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Printausgaben

Goldmann, Francisco: Das gestohlene Leben der Flor de Mayo

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Guate existe

Dieser erste Roman von Francisco Goldman, 1992 in New York unter dem Titel „The Long Night of White Chickens“ im englischen Original erschienen, ist verwirrend, traurig, grausam, poetisch, unergründlich, magisch, unvergesslich – wie eine einzige Metapher dessen, wovon er erzählt: von einem Land namens Guatemala, das – nach den Worten eines der Protagonisten – nicht existiert („Guate no existe“), von Menschen, die dort geboren und gestorben sind, die dorthin zurückkehren oder von dort weggehen, die auf vielfältige Weise mit ihm verbunden, von ihm (vor)eingenommen sind und die alle nicht von ihm loskommen. So geht es auch dem Leser: er ist gefesselt, und je mehr er sich durch die Lektüre zu befreien sucht, desto mehr wird er hineingezogen in diesen Strudel aus Wahrheit und Lüge, Fiktion und Realität, Schmerz und Liebe, Vergeblichkeit und Ewigkeit, der ihn nicht mehr loslässt und auch noch gefangenhält, wenn er diese Geschichte aus Geschichten schon zur Seite gelegt hat.

Jene Flor de Mayo Puac, aus deren Schicksal der „rote Faden“ der Handlung(en) gesponnen wird, der die vielen Geschichten und Episoden des Buches zusammenhält, ist eine Waise aus Guatemala. Sie wird mit 13 Jahren nach Boston geschickt, um dort im Auftrag der guatemaltekischen Großmutter (abuelita) von Roger Graetz, dem Haupterzähler und alter ego des Autors, den Haushalt zu fuhren und dem gerade von TB genesenden Jungen im Namen ihres katholischen Gottes beizustehen. Der Vater Rogers, ein liberaler Jude aus ärmlichen Verhältnissen, kann mit einem Dienstmädchen nicht viel anfangen und schickt sie zur Schule. Für den acht Jahre jüngeren Roger wird Flor zur „großen Schwester“, die er bewundert und liebt. Flor, der nach dem ausgezeichneten College-Abschluß eine entsprechende Karriere in den USA offensteht, kehrt jedoch 1979 nach Guatemala zurück, wo sie ein Waisenhaus mit angeschlossener Unterernährtenstation, das ,,Los Quetzalitos“ heißt, leitet. Am 17. Februar 1983, auf dem Höhepunkt der AntiGuerilla-Offensive des Miliärdiktators Rios Montt, wird die gerade 33jährige Flor in ihren Zimmer ermordet aufgefunden. Schon kurz darauf wird sie von den beiden führenden Zeitungen Guatemalas beschuldigt, in den kriminellen Handel mit Kindern verwickelt und die heimliche Besitzerin einer „ casa de engordes “ (Masthaus) zum Aufpäppeln künftiger Opfer gewesen zu sein. Der Leser wird gleich zu Beginn mit diesen Fakten konfrontiert, um dann Roger auf seiner Suche nach der Wahrheit zu begleiten. Sie führt über Geschichten, die fein geschliffene Mosaiksteine aus dem Leben von Flor und Roger sind, zu immer wieder neuen Fragen: Wer war Flor wirklich? Warum ist sie nach Guatemala zurückgekehrt? Wer hat sie umgebracht? War sie – freiwillig oder unfreiwillig – doch in illegale Transaktionen auf Kosten der ihr anvertrauten Kinder verwickelt? Auch Roger, der Flor besser als jeder andere zu kennen glaubt, erfährt von immer wieder neuen, unbekannten Facetten ihrer Persönlichkeit und ihres Lebens: von einer Flor, die in ihrer heimlichen Liebe zu zwei Männern hin und her gerissen wird, die eine Adoption in die Wege leitet, durch die zwei verwaiste Geschwister, deren indianische Eltern – wie sich später herausstellt – noch leben, auseinandergerissen werden, die vor ihren Mitschülerinnen am College damit prahlt, ihren (Fast-) Bruder Roger „vernascht“ zu haben. Einer Flor, die an sich selbst und an Guatemala verzweifelt. Aber auch von einer Flor, die ihr Leben riskiert, um Kinder vor dem sicheren Tod oder dem Un-Leben auf der Straße zu retten, die alles daran setzt, dass wenigstens einige von ihnen neue Eltern im „reichen“ (westlichen) Ausland finden, die herzhaft über sich und andere lacht, scharfsinnig Menschen und Situationen analysiert, ausgiebig Leben und Liebe genießt, die einstecken kann und gern austeilt, die die Hoffnung nicht aufgibt, dass Guatemala irgendwann doch noch von allgegenwärtiger Gewalt und Lüge genesen kann – Gewalt und Lügen, die auch Flor in ihren Sog ziehen: „Das Problem an diesem Land ist, dass alle alles heimlich tun, und jeder von uns muss schließlich dafür büßen. Ich will damit sagen, dass jeder von uns dafür büßen muss, dass alle alles glauben.“ (S. 559)

Die Suche nach der Wahrheit führt immer wieder zur Frage nach der eigenen Identität – eine Frage, die zwar vor allem Flor und Roger, aber auch den Leser betrifft. Grenzüberschreitender Ortswechsel, multi-kulturelle Prägungen und transnationale Kommunikation zwingen immer häufiger zur Selbstvergewisserung und Neubestimmung des eigenen Lebens. Flor, deren genaue Herkunft sich im ethnischen Gemisch Zentralamerikas verliert (der Vater wahrscheinlich Honduraner mit afrikanischem Einschlag, die Mutter unbekannt), erfahrt dies mehrfach schmerzlich, als sie feststellt, dass sie ganz unterschiedlich „bewertet“ wird und sich „fühlt“, je nachdem, in welchem Land, in welchem Lebensabschnitt und in welcher Gesellschaftsschicht sie sich gerade befindet. Mit ihrer wechselhaften Biographie erwirbt sie neue ethnisch-kulturelle, nationale und soziale Identitäten. Der mit ihrem Aufenthalt in den USA verbundene Wechsel von der indígena zur ladina, von der chapina zur gringa, von arm zur Mittelschicht vollzieht sich in Konflikten und schafft neue, ohne die alten gelöst zu haben. Als sie im Alter von 17 Jahren mit Roger und dessen guatemaltekischer Mutter während der Sommerferien ihre Heimat besucht, prallen zwei Welten und Identitäten aufeinander: für abutelita, die sie aus dem Waisenhaus geholt und nach Boston geschickt hatte, ist sie immer noch die muchacha, die bei den anderen Dienstmädchen schlafen und essen soll, während Flor, die inzwischen das Selbstbewußtsein einer erfolgreichen High-School-Absolventin entwickelt hat, dies verweigert. Von den guatemaltekischen Schulkameraden Rogers, die wie abuelita fast alle zur Oberschicht gehören, wird sie als india diskriminiert. Die soziale Demütigung in Guatemala veranlasst sie, ihre nationale Identität zu ändern und – nach Boston zurückgekehrt – US-Bürgerin zu werden. Als sie dann mit Berufserfahrung an der New Yorker Börse und bei der UN 1979 nach Guatemala zurückkehrt, verleihen ihr Bildung und Staatsbürgerschaft zwar einen neuen sozialen und nationalen Status (burguesa, gringa), der jedoch nicht nur in den Augen der in sich abgeschlossenen guatemaltekischen Oberschicht doppelt doppeldeutig bleibt: als gringa-chapina und india-ladina sitzt sie zwischen den Stühlen und muß sich immer wieder der offenen oder versteckten Anfeindungen erwehren. Wie sie ist auch Roger ein Wanderer zwischen den Welten, allerdings auf eine andere Weise. Während sich Flor durch fremde Hilfe und eigene Entschlossenheit eine neue Welt erschließt, sieht sich Roger in Gestalt seiner Eltern per Geburt mit einer dreifachen Identität „ausgestattet“: Guatemalteke mütterlicherseits und US-Bürger jüdischer Herkunft väterlicherseits. Wie fragil diese Tripolarität ist, zeigt sich nach dem Tod von Flor. Durch ihren Tod verunsichert, sucht er seinen Schmerz durch die innere Abkehr von Guatemala zu betäuben. Erst Moya, sein Jugendfreund und zugleich Geliebter von Flor, kann ihn durch neue Informationen über die Umstände ihrer Ermordung dazu bewegen, nach Guatemala zurückzukehren, um drei Jahre nach ihrer Beisetzung gemeinsam die Wahrheit zu suchen. In diesem einen Jahr gelingt es ihnen auch fast, das Geheimnis ihres Todes zu enthüllen: sie erfahren die Identität des zweiten heimlichen Liebhabers und die Umstände der letzten Adoption, die beide indígena-Kinder voneinander getrennt hat. Sie können Flors Tagebuch aus dem Polizeiarchiv entwenden, geraten ins Visier der Todesschwadrone und in den Dunstkreis der Bordelle, Elendsviertel und Jugendbanden (maras). Indem der Leser den Spuren von Flor, Roger und Moya folgt und in ihre Haut schlüpft, kommt er Guatemala, jenem geheimnisvollen, verschlossenen und traurigen Land im Herzen Zentralamerikas, auf faszinierende Weise näher. Es bleibt aber ein begrenzter Blick, was daraus resultiert, dass der Autor wie seine Protagonisten ladinos sind, die angesichts der indianischen Geschichte und Realität ihres Landes selbst nur einen Teil kennen und deshalb ihrer Identität nicht sicher sind. Auch deshalb meint Moya: „Guate no existe.“ Obwohl das Rätsel um den Tod der Flor de Mayo nicht endgültig gelöst wird, gewinnt der Leser am Ende (s)ein Bild vom Leben einer beeindruckenden Frau und eines Landes, das doch existiert – man muss es suchen und kann es finden.

Francisco Goldman
Das gestohlene Leben der Flor de Mayo.

List Verlag München 1999

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