Ich muss gestehen, dass mir der Titel „Utopische Realpolitik“ anfangs wie ein Wortspagat erschien. Jedoch kam ich im Verlauf des Lesens in den Genuss der Präzision und der Kombination der Konzepte, die der Autor Helge Buttkereit nutzt. Es war wie das vorsichtige Betrachten einer Malerei, die dir hinterher gefällt und deren Konturen, Farben und Kombinationen auf deine ganz eigene Weise genießt. Schließlich gönnt man sich den Luxus, einen Kommentar abzugeben, was ich jetzt über den Inhalt des Buches tue.
Das Buch ist aus drei wesentlichen Gründen anregend und interessant: Erstens wegen der gut abgestimmten Handhabung von Theorie und Praxis, die es zu einem sehr nützlichen Instrument für ein besseres Verstehen der Grundlinien der jüngsten politischen Ereignisse in Ecuador, Venezuela und Bolivien machen; zweitens aufgrund des treffenden inhaltlichen Vergleichs der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität der drei genannten Länder; drittens wegen der genauen und kritischen Interpretation der Überlegungen anerkannter Autoren Lateinamerikas, die sich mit postkapitalistischen Alternativen beschäftigen wie Álvaro García Linera, Heinz Dieterich und Marta Harnecker.
Schon auf den ersten Seiten seines Buches macht der Autor dem Leser den Titel des Buches verständlich: „Das scheinbar Unmögliche ist möglich“. Die Utopie, als Begriff, erscheint mit dem Unmöglichen verwandt. Eine Realpolitik ist utopisch „weil sie Ziele hat, die sich auf etwas richten, das über das Machbare hinausreicht“, so Helge Buttkereit. Das Unmögliche, die Utopie, wird gerade durch die Ziele im Prozess der Verwirklichung ermöglicht. Durch die Verwendung von Begriffen der Zeitlichkeit wird das Utopische der Zukunft durch die Bestimmung der Ziele schon in der Gegenwart verwirklicht – ein Begriff also, der in zwei Zeiten, Zukunft und Gegenwart, gespalten ist.
Dieses transzendentale Hantieren, mit dem er die Elemente der Zeit zum Gegenstand seiner Überlegungen macht, hat mich sehr beeindruckt. Es ist, als ob die Ereignisse von morgen sich heute verwirklichen würden. Buttkereit fordert unsere Vorstellungskraft heraus und betrachtet die Ereignisse in Lateinamerika aus der Perspektive der vergangenen Zeit. Er zitiert Rudi Dutschke: “Die Beschäftigung mit der Vergangenheit betrachte ich als einen Versuch, den Blick für die konkrete Wirklichkeit der Gegenwart samt ihren zukünftigen Möglichkeiten zu öffnen.“ So hilft die Vergangenheit, die Gegenwart zu verstehen und die Möglichkeit der Zukunft zu umreißen. Hier zeigt sich eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem uralten Wissen der Andinos. Diese sind nämlich der Auffassung, dass die Vergangenheit sich in der Zukunft wiederholt, deshalb sollte die Zukunft als eine sichere Wiederholung der Vergangenheit betrachtet werden. Es ist vorstellbar, dass Dutschke mit den Andinos einer Meinung gewesen wäre
Buttkereit definiert auch den Revolutionsbegriff als offenen Verlauf einer Bewegung, in der das Unmögliche möglich wird. Er lädt uns ein, in diesem Sinne zu verstehen, was sich in Bolivien unter dem Begriff des Proceso de Cambio, in Venezuela als Revolución Bolivariana und in Ecuador als Revolución Ciudadana (Bürgerrevolution) vollzieht. Er distanziert sich von den Reformisten, indem er darauf hinweist, dass diese in einem Raum verbleiben, in dem „das Unmögliche unmöglich bleibt“.
Der Autor diskutiert ferner Lineras Konzept des capitalismo andino-amazónico. Er zeigt, dass darin eine Formationstheorie der Gesellschaft durchscheint, die dem Sozialismus einen differenzierten Kapitalismus voranstellt: Ohne Kapitalismus also auch kein Sozialismus. Auf diese Weise wird die Geschichte als Teil der deterministischen Philosophie betrachtet und die konkreten Umstände werden negiert, kritisiert Buttkereit. Er befürchtet, dass diese Auffassung dazu führen könnte, die Gemeinschaft auf dem Altar des Modernismus und des Staatskapitalismus zu opfern. Dies dürfe nicht geschehen, wenn sie als Keimzelle wirken soll, um die Grundstrukturen des gemeinsamen Wirtschaftens und gemeinsamen Entscheidens auf Basis eines Konsenses und des indigenen „Guten Zusammenlebens“ beizubehalten. Buttkereit achtet darauf, dass seine Kritik nicht Wasser auf die Mühlen anderer leitet. So wendet er sich gegen eine „Romantisierung“ Felipe Quispes, der Evo Morales vom Standpunkt eines radikalen Indianismus hart angreift. Trotz seiner Offenheit lässt Buttkereit Vorbehalte gegenüber den Verteidigern der Rechte der Natur erkennen. Wie der Autor selbst bemerkt, fehlt seinem Buch die Analyse des historischen Materialismus. Vielleicht beeindruckt mich das Buch gerade deswegen?
Helge Buttkereit
Utopische Realpolitik
Die Neue Linke in Lateinamerika
Pahl-Rugenstein Verlag
162 S., 16,90 Euro
978-3-89144-424-5
Super neuer Beitrag! Ich werde da noch mal nachhaken!