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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Braun, Ina: Kultur des Schweigens. Víctor Jara interkulturell gelesen

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten
Ina Braun: Kultur des Schweigens (106 Downloads )

Lass das Leben fliegen*

Kultur des SchweigensEs gibt in deutscher Sprache nicht allzu viele Bücher, die sich mit dem chilenischen Theaterregisseur und Liedermacher Víctor Jara beschäftigen, und schon gar keine neueren Datums. Das Buch „Kultur des Schweigens“ ist somit etwas Besonderes, an sich bemerkenswert. Die Autorin Ina Braun setzt sich das Ziel, Jara interkulturell zu lesen, sein Werk aus seinen Lebensumständen heraus zu erklären und so zu verstehen. Im Folgenden werde ich mich mit Brauns „interkulturellen“ Verständnis des chilenischen Künstlers auseinandersetzen, die Textkritiken etc. werden nicht Gegenstand der Darstellung sein.

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die sich der Welt Víctor Jaras (Biografie, chilenische/ lateinamerikanische Wirklichkeit), dem politischen Lied im Allgemeinen, dem Werk Jaras im Besonderen sowie der Identität des Liedermachers widmen. Die Autorin ist in allen Kapiteln bemüht, das Wirken Jaras und die nueva canción in den chilenischen und lateinamerikanischen Kontext einzuordnen. Aus dieser Sicht sind Abschnitte zur Geschichte Chiles und zum Leben und Wirken Salvador Allendes nachvollziehbar. Dieses umfassende Herangehen an Leben und Werk Víctor Jaras geht aber meines Erachtens nicht auf, die Darstellung bleibt über weite Strecken oberflächlich.

Das mag nicht unwesentlich an der sehr komprimierten Abhandlung der historischen Kapitel liegen: Der mit „Lateinamerikanische Geisteswelt“ nicht ganz zutreffend überschriebene Abschnitt ist gerade einmal 20 Seiten lang. Zudem gerät die Darstellung der politischen Entwicklung Chiles häufig recht naiv und reiht Schlagwort an Schlagwort, so dass der Eindruck entsteht, die Autorin hätte sich nicht ausreichend mit der herangezogenen Literatur auseinandergesetzt. Das Wort Eindruck steht hier zu Recht: Da ein Literaturverzeichnis fehlt, kann nicht nachvollzogen werden, welche Bücher Ina Braun herangezogen hat. Sie schreibt zwar, es gäbe eine „Vielzahl meist tendenziöser Darstellungen“ der Allende-Zeit (S. 11), doch bleibt es ihr Geheimnis, um welche es sich dabei handelt. Auf diese Weise vermittelt sie den Eindruck, als wären die Jahre der Unidad Popular wissenschaftlich kaum aufgearbeitet worden. Was nun wirklich keiner Prüfung standhält.

Die geraffte, schlagwortartige Darstellung macht es dem Leser oft schwer, der Logik der Autorin zu folgen. Als beredtes Beispiel hierfür mag der letzte Absatz auf Seite 35 dienen. Hier geht es über knapp zehn Zeilen um Allende und die Sozialistische Partei seit 1933, die Kommunistische Partei Chiles seit 1958 und Allendes Verhältnis zur kubanischen Revolution. Dieser Absatz lässt innere Logik weitgehend vermissen und ist in seiner Intention schlicht unverständlich. Möglicherweise wurde hier etwas zu viel gekürzt; vom Inhalt des Absatzes ausgehend dürften ganze Seiten fehlen.

Auch die Verbindung von Zeitgeschehen und Werk Víctor Jaras gelingt Ina Braun methodisch nicht überzeugend. Bei der Lektüre des Buches habe ich immer wieder notiert: Zeiten stimmen nicht, allgemeine Aussagen werden immer wieder mit Werk von J. belegt – seltsame Vermischung. Teilweise werden biografische Daten regelrecht zurechtgestutzt, um den Bezug zum Werk herzustellen. So erwähnt Braun kurz Jaras Zeit im Priesterseminar (S. 17), das er nach zwei Jahren verlässt, weil er keine wirkliche Berufung zum Priester verspürt. Die Autorin nennt noch einen weiteren Grund für diesen Schritt: „Auch ist ihm die indifferente Haltung der Amtskirche gegenüber der Armut im Lande kritikwürdig. Er behandelt dieses Thema später in seinem Lied La luna siempre es muy linda.“ Es ist wohl sehr weit hergeholt und vermessen, dem 17-jährigen Víctor Jara eine Kritik an der Amtskirche anzudichten. Nach eigenen Angaben verließ Jara das Seminar, weil er nicht wirklich Priester werden wollte und im Seminar „zu vielen anderen Dingen angeregt wurde“ – u.a. zum Singen (vgl. Habla y canta Víctor Jara, Havanna 1978, S. 9). Das genannte Lied schrieb er mehr als zehn Jahre und viele Lebenserfahrungen später.

Auffällig ist für mich die Distanz der Autorin zum Gegenstand ihrer Analyse, es scheint als hätte sie Angst, sich auf Víctor Jara einzulassen. Da gibt es zu viel „scheint“, „seiner Meinung nach“ usw. Als Beispiel sei die Analyse des Liedes „Preguntas por Puerto Montt“ genannt. Braun schreibt hier, Jara schrieb das Lied gegen die „aus seiner Sicht“ Verantwortlichen des Massakers von Puerto Montt 1969, bei dem chilenische Carabineros wehrlose Landbesetzer zusammenschossen. Jara „hielt“ den Innenminister Pérez Zújovic für den Verantwortlichen. Nun kann man wohl im Allgemeinen davon ausgehen, dass ein Liedermacher in seinen Liedern seine Sicht auf die Dinge vermittelt. Andererseits trägt in jedem demokratischen Land der Innenminister die Verantwortung dafür, wenn seine Polizisten wehrlose Menschen töten. Warum betont Ina Braun an dieser Stelle ausdrücklich, es handele sich um Jaras Sicht? Ist sie selbst ganz anderer Meinung? Das wäre legitim, im Rahmen einer Bewertung des Liedes sollte das aber auch zum Ausdruck gebracht und belegt werden. Dient der Autorin doch dieses Lied als Beispiel für die „Schwarz-Weiß-Malerei der cantautores“ (S. 100).

Mein Eindruck ist, dass Brauns „Problem“ mit Víctor Jara in ihrer Ausgangsthese begründet ist, nach welcher – grob zusammengefasst – die nueva canción chilena (stellvertretend für die Liedbewegung in ganz Lateinamerika) in Wort und Musik eher schlicht, agitatorisch und schwarz-weiß-malend war (vgl. u.a. S. 55f und S. 94). Zudem denkt sie (mit Claus Schneider) darüber nach, ob der künstlerische Wert der nueva canción nicht überschätzt sei und diese deshalb entmythologisiert werden müsse (S. 12). Den Beleg dafür liefert sie in ihrem Buch allerdings nicht, was wohl auch daran liegen mag, dass sich gerade Víctor Jaras Werk dafür nicht eignet.

Und so bedient sich Ina Braun einer Methode, die im deutschen Feuilleton nicht selten anzutreffen ist: Sie argumentiert auf der Grundlage einer vorgefassten Meinung und wirft, darauf aufbauend, Víctor Jara indirekt vor, diesem Vorurteil nicht zu entsprechen. Bei der Autorin äußert sich das zum Beispiel darin, dass sie hin und wieder Víctor Jara zu verteidigen scheint. So wundert sie sich darüber, dass ein cantautor wie er Liebeslieder sang (S. 96). Sie erklärt das dann damit, dass für Jara, der seine Mutter früh verloren hatte, die Familie immer besonders wichtig gewesen sei.

Cover einer Amiga-Single 1974. Peter Porsch.Ich erspare mir an dieser Stelle, auch nur einige der zahlreichen Liebeslieder zu nennen, die chilenische und andere lateinamerikanische cantautores geschrieben und gesungen haben – es ist einfach zu albern. Jaras Popularität als Sänger begann übrigens, ausgehend von seinem ersten Auftritt in der Peña de los Parra 1966, u.a. mit solch unpolitischen Liedern wie „Paloma quiero contarte“, „Ojitos verdes“ und „El cigarrito“. Das passt so gar nicht zu der Charakterisierung von nueva canción und cantautores als in jedem Fall agitatorisch, rechthaberisch und schwarz-weiß-malend. Ja, das sei hier betont, die in ihrer Aussage eher schlichten politisch-agitatorischen Lieder gab es natürlich („Venceremos“, „El pueblo unido“), auch aus der Feder von Víctor Jara („A Cochabamba me voy“, „La B.R.P.“). Aber machten die die nueva canción aus? Das Liebeslied „Te recuerdo Amanda“ hat eine zutiefst politische Aussage, ist allerdings überhaupt nicht agitatorisch. Und „Plegaria a un labrador“ ist durchaus agitatorisch, aber höchst poetisch.

Ein anderer Versuch von Ina Braun, den Künstler – wogegen auch immer – zu verteidigen, besteht im Weglassen grundlegender Aussagen. Im Zusammenhang mit Liedern über Che Guevara bescheinigt die Autorin Jara, sich von diesem und dem kubanischen (bewaffneten) Weg der Revolution distanziert zu haben (S. 27). Er hätte andere Vorstellungen von der Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft vertreten als Che Guevara und sei auch ein Verfechter von intellektueller Freiheit gewesen, der sich keiner strikten Parteidisziplin beugte (S. 22). Das hört sich an, als solle betont werden, dass Jara eigentlich gar kein ‚richtiger‘ Kommunist war. Es gibt zweifellos Belege dafür, dass sich der Künstler Víctor Jara, wie andere seiner Musikerkollegen auch, keiner strikten Parteidisziplin unterwarf. Als er zum Beispiel 1967 sein Lied „El aparecido“ über den in Bolivien kämpfenden Guevara schrieb, hatte die Kommunistische Partei Chiles gerade große Probleme mit den militärischen Aktionen des Argentiniers – sie lehnte den bewaffneten Kampf nämlich als linksradikal und kleinbürgerlich ab. Jaras musikalische Unterstützung für Che Guevara lag also ganz und gar nicht auf Parteilinie, wenn auch völlig anders, als Braun das vermitteln möchte.

Darüber hinaus hatte der Sänger bis zuletzt das Lied „Zamba del Ché“ in seinem Repertoire. Ina Braun hat dieses Lied in ihr Buch aufgenommen und sogar (als einziges der abgedruckten Lieder) ins Deutsche übertragen (S. 90); das schien ihr für ihre Argumentation wichtig zu sein. Nur leider hat sie die Hälfte des Liedes weggelassen, und zwar den Teil, in dem es unter anderem heißt: Heiliger Ernesto von La Higuera, so nennen ihn die Bauern. Urwälder, Pampas und Gebirge, Vaterland oder Tod – sein Schicksal. Das klingt nun überhaupt nicht nach Distanzierung vom bewaffneten Kampf Che Guevaras, eher nach Anerkennung desselben. Jaras Lied „A Cochabamba me voy“ ist da noch etwas deutlicher. Nur war er klug genug zu wissen, dass die Bedingungen in Chile ganz andere waren als in Kuba (oder auch in Bolivien) und möglicherweise die Chance für einen Weg zum Sozialismus per Wahlurne boten. Deshalb auch sein unsere Sierra ist die Wahl in dem Lied „A Cuba“.

Aber lassen wir es dabei bewenden. Es sei noch darauf hingewiesen, dass sich in dem Buch immer wieder (teils grobe) sachliche Fehler finden, die auf eine nicht ausreichend tiefgründige Recherche schließen lassen. Die Neruda-Texte „Ya parte el galgo terrible“ und „Así como hoy matan negros“ wurden von Sergio Ortega vertont, nicht von Víctor Jara (S. 58, Fußnote 44). Auch der Titel „Zamba del Ché“ stammt nicht von Jara (S. 90), der Autor dieses Liedes ist der Mexikaner Rubén Ortiz, einst Mitglied der Gruppe Los Folkloristas. Die Unidad Popular war, wie die Autorin richtig schreibt, ein Bündnis verschiedener linker Parteien (S. 37). Sie war niemals eine Partei und schon gar keine kommunistische, wie an anderer Stelle behauptet wird (S. 61). Dementsprechend gab es in Chile auch kein kommunistisches Experiment (S. 12). Salvador Allende war nicht der Vorsitzende der UP (S. 37), sondern ihr Präsidentschaftskandidat (und dann der von ihr gestellte Präsident Chiles). Das Angaben zum Massaker in Puerto Montt sind mir ein Rätsel; damals verloren zehn Menschen ihr Leben; nicht „70 Menschen und ein Baby“ (S. 98). Der 1932 geborene Víctor Jara war, als er starb, nicht 35, sondern knapp 41 Jahre alt (S. 21). Überhaupt geraten die Zeiten immer wieder durcheinander. So ist die Schilderung von Lonquén in den 50er Jahren (als Beleg für die entbehrungsreiche Kindheit des Künstlers) für den Text völlig irrelevant, da Víctor Jara zu dieser Zeit schon lange nicht mehr dort lebte (S. 16). Vermutlich ist dieses Durcheinander in den Zeitangaben dem falschen Geburtsdatum von Jara geschuldet, das sich in den Medien hartnäckig hält. Die Autorin hätte das aber bemerken müssen, schließlich nennt sie die richtigen Lebensdaten des Sängers (S. 15).

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass das Thema in jeder Hinsicht für das Buch von Ina Braun spricht. Nur wäre mehr Sorgfalt vonnöten gewesen, um das Buch zu einem Gewinn in der Diskussion über Víctor Jara zu machen. Vor allem hätte ich mir eine wirkliche interkulturelle Analyse der Arbeit des Künstlers gewünscht, die historische Begebenheiten nicht nur benennt, sondern auch versucht, diese und die auf ihnen beruhenden Handlungen der Akteure zu verstehen. Der Anspruch, Jara interkulturell zu lesen, wird m.E. nicht wirklich umgesetzt.

Im Übrigen: Wenn man ein Buch der Allgemeinheit zugänglich macht, dann sollte man das auch konsequent tun – die spanischen Passagen hätten ausnahmslos übersetzt werden müssen.

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* Titel eines Liedes von Víctor Jara („Deja la vida volar“, 1964)

Ina Braun
Kultur des Schweigens. Víctor Jara interkulturell gelesen
Traugott Bautz, Nordhausen 2010
ISBN-10: 3883092177
ISBN-13: 978-3883092171

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