? Wie dem auch sei: Juan Rulfo. Mexiko – wunderbare Wirklichkeit ist ein wirklich wunderbares Buch, an dem man sich lange festsehen kann. Schade ist nur, dass in dem sehr informativen Band (mit Beiträgen u.a. von Erika Billeter) Angaben zur Entstehungszeit der einzelnen Bilder fehlen. Aber das war vielleicht auch nicht möglich bei einem Hobbyfotografen wie Rulfo, der sein Werk vornehmlich in Schuhkartons hinterlassen hat.

Juan Rulfo
Beitr. von Carlos Fuentes, Erika Billeter u.a.

Mexiko – Wunderbare Wirklichkeit.
Bern 2002.

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