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Kistner, Thomas: Die Toten von Leticia

Nora Pester | | Artikel drucken
Lesedauer: 3 Minuten

Organraub, Kokainschmuggel und Menschenjagd am Amazonas

Thomas_Kistner_Toten_von_Leticia.jpgIm Länderdreieck Kolumbien, Brasilien und Peru geschehen unheimliche Dinge. Zunächst sind es nur vage Vermutungen und böse Ahnungen, auf deren Spuren sich der Journalist Thomas Kistner begibt. Die oberflächliche Unberührtheit und Abgeschiedenheit des Regenwaldes verbergen jedoch keine Naturidylle, sondern hüten ein grauenhaftes Geheimnis. Was wie ein tagebuchartiger Reisebericht beginnt – spannend und abenteuerlich – entpuppt sich rasch als erschreckende Realität. Schon die Titel der einzelnen Kapitel lassen nichts Gutes ahnen: „Die Tränen des Mondes“, „Einem Phantom auf der Spur“, oder „Gottes eiserne Gesandte“. Hinter jeder Lehmhütte, in jedem sumpfigen Flußarm lauert eine mysteriöse Begebenheit. Wie Bill Gates mit seiner Luxusjacht in Leticia auf Piraten trifft, gehört dabei noch zu den harmlosen Geschichten.

Wir befinden uns am größten Kokainumschlagplatz der Welt. Drogenhandel, Geldwäsche, Waffen- und Tierschmuggel, Organhandel, Korruption und Gewalt beuten Mensch und Natur gleichermaßen aus. Eine unüberschaubare Anzahl von Akteuren aus den verschiedensten Staaten und Unternehmen bilden ein nahezu undurchdringliches Dickicht der Kriminalität. Der Dschungel wird zum Testgelände für biologische Kampfmittel, High Tech-Waffen und Psychodrogen zur Bewußtseinskontrolle. Guerilla, (Para-)Militärs, Mafia, Missionare und CIA gehen eine unheilige Allianz ein. Der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß alles Böse dieser Welt an diesem Ort vereint ist. Die Spekulationen sind so unvorstellbar, daß sie nur der Wahrheit entsprechen können. Da finden Menschenjagden auf Indios als Touristenattraktion statt; es fallen Feuerbälle vom Himmel, die wie fliegende Drohnen ihre Opfer verfolgen, einkreisen und attackieren; und Kopfabschneider treiben ihr blutiges Unwesen.

Es bleibt jedoch ein unvollständiges Puzzle aus Indizien und Gerüchten, obwohl Kistner sie durch Pressemeldungen, Aufsätze und veröffentlichte Erinnerungen von Augenzeugen ergänzt und einleitet. Unter Zusicherung der Vertraulichkeit seiner Informanten können Personen und Unternehmen nur angedeutet werden. Die Begegnungen mit dem beinahe mythischen Padre Lozano oder die Geschichte des Mike Tsalickis, eines Drogenbarons und ehemaligen CIA-Mitarbeiters, hinterlassen einen unwirklichen Eindruck. Ist es eine „vergebliche Exkursion“, auf die sich der Autor begibt, wie er selbst immer wieder befürchtet und eingesteht? Es herrschen Schweigen, Mißtrauen und offene Feindseligkeit gegenüber einem Eindringling in diesen Mikrokosmos der Gesetzlosigkeit. Der Dschungel gibt seine Geheimnisse nur bruchstückhaft preis. Die Natur überwuchert seine Wunden. Trotz fehlender Beweise und Details gelingt es jedoch, die wahre Geschichte dieser beinahe exterritorialen Regenwaldregion zu skizzieren, das Schicksal eines geschundenen Landes und seiner Menschen einzufangen und die Öffentlichkeit auf unvorstellbare Vorgänge aufmerksam zu machen.

Thomas Kistner:
Die Toten von Leticia
Organraub, Kokainschmuggel und Menschenjagd am Amazonas

DVA, München 2003
272 Seiten
EUR 19,90

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