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Informeller Sektor – Motor für Entwicklung?

Hartmut Elsenhans* | | Artikel drucken
Lesedauer: 30 Minuten

Dieser Artikel wurde leicht gekürzt. Die ungekürzte Fassung dieses Artikels ist im Internet unter der URL: „http://www.uni-leipzig.de/~quetzal /inhalt/quel7/schvverpu/elsenh.htm“ zu finden.

Die Kontroverse

Die Kontroverse über einen möglichen Beitrag kleiner und kleinster Einheiten für die Überwindung von Unterentwicklung krankt am Problem der falschen Ebene der Analyse [1]. Die Befürworter der Förderung dieses Sektors, insbesondere in der gewerblichen Produktion, schließen von der Beobachtung, daß hier Konkurrenz herrscht und knappe Mittel effizient eingesetzt werden, auf die Fähigkeit des Sektors, auch im Fall der Förderung von außen (Staat, internationale Entwicklungshilfeagenturen oder NROs) diese Effizienz beizubehalten, und auf die Fähigkeit solcher Betriebe, besser als die kritisierten Groß-/Staatsbetriebe neue technische Aufgaben zu meistern.

Nun haben aber solche Unternehmer keine besonderen Fertigkeiten, sondern sind effizient, weil ihnen „das Wasser am Hals“ steht. Ob sie effizient bleiben, wenn dieser Druck durch staatliche Förderungsprogramme von ihnen genommen wird, darf bezweifelt werden. Selbst in Industrieländern mit langer bürgerlicher und kapitalistischer Tradition haben die Unternehmer „unternehmerische Normen“ nur durch Druck der Konkurrenz, nicht aber durch eine protestantische Ethik im Sinne Max Webers verinnerlicht.

Die Kritiker der euphorischen Bewertung der Dynamik des informellen Sektors heben hervor, daß diese kleinen Einheiten weniger als größere Betriebe in der Lage sind, die für die Überwindung von Unterentwicklung notwendige Steigerung der Produktivität zu erzielen, und befürchten, daß eine auf das Wachstum des informellen Sektors abgestellte Entwicklungsstrategie technische Rückständigkeit verfestigen, der Verzicht auf Förderung größerer Unternehmen sogar zum Verlust der Fähigkeit zu technischer Transformation fuhren würden. Sie haben recht, wenn sie auf die begrenzte Fähigkeit des kleinbetrieblichen Sektors verweisen, moderne oder gar modernste Technologie einzusetzen. Damit ist aber noch nicht gezeigt, daß die größeren Betriebe wegen umfangreicherer Ressourcen – Geld und qualifiziertes Personal – diese Aufgabe besser bewältigen. Ebensowenig folgt aus dieser Beobachtung, daß der kleinbetriebliche Sektor mit seiner kurzfristig unzureichenden technischen Kompetenz nicht doch der Bereich der gewerblichen Produktion ist, in dem die Fertigkeiten ausgebildet werden, die später die Grundlage für weitere technische Innovationen darstellen.

Auflösung einiger Widersprüche

Da es sich beim informellen um einen kapitalistischen Sektor handelt, können einzelne Einheiten nur überleben, wenn sie Überschüsse erwirtschaften. Bezogen auf das eingesetzte Kapital, sind die Überschüsse höher als in anderen zugänglichen Verwendungen. Die Betriebe sind deshalb wirtschaftlich effizient.

Denkbar ist, daß Großbetriebe von den Kleinbetrieben Produkte zu Preisen beziehen, die nur wegen viel niedrigerer Arbeitskosten niedriger sind als im großbetrieblichen Sektor. Dies kann als Ausbeutung bezeichnet werden und verletzt die „moral economy“, doch wäre die Alternative zu diesem ungleichen Tausch Erwerbslosigkeit. Keinesfalls kann bei diesem ungleichen Tausch den kleinen Einheiten im Fall wachsender Nachfrage die Finanzierung ihrer Investitionen verwehrt werden, weil sie im Fall einer monopolistischen Wegnahme der für Investitionen notwendigen Gewinne nicht expandieren könnten, damit die Preise stiegen etc., und dadurch wieder Gewinne aufträten. Die Klage über den Mangel an Krediten und damit den Kapitalmangel spiegelt fehlende Über-wälzungsmöglichkeiten von Investitionskosten über die Preise (Mangel an kaufkräftiger Nachfrage) neben Marktunvollkommenheiten auf den Finanzmärkten wider, durch die die größeren Betriebe Zugang zu kostengünstigeren Finanzierungen haben, und selbstverständlich auch den bei Kapitalisten allenthalben anzutreffenden Wunsch, alle Vorleistungen möglichst kostengünstig zu beziehen. Die Kritik einer Ausbeutung des kleinbetrieblichen Sektors kann sich deshalb nur auf Abschaffung von Vergünstigungen für die großen Betriebe beziehen. Sie kann sich nicht gegen das Wachstum der kleinen Einheiten richten, weil diese ja durchaus Einkommen über den Opportunitätseinkommen bezahlen (Löhne ihrer Arbeitskräfte in anderen Beschäftigungsmöglichkeiten, d. h. bei Arbeitslosigkeit). Dies gilt auch für den Fall, daß man vermutet, diese kleinen Betriebe subventionierten durch niedrige Preise den Konsum in den Industrieländern (entweder durch Subventionen an Großbetriebe in den Entwicklungsländern oder direkt durch niedrige Preise exportierter eigener Produkte), doch würde der Verzicht auf diese „Ausbeutung“ wegen Nichtbeschäftigung von Produktionsfaktoren nicht den Mehrwert erhöhen, der in der Dritten Welt im kleinbetrieblichen Sektor verfügbar wäre, sondern vermindern (also eine gegenüber klassischen Formen der Ausbeutung völlig unterschiedliche Wirkung haben).

Wird angenommen, daß die „Reichen“ Produkte konsumieren, die besondere Fertigkeiten erfordern bzw. heute unter dem Eindruck des Demonstrationseffekts Produkte konsumieren, die nur noch mit moderner, im Lande aber nicht verfügbarer Technologie hergestellt werden können [2] , weil – weniger wahrscheinlich – im Lande dazu kein Know-how verfügbar ist oder weil die lokale Produktion der Ausrüstungsgüter für solche Güter an der Enge des Markts scheitert, ist der in der Literatur allgemein berichtete Befund zu erwarten, daß der kleinbetriebliche/ informelle Sektor für den Massenkonsum produziert [3]. Es ist nicht auszuschließen, daß der informelle Sektor auch Produkte herstellt, die die Reichen konsumieren, vor allem wenn es sich um handwerkliche Leistungen oder um Dienstleistungen handelt.

Ob der informelle Sektor den positiven Beitrag der Schaffung von Beschäftigung bei langfristig auch steigenden Arbeitseinkommen und erhöhter Bereitstellung von Gütern des Massenbedarfs schafft, hängt von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur der betreffenden Gesellschaften ab, nicht aber primär von der Betriebsgröße, obwohl diese einen Einfluß auf die Akkumulation von Kapital und die Beherrschung von Technologien haben kann, wobei im weiteren Verlauf des Wachstumsprozesses derzeit effiziente Betriebsgrößen ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren können.

Weshalb Kleinbetriebe überhaupt wettbewerbsfähig sein können

Das seit Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende Credo in die wirtschaftliche Überlegenheit von Großbetrieben gegenüber Kleinbetrieben ist allenthalben erschüttert. Auch in den Industrieländern zeigt sich, daß große Einheiten ihre Überlegenheit bei finanziellen Ressourcen und konzentriertem technischem Wissen insbesondere bei der Nutzung neuer Märkte (neue Technologien) nur wenig einsetzen können und wegen Tendenzen zur Bürokratisierung an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Märkte sind Informationssysteme, die die Kosten der Informationen vermindern, weil die Empfänger von Informationen bei deren Nichtbeachtung wirtschaftliche Verluste erleiden, während den potentiellen oder aktuellen Sendern der Informationen deren Manipulation wegen der Vielzahl von Informationsquellen verwehrt ist. Wegen der Konkurrenz können Anbieter von Innovationen diese nur dann verkaufen – zum Beispiel in der Form neuer Produkte, in denen diese Informationen stecken -, wenn sie diese Informationen zugänglich machen. Wegen der Konkurrenz gehen Firmen bankrott, die sich aus internen Kosten der Anpassung an neue Informationen über Produkte und Technologien verweigern. Großunternehmen müssen mit geometrisch steigenden Kosten der Organisation rechnen, die durch abnehmende Kosteneinsparungen infolge von Großserienproduktion aufgewogen werden können, solange durch Massennachfrage diese Kosteneinsparungen noch groß sind. Eine größere Effizienz für größere Unternehmen hängt von der massenhaften Produktion standardisierter Produkte ab, das heißt von Märkten, die in den Entwicklungsländern eher nicht anzutreffen sind. Wenn trotzdem Großunternehmen in den unterentwickelten Wirtschaften tonangebend waren, dann ist dies auf den in jeder Entwicklungspolitik eingebauten Hang zur Förderung größerer Einheiten zurückzuführen. [4]

Unterentwicklung ist historisch zunächst verstanden worden als technische Rückständigkeit und, daraus resultierend, niedriger Produktivität der Arbeit. Sie war zu überwinden, wenn mit importierter oder imitierter Technologie die Arbeitsproduktivität stieg; man glaubte, daß Großbetriebe solche Technologien beherrschen könnten, weil diese auch in ihren Herkunftsländern in größeren Einheiten eingesetzt wurden. Allerdings muß die eingeführte Technologie auch kostengünstiger als lokal produzierte sein. Liegt die physische Produktivität des rückständigen Landes bei der Technologieproduktion ungefähr gleich weit zurück wie bei der Produktion der Exportgüter, dann macht es wenig Sinn, lokale Technologie durch mit billigen Exportgütern bezahlte importierte Technologie zu ersetzen. Hohe Produktivität in einigen Exportsektoren, Hilfszahlungen, Subventionen, aus dem Export angeeignete Renten etc. machen importierte Technologie für Großbetriebe billiger als lokal produzierte.

Allerdings lösen die Großbetriebe das Versprechen hoher Produktivität auf der Grundlage importierter Technologien meist nicht ein, weil die erwarteten Produktionssteigerungen nicht erzielt werden. Die Wirtschaft ist durch die importierte Technologie überfordert und kann diese nicht assimilieren, nämlich nachbauen und weiterentwickeln.

Zu lange wurde angenommen, daß mit dem Kauf von Ausrüstungsgütern auch die Technologie, die in ihnen steckt, übertragen würde. Tatsächlich gibt es aber bei jeder Produktion zwei Ergebnisse: das Produkt und die Transformation der Arbeiter, die das Produkt herstellen. Nur das Produkt wird verkauft, nicht die zusätzlichen Fähigkeiten der Arbeiter. [5] Weil dieses Problem übersehen wurde, hat die staatliche Entwicklungspolitik seit den dreißiger Jahren die technische Transformation der Arbeiter vernachlässigt und das Problem des Überspringens des schwierigen Qualifikationsprozesses noch durch Subventionen für Investitionsgüterimporte verschärft. Nichtbeherrschung von Technologie im modernen Sektor schlug sich nieder in einer Devisen- und Sparlücke, nämlich der Unfähigkeit der Großbetriebe, die Ressourcen für die eigene Reproduktion oder gar das eigene Wachstum zu erwirtschaften.

Das neue Interesse an Kleinindustrie und informellem Sektor ist Folge des Scheiterns des Versuchs, wirtschaftliche Entwicklung ohne Umbau der Gesellschaften des Südens „kaufen“ zu wollen [6], nicht jedoch Folge eines neuen Wachstumsschubs in diesem Sektor. Die nur auf Investitionsausgaben setzenden Strategien importsubstituierender Industrialisierung haben schon vorher die Kleinindustrie und den informellen Sektor höchst widersprüchlich beeinflußt. Die mit „dutch disease“ bezeichnete Subventionierung von Importen von Ausrüstungsgütern durch hohe Wechselkurve, oft auch direkt durch finanzielle Zuwendungen aus den Renten, hat der großbetrieblichen, häufig staatlichen Produktion Wettbewerbsvorteile gegenüber der Kleinindustrie verschafft, die in Nischen und Informalität, nämlich rechtlich ungeschützte Räume, abgedrängt wurde. Die Ineffizienz der Großbetriebe, die Schaffung von Einkommen weit über den Nettoproduktionswert hinaus, hat Märkte für die kleinen Einheiten geschaffen, entweder als Anbieter von Lohngütem für die in Großbetrieben Beschäftigten oder als Zulieferer für die Großbetriebe. Staatliche Entwicklungspolitik hat die Kleinindustrie sowohl benachteiligt als auch oft unbeabsichtigt gefördert, dabei aber auch Anreizstrukturen geschaffen, die nicht notwendig eine Ausrichtung auf langfristiges Wachstum gewährleisten.

Die hier referierten Widersprüche belegen insgesamt, daß die Ausrichtung eines wachsenden kleinbetrieblichen/informellen Sektors nicht von seiner eigenen Dynamik, sondern vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld abhängt. Das langfristige Wachstumspotentials des informellen Sektors kann nur erschlossen werden, wenn in der betreffenden Wirtschaft außerhalb des informellen Sektors die Voraussetzungen für langfristiges Wachstum von seiten der Nachfrage entstehen. Der bloße Verzicht auf staatliche Förderung von Großbetrieben kann den informellen Sektor nicht von den Fesseln befreien, die ihn daran hindern, ein Motor für kontinuierliches marktgesteuertes kapitalistisches Wachstum zu sein.

Grenzen des Beitrags des kleinbetrieblichen Sektors für die Überwindung von Unterentwicklung

Grenzen für die Hoffnungen auf marktgesteuertes, dezentrales Wachstum eines kleinbetrieblichen Sektors ergeben sich aus den Kapitalismus behindernden Strukturen in unterentwickelten Wirtschaften. Kapitalistische Wirtschaften können von selten der effektiven Nachfrage nur funktionieren, wenn private, miteinander konkurrierende Unternehmer Nettoinvestitionen tätigen. Durch die Produktion von Ausrüstungsgütern entstehen Lohneinkommen, die den Verkauf der produzierten Konsumgüter über ihren Produktionskosten ermöglichen. Sie können von der Seite des Wettbewerbs nur bei im Verhältnis zum physischem Einsatz von Arbeit steigender Gesamtnachfrage funktionieren, weil nur solche Technologien wettbewerbsfähig sind, die die Stückkosten vermindern, also den Produktionsausstoß im Verhältnis zum Faktoreinsatz, also letztlich der Summe vergangener (Kapital) und gegenwärtiger Arbeit vermindern. Kapitalistische Wirtschaften setzen deshalb ein Niveau der technischen Entwicklung voraus, bei dem die Grenzproduktivität von Arbeit über dem Subsistenzniveau liegt, weil es sonst weder eine Steigerung der Arbeitseinkommen über den Markt noch die Durchsetzung steigender Arbeitseinkommen für die Masse der Erwerbsfähigen über gewerkschaftliche Kämpfe geben kann.

Unterentwicklung ist gerade durch das Fehlen dieser Bedingung charakterisiert. Die durchschnittliche Produktivität ist so niedrig, daß die Grenzproduktivität von Arbeit niedriger als die Subsistenzkosten von Arbeit ist. Es gibt einen Überschuß der Landwirtschaft, den sich die Eigentümer von Boden oder der Staat aneignen können, weil in einem Teil der Landwirtschaft Arbeit mehr produziert, als sie verbraucht. Bei wachsendem Arbeitseinsatz sinken die zusätzlichen Produktionszuwächse (der Grenzertrag), jenseits der Marginalitätsschwelle (Grenzertrag = Subsistenzkosten) gibt es Erwerbslose. Ein Teil dieser Erwerbslosen kann dann ernährt und beschäftigt werden, wenn diejenigen, die den Überschuß der Landwirtschaft aneignen, nichtlandwirtschaftliche Produkte nachfragen. [7]

Für positive Profitraten gilt die Bedingung von Nettoinvestionen und damit einer steigenden Gesamtnachfrage. Die Erfüllung dieser Bedingung ist durch einen überproportionalen Anstieg der Investitionsausgaben nur zeitlich begrenzt möglich, weil ein überproportionaler Anstieg der Investitionen mit einem steigenden durchschnittlichen Kapitalkoeffizienten und damit einer sinkenden durchschnittlichen Kapitalproduktivität einhergehen muß. [8] Die Bedingung einer wachsenden Gesamtnachfrage können die Reichen mit steigenden Konsumausgaben auch nur vorübergehend erfüllen, weil dauerhaft sich immer weiter von den Durchschnittseinkommen entfernende Einkommen der Reichen, insbesondere wenn sie nur zu Konsum ausgegeben werden, nur möglich sind, wenn die Konkurrenz ausgeschaltet wird. [9] Führt weder die Nachfrage kapitalistischer Unternehmer noch die Nachfrage nichtkapitalistischer Privilegierter (nach Konsum- und Investitionsgütern) zur Absorption der in der Landwirtschaft Marginalen, das heißt zu Vollbeschäftigung, können die Arbeitseinkommen durchschnittlich qualifizierter Erwerbstätiger (ob als Selbständige oder als Arbeitnehmer) nicht steigen, weil Arbeit nicht knapp wird. Die Struktur der sich ergebenden Nachfrage läßt eine Vielzahl von Ausrichtungen des informellen Sektors zu: Er kann auf die Nachfrage der Reichen ausgerichtet sein, aber auch auf die Nachfrage der Armen oder gar Vorprodukte für den großbetrieblichen Sektor liefern. Ob er akkumuliert, hängt von den technischen Anforderungen an die Güter ab, die jeweils nachgefragt werden. Handelt es sich um eng begrenzte Märkte, kann der informelle Sektor sich auf einen durch harten Kampf um für Wachstum irrelevante Dienstleistungen beschränken. Hohe Konkurrenz ohne weitere Innovation ist möglich, wenn die Märkte nicht expandieren und für zusätzliche Produktionskapazitäten kein gesellschaftlicher Bedarf vorhanden ist, wobei insgesamt niedrige Technologie und Orientierung an einem je nach gesellschaftlichen Voraussetzungen stagnierenden oder expandierenden Massenkonsum möglich sind. Der Streit über die Ausrichtung des kleinbetrieblichen/informellen Sektors spiegelt unterschiedliche Umfelder wider und ist nicht aus Eigenschaften der in diesem Sektor tätigen Unternehmer (z. B. ihrer technischen Fähigkeiten) zu erklären. Ein auf Luxuskonsum ausgerichteter informeller Sektor kann durch die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt niederkonkurriert werden. Geben die Reichen den von ihnen kontrollierten Überschuß nicht mehr für Dienstleistungen und handwerkliche Arbeiten im Lande aus, sondern exportieren diesen Überschuß, so fallen Arbeitsplätze ohne weiteren Ersatz weg. Die bis dahin außerhalb der Landwirtschaft tätigen Arbeitskräfte, die aus dem landwirtschaftlichen Überschuß ernährt wurden, produzieren nicht mehr Güter, die nachgefragt werden. Je niedriger die Importneigung der Reichen, desto höher wiederum die Beschäftigung in der lokalen nichtlandwirtschaftlichen Produktion. Dies erklärt wiederum das Wachstum des informellen Sektors im Fall hoher Einkommen „traditionell“ orientierter Reicher. [10] Insgesamt kann die Beschäftigung aber ohne Nahrungsmittelimporte nicht über die Zahl derer steigen, die noch aus dem Überschuß der Landwirtschaft ernährt werden können. Daraus folgt, daß der informelle Sektor dann wachsen würde, wenn Reiche mit geringer Importneigung zusätzliche Einkommenssteigerungen erzielten. Solche Einkommenssteigerungen sind möglich durch den Export von Rohstoffen und Nichtnahrungsmitteln agrarischen Ursprungs (tropische Getränke wie Kaffee oder agrarische Rohstoffe für die Industrie) zu höheren Preisen als den Gestehungskosten oder durch Transferzahlungen wie Wirtschaftshilfe oder Kredite, die dann aber nicht zurückgezahlt werden. Aber auch eine Grüne Revolution, bei der der Überschuß der Landwirtschaft, nicht aber die landwirtschaftliche Beschäftigung (keine Erhöhung der Marginalitätsschwelle) steigt, würde zu zusätzlicher Beschäftigung im informellen Sektor fuhren.

Selbst wenn zunächst nur der Luxuskonsum angeregt wird, führt er, sofern er durch lokale Produktion befriedigt wird, auch zu stärkerem Massenkonsum, weil die im informellen Sektor Beschäftigten zusätzlich Nachfrage nach agrarischen und gewerblichen Produkten äußern.

Es ist also durchaus denkbar, daß der kleinbetriebliche Sektor eng mit den Renten verflochten ist, die sich die Privilegierten durch Ausbeutung der Landwirtschaft und die Außenwirtschaft aneignen. Dieser Teil des informellen Sektors kann durchaus innovativ sein. Die Nachfrage der Reichen nach Reparaturleistungen für Automobile hat in manchen Ländern im informellen Sektor wahre Maschinenbauer entstehen lassen, die Ersatzteile für Autos mit der Präzision von Maschinenteilen herstellen und deshalb durchaus in der Lage wären, Standardwerkzeugmaschinen wie Drehbänke etc. zu produzieren, wenn es dafür Märkte gäbe. [11]

Gegenüber einer Befriedigung der Luxusbedürfnisse der Reichen durch den großbetrieblichen Sektor oder Importe hat deren Befriedigung durch den informellen Sektor den Vorteil, daß im Regelfall die Importquote geringer und damit die Gesamtproduktion mit einer gegebenen Menge an Devisen höher sein kann. Solange allerdings dieser informelle Sektor, häufig Kunstgewerbe und Dienstleistungen, nicht auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig anbieten kann und die technische Schranke der niedrigen Produktivität in der Landwirtschaft beseitigt, bleibt sein Wachstum durch den Umfang der Rente begrenzt.

In einem solchen auf Luxuskonsum orientierten Modell sind stets Teile des informellen Sektors auf Massenkonsum ausgerichtet, vor allem weil die in der Landwirtschaft Erwerbstätigen nie nur Nahrungsmittel konsumieren. Die Absatzmärkte sind für einen solchen Sektor durch die Marginalitätsschwelle nachhaltig begrenzt, auch wenn Wachstum der Beschäftigung durch Renten zu einer gewissen Erweiterung führt. Produktivitätssteigerungen sind auch in einem solchen informellen Sektor möglich, wie die generalisierte Anwendung von Nähmaschinen in der Bekleidungsindustrie zeigen. Gleiches gilt für die Herstellung von Baustoffen, zum Beispiel Ziegel, und vielem mehr.

Die damit erreichbare Senkung der Subsistenzkosten erhöht die Marginalitätsschwelle, weil nun die Kosten von Arbeit in der Landwirtschaft sinken, so daß für eine größere Zahl von Erwerbstätigen in der Landwirtschaft der Grenzertrag über den nun niedrigeren Subsistenzkosten liegt. Realisiert wird dies über eine Verbesserung der terms of trade für Nahrungsmittel gegenüber einfachen gewerblichen Produkten, wie dies die Strukturanpassungsprogramme in Afrika anstreben. Gleichzeitig sinkt der Arbeitsaufwand, den der informelle Sektor für die Befriedigung der Bedürfnisse pro Kopf der landwirtschaftlich Beschäftigten einsetzen muß. Die Summe der Beschäftigung in der Landwirtschaft und im für Massenkonsum arbeitenden Teil des informellen Sektors steigt; ob auch die Beschäftigung in diesem Teil des informellen Sektors steigt, hängt von der Lage der Marginalitätsschwelle und der für ihre Erhöhung notwendigen Kosteneinsparungen in für Massenkonsum arbeitenden kleinbetrieblichen Einheiten ab.

Der informelle Sektor kann also durch eigene Produktivitätssteigerungen nur einen begrenzten Beitrag zur Schaffung des eigenen Massenmarkts leisten, weil er die in der landwirtschaftlichen Technologie und der Ausstattung mit Böden liegenden Hindernisse nicht beseitigen kann. Für seine Entwicklung muß er außerdem sinkende terms of trade mit der Landwirtschaft hinnehmen. Sinkende terms of trade zwischen Industrie und Landwirtschaft scheinen ein wichtiger Indikator für die Ausrichtung der gewerblichen Produktion beim Übergang zum Kapitalismus an Massenbedürfnissen zu sein. [13]

Die Begrenzungen für das Wachstum des informellen Sektors können nur dann durchbrochen werden, wenn es gelingt, die Renteneinnahmen zu steigern, Produkte des informellen Sektors auf dem Weltmarkt zu verkaufen, den Überschuß der Landwirtschaft zu erhöhen oder die Marginalitätsschwelle in der Landwirtschaft anzuheben. Die zweite, dritte und vierte Bedingung sind nahezu identisch, während die erste Bedingung aus weltwirtschaftlichen Gründen schwer zu verwirklichen ist und außerdem im Fall des Erfolgs zu neuen Formen der Behinderung des Wachstums des informellen Sektors führt, auch wenn damit durchaus Wachstum des informellen Sektors einhergehen kann.

Grenzen für Wirtschaftswachstum durch Förderung des kleinbetrieblichen Sektors

Aus den Bedingungen für die Aneignung und Kanalisierung von Renten, nämlich einer Zentralisierung der Aneignung von Überschuß insbesondere im Fall von im Export angeeigneten Renten sowie einer nur administrativ realisierbaren Kanalisierung der so angeeigneten Mittel in Produktionszweige, in denen die einzelbetriebliche Profitrate niedriger ist als in den Renten generierenden Sektoren, folgt, daß ein Wachstum des informellen/kleinbetrieblichen Sektors über die Erhöhung der Renten mit der Stärkung des Staates und von ihm abhängiger nicht durch Märkte kontrollierter Strukturen, wie Staatsbetrieben, politischen Organisationen, Fördermittel verteilenden Instanzen etc., einhergehen muß. Selbst wenn die hier begünstigten Staatsklassen sich am Ziel der Überwindung von Unterentwicklung orientierten, liegen in den ihnen zugänglichen Instrumenten zur Förderung des informellen Sektors Gefahren für die Aufrechterhaltung von Konkurrenz. Sie gehen von den Verhaltensmustern der Staatsklassen und den Reaktionen der Unternehmer des informellen Sektors aus. Die Staatsklassen verfügen durch Aneignung von Renten über Geld, mit dem sie Investitionen fördern können. Selbst wenn man sie überzeugen könnte, daß für Wirtschaftswachstum die Struktur der Nachfrage wichtiger als Investitionen ist, weil eine dauerhafte Erhöhung der Nachfrage nach Massenkonsumgütern auch zur Finanzierbarkeit der notwendigen Investitionen führt, gilt für jedes Einzelprojekt, daß sogar die hundertprozentige Übernahme der Investitionen billiger als eine aus Staatseinnahmen finanzierte Erhöhung der Haushaltseinkommen ist, die eine solche Investition rentabel machen würden. Staatliche Politik der Wirtschaftsförderung kann zu akzeptablen Kosten für den Staatshaushalt nur in der Form der Investitionsförderung und der Marktreservierung greifen, auch wenn sich im Ergebnis massenhafter Investitionsförderung durchaus auch von der abgeleiteten Nachfrage her Wachstumsimpulse ausgehen.

Staatliche Förderung zugunsten von Investitionen, die ohne solche Mittel nicht rentabel wären, müssen kurzfristig zu volkswirtschaftlichen Verlusten führen. Sind die Profitraten in den von staatlicher Wirtschaftsförderung bedachten Sektoren niedrig, wäre selbst die Anlage von Kapital auf internationalen Kapitalmärkten einträglicher. Staatliche Förderung ist also nur zu rechtfertigen, wenn neben den im jeweiligen Projekt hergestellten Produkten zusätzliche, in den Verkäufen nicht enthaltene und damit am Markt nicht bewertete, aber in der Zukunft für weiteres Wirtschaftswachstum wichtige Effekte erzeugt werden, vor allem die Verbesserung der Kenntnisse und Fähigkeiten der Arbeiter, durch „learning by doing“.

Welche Qualifikationen für zukünftige Produktivitätssteigerungen wichtig sind, ist schwer vorab festzustellen oder gar als Investition zu bewerten. Die Auseinandersetzung um konkurrierende Projekte läßt sich nicht auf der Grundlage überprüfbarer Daten führen, sondern hängt von Interpretationen ab, über die sich nur auf dem Weg von Verhandlungen Einvernehmen erzielen läßt. Staatliche Pläne der Wirtschaftsförderung können deshalb nur Ergebnisse von Verhandlungen sein. Angesichts der bei hohen Renten zu erwartenden Dominanz von Staatsklassen erfolgen solche Verhandlungen zwischen Segmenten von Staatsklassen, deren typische Muster ich an anderer Stelle beschriebe habe. [14]

Unterstellt, daß Planung und Projektauswahl an Masseninteressen orientiert sind, gilt weiter für den einzelnen Projektträger, daß er mit einem Minimum von Mitteln ein Maximum externer Effekte erreichen muß. Da die externen Effekte von produktiver Tätigkeit der Arbeitskräfte erwartet werden, kann kein Planer unausgelastete Unternehmen akzeptieren. Während ein einzelner Unternehmer in der Hoffnung auf Gewinn in eine Produktionsstätte investieren kann, die anderen Betrieben Konkurrenz macht, weil er glauben mag, er böte ein besseres Produkt und/oder billiger an, macht die Förderung eines solchen „zusätzlichen“ Unternehmens für eine staatliche Förderungsinstanz wenig Sinn, weil sie mit eigenen Mitteln die Qualifizierung von Arbeit in einem vielleicht nur geringfügig weniger wettbewerbsfähigen Unternehmen vernichten würde. Staatliche Förderungsprogramme werden immer an staatliche Einschätzungen der Nachfrage gebunden sein und die Bildung von Überkapazitäten nicht unterstützen. Sie betreiben damit eine Rationierung der Zugangschancen zum Markt. Es ist meist wenig wahrscheinlich, daß nicht geförderte Unternehmen aufgrund technischer Überlegenheit geförderte

Unternehmen preislich unterbieten können. Staatliche Förderung einzelner Unternehmen des informellen Sektors verschafft geförderten Unternehmen monopolistische Wettbewerbsvorteile mit der Folge, daß sie auf Innovationen verzichten.

Die mit solchen staatlichen Unterstützungen bedachten Unternehmen stehen ähnlich wie der Staat vor dem Problem, daß die einzelbetriebliche Rentabilität ohne staatliche Förderung geringer ist, als Rendite, die bei anderer Verwendung des einzusetzenden Kapitals erzielt werden können. Gerade Klein- und Mittelunternehmer investieren nicht in Kapazitätserweiterungen. Ist der Staat bereit, die Investitionen des betreffenden Unternehmens durch Zuschüsse zu finanzieren, kommt es mit zunehmender Dauer der Förderung zu finanziellen „Schwierigkeiten“ des Unternehmens, das plötzlich immer weniger Gewinn abwirft: Die Unternehmer ziehen es vor, die Gewinne aus ihren Betrieben abzuziehen und in Immobilien etc. zu investieren und dem Staat die risikoreicheren Investitionen in ihren eigenen Kleinbetrieben zu überlassen, zumindest aber keine Gewinne auszuweisen, aus denen sie Fördermittel zurückzahlen müßten. [15]

Die staatlichen Instrumente der Wirtschaftsförderung sind ungeeignet für den informellen Sektor. [16] Andere Instrumente wie Kredite von Banken zu Vorzugszinsen erscheinen nur dann vorteilhafter, wenn der Zuwender, zum Beispiel eine private Bank, eigene Verluste bei ausbeuterischem Verhalten des Zuwendungsempfängers glaubhafter als eine staatliche Instanz machen und sich dann auch durchsetzen kann.

Förderungsmaßnahmen, die auf das ökonomische Umfeld der kleinen Einheiten zielen, können deren Kosten vermindern, ohne zu Wettbewerbsverzerrungen zu führen. Dazu gehören Infrastrukturverbesserungen und überbetriebliche Ausbildung. Sie sind aber nur dann wirklich erfolgreich, wenn sie die Produktionskosten gegenüber Konkurrenten außerhalb des Landes senken, also den Zugang zu breiten, bisher unerschlossenen Märkten ermöglichen. Da die Kleinbetriebe im Inland von der Kostenseite im allgemeinen nur mit ähnlich strukturierten Kleinbetrieben in Konkurrenz stehen und damit der Umfang der Inlandsmärkte nur von der allgemeinen Einkommensentwicklung, aber nur begrenzt von der Kostenentwicklung abhängt, ist die Erschließung neuer Märkte und damit auch eine Förderung des informellen Sektors durch Verbilligung von Vorprodukten und Produktionsfaktoren nur im Zusammenhang mit der Gewinnung internationaler Wettbewerbsfähigkeit sinnvoll.

Gerade bei technisch wenig anspruchsvollen Produkten, insbesondere wenn diese von großen Unternehmen als Vorprodukte gekauft werden, sind die Preise entscheidend. Oligopsone, d. h. Unternehmen mit großer Nachfragemacht, können mit für sie relativ geringen Kosten die Einhaltung von Qualitätsstandards auch gegenüber einem wenig organisierten informellen Sektor durchsetzen. Dabei leisten sie sogar einen Beitrag zur Verbesserung der technischen Fertigkeiten ihrer Lieferanten.

Für die Bestimmung des Weltmarktpreises der Produkte des informellen Sektors sind die realen Löhne der Arbeiter weit weniger bedeutsam als der Wechselkurs. Er spiegelt in Wirtschaften, die auf eine geringe Palette von Produkten spezialisiert sind, nicht den durchschnittlichen Produktivitätsstand dieser Wirtschaften gegenüber den technologisch führenden Wirtschaften wider, sondern ein Gleichgewicht auf den Devisenmärkten, das sich aufgrund der Erlöse in den hochproduktiven Exportsektoren und dem Importverhalten ergibt. Eine Abwertung ist zwar dann unumgänglich, wenn beim geltenden Wechselkurs die lokalen und internationalen Leistungen bei der Produktion von Exportprodukten nicht mehr abgedeckt sind. Wenn der Produktivitätsrückstand bei den Exportsektoren gegenüber den technisch führenden Ländern sehr viel kleiner ist als der durchschnittliche, dann kann dieser Gleichgewichtswechselkurs jede Diversifizierung behindern, weil er für alle weniger produktiven Sektoren zu hoch ist.

Für die Erschließung des Weltmarkts zur Förderung des Wachstums des informellen Sektors ist deshalb ein angemessen niedriger Wechselkurs entscheidend. Er bedeutet einen niedrigen internationalen Preis von lokaler Arbeit und erscheint damit als „Ausbeutung“, nämlich Versorgung der Industrieländer mit Gütern, die mit billigen Arbeitskräften produziert wurden. Eine solche „Ausbeutung“ ist hinzunehmen, wenn man mit Hilfe der Schaffung von Arbeitsplätzen im informellen Sektor die Absorption der in der Landwirtschaft marginalen Arbeitskräfte erreichen will und sich von der Vollbeschäftigung die Bildung von Massenmärkten erwartet, die die weitere Diversifizierung der Wirtschaft bis hin zur Produktion von Investitionsgütern für Exporte und die Lohngüterproduktion erwartet. Eine solche Ausbeutung trifft im übrigen die Armen relativ wenig, weil sie selten überhaupt Importprodukte konsumieren können, sondern die „Eliten“, die bisher Zugang zu Devisen hatten.

Für die Strategie der Förderung des informellen Sektors durch Abwertungen gibt es zwei unterschiedliche Situationen, nämlich Wirtschaften, deren Landwirtschaft Selbstversorgung beim wichtigsten Lohngut, den Nahrungsmitteln, nicht erlaubt, und solche, wo lokal ausreichend Lebensmittel produziert werden. Die übrigen Komponenten der Nachfrage armer Haushalte, nämlich Behausung, Kleidung, einfache Möbel und Kochausrüstungen sowie Transporte werden im Fall der armen Haushalte überwiegend lokal produziert. Eine Wirtschaft, in der die Nahrungsmittel lokal in ausreichendem Umfang produziert werden, kann abwerten und den internationalen Preis ihrer Arbeit senken, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Denkbar ist, daß dabei der internationale Preis der lokal produzierten Nahrungsmittel unter den Weltmarktpreis fällt und der Absenkung des Wechselkurses ein wachsender Nahrungsmittelexport bei dennoch fortbestehender Marginalität in der Landwirtschaft entgegenwirkt. Seit

den frühneuzeitlichen Getreideexportzöllen Englands kann man die industrielle Exportdiversifizierung in solchen Fällen durch Exportrestriktionen bei Nahrungsmitteln absichern. Bei vollständiger Selbstversorgung läßt sich die Beschäftigungssteigerung selbst dann durch Abwertung weiterfuhren, wenn der Grenzerlös der Exporte negativ wird. Das Volkseinkommen würde sinken, wäre aber gleichmäßiger verteilt. Bei Teilversorgung der Exportarbeiter aus dem Überschuß der lokalen Landwirtschaft müssen die zusätzlichen Exporterlöse positiv und die gesamten Exporterlöse nach Abzug der vom Weltmarkt bezogenen Vorleistungen ausreichend sein, um zusammen mit dem verfügbaren Überschuß den Nahrungsmittelbedarf der Exportarbeiter und der für die Befriedigung von Massenkonsum Erwerbstätigen abzudecken. Eine Wirtschaft, die wegen einer unproduktiven Landwirtschaft die Exportarbeiter nicht mit Nahrungsmitteln aus eigener Produktion ernähren kann, kann nur soweit abwerten, bis der Korb an Subsistenzgütern, die von ihren Exportarbeitern konsumiert werden, nicht teurer wird als die auf diese Arbeiter entfallenden Erlöse (jeweils in internationaler Währung). Die Schaffung von Arbeitsplätzen im informellen Sektor über vermehrte Exporte ist deshalb im Regelfall abhängig von der Leistungsfähigkeit der einheimischen Landwirtschaft.

Die Grenze für ein Wachstum des informellen Sektors über Exporte liegt im selben Bereich wie für das Wachstum des informellen Sektors über die interne Massennachfrage, nämlich in der Produktivität der Landwirtchaft. [17] Wenn über eine hohe Marginalitätsschwelle in der Landwirtschaft, d. h. eine niedrige strukturellen Arbeitslosigkeit, die Nachfrage nach Produkten des informellen Sektors rasch zur Vollbeschäftigung führen würde, käme es zu der im Washingtoner Konsensus erwarteten kapitalistischen Entwicklung über Wachstum eines von bürokratischen Fesseln befreiten kleinbetrieblichen/informellen Sektors. Gelingt wenigstens die Erzielung eines Selbstversorgung erlaubenden Überschusses der Landwirtschaft, kann Vollbeschäftigung immer noch erreicht werden. Bei „Entwicklung“ nach innen kann diese allerdings nur entstehen, wenn Instanzen der Nichtmarktökonomie, z. B. der Staat oder auch NROs, sich diesen Überschuß aneignen und Beschäftigung in Bereichen schaffen, die derzeit noch nicht auf Rentabilität sichernde Nachfrage stoßen. Hier bieten sich Investitionsprogramme an, deren Realisierung aber meist auf das Problem stößt, daß importierte Technologie billiger als lokale Ausrüstungsgüter sind (wieder Wechselkursproblem). Eine auf Minimierung der Output/Kosten-Relation bedachte Verwaltung entwickelt dann eine hohe Importneigung und diskriminiert damit den informellen Sektor wieder aus betriebswirtschaftlichen Gründen. Staatliche Investitionsprogramme führen allerdings notwendig zu den Ineffizienzen, die in der Kritik der Staatsklassen beschrieben sind. NROs sind deshalb so modisch geworden, weil sie besser Mittel für die Erhöhung des Basiskonsums der Armen verteilen, nicht aber weil sie effizienter Mittel produktiv investieren. [18]

Überschuß der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Abwertung erlaubt Vollbeschäftigung über die Exporte. Während im Fall einer nach innen gerichteten Strategie die Staatsklasse durch eine entsprechende Einkommenspolitik, zu der sie politisch aber selten in der Lage ist, die Orientierung der Nachfrage an den geringen technischen Fertigkeiten des informellen Sektors sichern könnte und durch Isolierung von Technologieimporten über den dann nur auf den inneren Markt beschränkten Konkurrenzmechanismus lokale technische Innovation begünstigen könnte – allerdings mit unsicheren Ergebnissen -, kann die Subventionierung der Exportarbeiter durch nach Abwertung billige, vom Export ausgeschlossene Nahrungsmittel Vollbeschäftigung ohne großen bürokratischen Aufwand erlauben. Allerdings zeigen die Beispiele Koreas, Taiwans und Singapurs, daß auch in diesen Fällen die Diversifizierung durch staatliche Eingriffe erleichtert werden kann, zum Beispiel, indem der Staat Exportsektoren mit zunehmend preisinelastischer Nachfrage finanzielle Lasten, zum Beispiel Exportsteuern oder höhere Inputkosten in der Folge von Importverboten für Vorleistungen, aufbürdet, aus denen er die Kosten der Steigerung der Produktivität in technologisch anspruchsvolleren Sektoren subventioniert, um auch sie auf dem Weltmarkt allerdings bei in diesem Fall geringeren zusätzlichen Abwertungen wettbewerbsfähig zu machen. [19]

Der informelle Sektor ist nicht ein Vehikel, mit dem ohne weitere Stützung von seilen der Nichtmarktökonomie kapitalistisches Wachstum erreicht werden kann, wie seine Befürworter in der Nachfolge Hernan-do de Sotos [20] glauben. Seine Heterogenität und seine Behinderung sind Folge der für Unterentwicklung charakteristischen Koexistenz von Rente und Marginalität. Es gibt viele Gründe, in einer Kanalisierung der Rente in die Großbetriebe einen wenig versprechenden Weg für die Überwindung von Marginalität zu sehen, weil diese Großbetriebe vor allem aus gesellschaftlichen Gründen bei der Assimilation von Technologie wenig effizient sind und unter dem Vorwand investiver Leistungen die ihnen zugeteilten Mittel eher für den Konsum privilegierter Minderheiten vergeuden. Der Umkehrschluß, daß die Beseitigung der Subventionierung der Großbetriebe und die Befreiung des informellen Sektors aus bürokratischen Fesseln zu marktorientiertem Wachstum führen wird, ist deshalb noch nicht zulässig.

Die Kontroverse über den informellen Sektor wird auch deshalb geführt, weil ein Teil des informellen Sektors in der Folge einer solchen Liberalisierung durchaus Wachstumskräfte entfaltet und zu steigender Versorgung armer Haushalte mit Gütern des täglichen Bedarfs beiträgt. Dies zu leugnen wäre absurd, weil die Gängelung der Wirtschaft durch die Staatsklassen keineswegs nur der Förderung technischer Innovation diente. Dies allerdings zu generalisieren ist wiederum auch falsch, weil nicht die Antriebskräfte im informellen Sektor, sondern die Überwindung von Marginalität oder wenigstens die Erhöhung des Überschusses der Landwirtschaft entscheidend für die Überwindung von Unterentwicklung wären. Sowohl im Fall einer auf den Binnenmarkt orientierten Entwicklung als auch im Fall der Exportorientierung ist zur Entfaltung der Wachstumsdynamik des informellen Sektors die Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft nötig. Im Fall einer auf den Binnenmarkt orientierten Entwicklung ist dazu die Erhöhung der Grenzproduktivität in der Landwirtschaft notwendig, wenn diese Strategie nicht von einer selten anzutreffenden selbstlosen Staatsklasse gesteuert wird. Die Exportorientierung reduziert die Rolle des Staates, weil der Überschuß der Landwirtschaft allein über die Wechselkurspolitik von den Arbeitern, deren Beschäftigung hier im Exportsektor angestrebt wird, gekauft werden kann. Die Kanalisierung der Rente ist in diesem Fall einfacher, weil an starke Automatismen gebunden, doch bleibt die Rente und damit die Aufgabe ihrer intelligenten Verwendung. Akzeptiert man diese Grenzen des Beitrags einer „Entfesselung“ des informellen Sektors für den Übergang zu kapitalistischem Wachstum, können die an Massenkonsum orientierten Teile des informellen Sektors, aber auch am Luxuskonsum orientierte Teile einen Beitrag für die Effektivierung des Einsatzes knapper Mittel durch Suche nach lokalen technischen Lösungen leisten, die sie trotz geringerer technischer Fertigkeiten wegen eines relativ teureren Zugangs zu importierter Technologie eher finden als der großbetriebliche Sektor.

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* geb. 1941, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte, Dr. phil., Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig

Fußnoten:

[1] Der informelle Sektor ist schwer abzugrenzen und zu definieren, wobei seine Grenzen je nach rechtlichen Bestimmungen in einzelnen Ländern unterschiedlich sind. Ich schlage als Definition vor: Die Klein- und Kleinstunternehmen, die trotz Fehlens staatlicher Stützung in Wirtschaften mit hohem Staatsinterventionismus überleben, weil es für sie einen Markt gibt. Diese Definition hebt ab auf den Umstand der fehlenden staatlichen Privilegierung bzw. die Benachteiligung durch Staatsinterventionismus.

[2] Felix, David: „Monetarists, Structuralists and Import Substituting Industrialization. A Critical Appraisal“, in: Studies in Comparative International Development, l, 10 (Oktober 1965); S. 144. Piret, Baudouin: „L’impact d’un programme d’industrialisation sur l’economie de PAfrique associee au Marche Commun“, in: Cultures et developpement, 3, 4 (1971); S. 749.1991); S. 401.

[3 ]Unter vielen: Leightner, Jonathan Edward: „The Compatibility of Growth and Increased Eqüality: Korea“, in: Journal of Development Studies, 28 (Oktober 1992); S. 68. Cheema, Aftab Ahmad/ Malik, Muhammad Hussain: „Consumption and Employment Effects of Income Redistribution in Pakistan“, in: Pakistan Development Review, 23 (1984); S. 352. Furtado, Celso/ Sousa, Alfredo de: „Los perfiles de la demanda y de la inversiön“, in: El Trimestre Economico, 37, 147 (Juli-September 1970); S. 478.

[4] Davis, Harlan L.: „Appropriate Technology: An Explanation and Interpretation of its Role in Latin America“, in: Interamerican Economic Affairs, 32, l (1978); S. 53.

[5] Young, Alwyn: „Learning By Doing and the External Effects of International Trade“, in: Quarterly Journal of Economics, 106,2 (Mai 1991); S. 401.

[6] Vgl. folgende schöne Feststellung: Easier than building an organization and creating its labour force is buying sturdy mindless pre-coordinated machine, at best self-heating Instrumentation.“, Strassmann, W. Paul: Technological Change and Economic Development The Manufacturing Experience of Mexico and Puerto Rico (Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1968); 354 S.

[7] Zu der hier vorgetragenen Analyse von Unterentwicklung: Elsenhans, Hartmut: „Rent, State and the Market: The Political Economy of the Transition to Self-sustained Capitalism“, in: Pakistan Development Review, 33,4 (Dezember 1994); S. 393-428. Elsenhans, Hartmut: „Structural Adjustment Requires More than Only More Market Regulations, as Capitalist Market-regulated Economies Require Local Technology Production and Expanding Mass Markets“, in: Jain, Randhir B./ Bongartz, Heinz (Hrsg.): Structural Adjustment, Public Policy and Bureaucracy in Developing Societies (New Delhi: Har-Anand, 1994); S. 56-89. Elsenhans, Hartmut: „Die Rente und der Übergang zum Kapitalismus. Grundfragen der politischen Ökonomie von Unterentwicklung“, in: Journal für Entwicklungspolitik, 8, 2 (1992); S. 111-134.

[8] Elsenhans, Hartmut: „Überwindung von Marginalität als Gegenstand der Armutsbekämpfung“, in: Schäfer, Hans Bernd (Hrsg.): Bevölkerungsdynamik und Grundbedürfnisse in Entwicklungsländern. Schriften des Vereins für Sozialpolitik 246 (Berlin: Duncker & Humblot, 1995); S. 201-204.

[9] Dies und nicht etwa fehlende Geldscheine ist die Ursache der Beschränkung von Akkumulation nach Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (Berlin: Vereinigung internationaler Verlagsanstalten, 1923); S. 88.

[10] Dazu Felix, David: „Import Substitution and Late Industrialization: Latin America and Asia Compared“, in: World Development, 17,9 (September 1989); besonders S. 1466.

[11] Selbst in Teilen Afrikas: Bennell, Paul: „Engineering Skills and Development: The Manufacturing Sector in Kenya“, in: Development and Change, 17, 3 (April-Juli 1986); S. 303-324.

[12] House, William J.: „Redistribution, Consumer Demand and Employment in Kenyan Furniture Making“, in: Journal of Development Studies, 17, 4 (Juli 1981); S. 347.

[13] O’Brien, Patrick: „Agriculture and the Home Market for English Industry“, in: English Historical Review, 100, 397 (Oktober 1985); S. 776.

[14] Elsenhans, Hartmut: „Politökonomische Restriktionen und Grundlagen für die Reform des Managements in der Entwicklungsverwaltung.“, in: Hofmann, Michael/ AI Ani, Ayad (Hrsg.): Neue Entwicklungen im Management (Wien: Physica Verlag, 1994); S. 175-185.

[15] Bauer, Armin: Armutsbekämpfung als Fortschreibung der Unterentwicklung. Eine Typologisierung von Armenprogrammen in Indien (Konstanz: Dissertation, 1990); S. 44-45.

[16] Assuncao, Pedro/ Fuhr, Harald/ Späth, Brigitte: Internationale Organisationen, Entwicklungsverwaltungen und Kleingewerbeförderung in der Dritten Welt (Baden-Baden: Nomos, 1993); u. a. S. 286-291.

[17] Eine produktive Landwirtschaft als Voraussetzung für das Wachstum des kleinbetrieblichen Sektors zeigt: Adelman, Irma: „Beyond Export Growth“, in: World Development, 12,9 (September 1984); S. 937-949.

[18] Dazu Elsenhans, Hartmut: Non-governmental Organizations, Marginality and Underdevelopment, and the Political Economy of Civic Society, in: Indian Journal of Public Administration, 41,2 (April/Juni 1995); S. 149-157.

[19] Morkre, Morris E.: „Rent-Seeking and Hongkong’s Textile Quota System“, in: Developing Economies, 17, l (März 1979); S. 110-118.

[20] Soto, Hernando de: El otro sendero: La revolución informal (Lima: Editorial Ausonia, 1986); 317 S.

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