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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Lumpenproletarier oder Kleinbürger?

Eike Otto | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Informeller Sektor und politisches Verhalten

Je nach Definition werden für den lateinamerikanischen Raum bis zu 50 % der ökonomisch aktiven Bevölkerung dem informellen Sektor zugeschrieben. Das macht natürlich die Frage interessant, wie im informellen Sektor Tätige sich politisch artikulieren, sei es nun in Wahlen, Selbsthilfeorganisationen etc.

Erstaunlicherweise gibt es zu diesem Thema nur sehr wenig Literatur und im deutschsprachigen Raum schon gar nicht. Das erstaunt um so mehr, wenn man sich demgegenüber die Unmenge an Literatur zur ökonomischen Dimension des informellen Sektors vor Augen führt. Selbst in einem Buch, welches die Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika zum Gegenstand und dem informellen Sektor ein ganzes Kapitel gewidmet hat, wird dieser nur ökonomisch beschrieben. Da stellt sich natürlich die Frage, warum ist das so?

Ein erster Erklärunggrund liegt in der Entstehungsgeschichte des Begriffs „Informeller Sektor“ selbst begründet.

Informeller Sektor als ökonomisches Phänomen

Anfang der 70er Jahre wurde der Begriff erstmals von Keim Hart verwendet, der Einkunftsmöglichkeiten in Ghana untersuchte und dabei eine Unterscheidung in formelle und informelle Einkommensmöglichkeiten vornahm. Wenig später folgte eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Auch hier wurde der informelle Sektor vor allem auf Grund seiner Beschäftigungseffekte untersucht.

Man glaubte recht bald, daß eine ökonomische Förderung dieses Sektors einen Ausweg aus dem Kreislauf von Marginalität und Armut mit sich bringen würde. Als dann de Soto in seinem Buch „El otro sendero“, den informellen Sektor als den sich eigentlich marktwirtschaftlich verhaltenden Bereich innerhalb der lateinamerikanischen Volkswirtschaften beschrieb, war das Interesse der Theoretiker fast vollständig auf die ökonomische Dimension dieses Sektors gelenkt. Diesen Ansatz machten sich im wesentlichen auch Anfang der 80er Jahre Weltbank und andere UN-Organisationen zu eigen. Eine Vielzahl von Förderprogrammen für kleinere und mittlere Unternehmen in Entwicklungsländern belegen dies.

Das alles soll nun nicht bedeuten, daß es sich beim informellen Sektor nicht in erster Linie um ein ökonomisches Phänomen handeln würde.

Allerdings sollte sich, zumindest marxistisch betrachtet, über jeder ökonomische Basis ein politischer Überbau tummeln. Damit stellt sich erneut die Frage, warum bisher kaum jemand (noch nicht einmal die Marxisten) nach diesem Überbau gesucht hat.

Eine Erklärungsmöglichkeit hierfür ergibt sich auf Grund der starken Heterogenität dieses Sektors. Informalität erstreckt sich vom kleinen Straßenhändler, über informelle Reparatur- und Dienstleistungsbetriebe bis hin zu Textilproduzenten im Norden von Mexiko, die bewußt die Informalität suchen*. So ist klar: Je heterogener der zu untersuchende Gegenstand ist, desto schwieriger – bis hin zur Unmöglichkeit – ist das Finden von Gemeinsamkeiten.

Aber wie artikulieren sich innerhalb des informellen Sektors die Menschen, die ihm sein Gepräge geben, die kleinen Straßenhändler, die Schuhputzer, die Beschäftigten in den kleinen Garküchen, in den Autoreparaturwerkstätten etc.?

Informeller Sektor und politische Stabilität

Aus der Entstehung und Struktur des informellen Sektors läßt sich ableiten, daß absolute Priorität für das politische Verhalten die Absicherung der eigenen Subsistenz hat. Bereits kleinere politische Unruhen könnten die ökonomische Existenz von informellen Kleinbetrieben oder sogar von Händlern ernsthaft gefährden. Finanzielle Reserven für Arbeitsausfälle oder ähnliche unvorhergesehene Dinge sind in der Regel nicht vorhanden. Das Leben „von der Hand in den Mund“ ist für diesen Bereich sehr symptomatisch.

Daraus resultiert im wesentlichen auch der Pragmatismus der im informellen Sektor Beschäftigten hinsichtlich ihrer politischen Orientierung. So ist die Spannweite der politischen Artikulation der „Informellen“ auch entsprechend groß.

Elwert, Evers und Wilkens weisen in einem Artikel auf die verschiedenen Möglichkeiten der politischen Bindungen des informellen Sektors hin. So wurden die Beschäftigten des informellen Sektors in Entwicklungsländern zum Beispiel von Frantz Fanon interessanterweise als Lumpenproletariat beschrieben, da sie für die Franzosen während des Algerienkrieges ein Reservoir für Spitzel und Söldnerdienste darstellten. Ein Beispiel für revolutionäre Mobilisierung lieferte Mao Tse-Tung, der gerade die verarmten Schichten der Bevölkerung als aktive Kämpfer für seinen Kampf heranzog.

Beispiel Nikaragua

In Lateinamerika bietet Nikaragua ein Beispiel für die Massenmobilisierung des informellen Sektors am Vorabend der sandinistischen Revolution. Die Hauptakteure des Aufstandes in Managua, welcher den Sieg der nikaraguanischen Revolution einleitete, waren Gelegenheitsarbeiter, die dem informellen Sektor zuzurechnen sind. Verschiedene Autoren behaupten gar, daß der informelle Sektor die entscheidende revolutionäre Kraft für die nikaraguanische Revolution war.

Der informelle Sektor hat sich an der nikaraguanischen Revolution beteiligt, da grundlegende Ziele für den informellen Sektor durch den Machtwechsel erfüllt wurden. Wichtige Maßnahmen wurden getroffen, die die Subsistenz der verarmten Bevölkerung sicherten, wie Verbesserung des Gesundheitswesens, Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, Wohnraumbeschaffung etc. Des weiteren wurde dem informellen Sektor mit staatlicher Unterstützung ermöglicht, eigene Interessengruppen zu bilden. Ein Beispiel hierfür war die Bildung des UNAPPI (Union Nacional de los Pequenos Productores Informales).

Mit Verschärfung des Bürgerkrieges veränderte sich aber das Verhältnis der sandinistischen Führung zum informellen Sektor. Auf Grund von Warenknappheit nahm der informelle Sektor einen immer stärker werdenden spekulativen Charakter an und war vor allem durch einen stark ausgeprägten Schwarzmarkt gekennzeichnet. Seine Produktivität sank auf den Nullpunkt und wurde für die sandinistische Führung – ähnlich dem Argumentationsmuster der osteuropäischen Führungseliten – zum parasitären Bereich.

Eine weitere Folge der Intensivierung des Krieges war, daß die sandinistische Regierung immer mehr nationale Ressourcen für die Verteidigung verwenden mußte. Weiterhin flössen umfangreiche Mittel in die Bürgerkriegsregionen, um dort die Agrarreform voranzutreiben, wodurch man sich eine Unterstützung der Bauern für die nikaraguanische Revolution erhoffte. Das hatte zur Folge, daß eine ganze Reihe der sozialen Errungenschaften zurückgenommen wurden.

Es wird allgemein angenommen, daß die Unterstützung für die sandinistische Revolution auf Grund dieser Tatsachen ab Mitte der 80er Jahre innerhalb des informellen Sektors rapide zurückging. Leider waren die Studien zur Wahl 1990, bei der die Sandinisten eine Wahlniederlage erlitten, nur nach Regionen aufgegliedert, so daß sich nicht nachvollziehen läßt, inwieweit der informelle Sektor gegen die alte Regierung gestimmt hat. Es läßt sich allerdings vermuten, daß die Mehrzahl der „Informellen“ für das oppositionelle Bündnis UNO stimmte.

„Informelle“ – Wahlvolk für Populisten?

Daneben wurde bereits in den 70er Jahren besonders für den südliche Teil Lateinamerikas von verschiedenen Autoren festgestellt, daß von einer Vielzahl der informellen selbstständigen Arbeiter der Übergang zu autoritären Regimes in einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen Ländern unterstützt wurde. Das liegt darin begründet, daß im informellen Sektor Tätige vor allem Stabilität als eine wichtige Voraussetzung für ihre Aktivitäten ansehen. Daß Arbeiter im informellen Sektor auch hier vorwiegend pragmatisch vorgehen, zeigt die Tatsache, daß zu Beginn der 80er Jahre dieser Bereich durchaus prodemokratische Bewegungen unterstützte. Das lag weniger an dem Wunsch nach Demokratie als an den einschneidenen Maßnahmen der Militärregierungen im Sozialbereich in dieser Zeit, wo Ausgaben für Bildung, städtische Dienstleistungen, sozialen Wohnungsbau und Preissubventionen drastisch gekürzt wurden. Diese Programme wirkten sich stark negativ auf die Situation im informellen Sektor aus.

Diese pragmatische Herangehensweise an Politik bzw. die flexible Ideologie ist im wesentlichen auch verantwortlich dafür, daß seit Anfang der 80er Jahre kaum eine demokratisch gewählte Regierung länger als eine Wahlperiode regieren konnte. Ebenfalls machte dieser Fakt erst das Erscheinen von populistischen Außenseitern in der Politik möglich. Welche Gefahr sich aus diesem Verhalten für die demokratische Stabilität ergeben kann, macht das peruanische Beispiel deutlich. Die Sehnsucht nach Stabilität der im informellen Sektor Beschäftigten läßt somit auch die These zu, daß in El Salvador nach über zehn Jahren Krieg die rechtsgerichtete ARENA-Regierung gerade durch die Unterstützung von „Informellen“ erneut die Wahl für sich entscheiden konnte. Sowohl in Peru als auch in El Salvador ist die Anzahl der im informellen Sektor Beschäftigten verhältnismäßig hoch. Leider fehlen für diese beiden Länder detallierte Studien über das Wahlverhalten von bestimmten Volksgruppen zu den letzten Wahlen.

Informelle und politische Organisation

Organisationsstrukturen im informellen Sektor sind kaum ausgebildet. Eine Vereinigung ist immer mit einer Interessenkonvergenz verbunden. Die stark ausgeprägte Heterogenität innerhalb des informellen Sektors macht diese Interessen-Übereinstimmung in der Realität schwierig. Zumeist sind es zeitweilige Prozesse, die zu einer Übereinstimmung der Interessen führen können, wie z.B. die Einführung von Gesetzen, die die Arbeit im informellen Sektor stark einschränken. Bei de Soto sind einige Fälle beschrieben, die zu einem gemeinsamen Handeln führten. So kann z.B. die Räumung von Ständen informeller Händler in bestimmten Gebieten sehr wohl eine Interessenkoalition hervorrufen. Wesentlich häufiger und dauerhafter sind Interessenkoalitionen in Elends- oder Squattersiedlungen. Forderungen nach Elektrizität, Trinkwasser oder Kanalisation bewirken hier wesentlich stärker und anhaltender ein Zusammenwirken.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das politische Interesse der „Informellen“ unmittelbar auf politische Stabilität gerichtet ist. In Zeiten politischer Instabilität werden sie sich wahrscheinlich der politischen Richtung zuwenden, die am ehesten erneute politische Stabilität verspricht. Das erklärt auch den politischen Opportunismus dieser Gruppe, die sich in der Regel jeweils der politisch stärksten Bewegung anschließt. All das macht aber auch deutlich, wie entscheidend die Stimme der „Informellen“ bei den Wahlen sein kann. Das erklärt auch, weshalb in Zeiten politischer und ökonomischer Instabilität die jeweiligen lateinamerikanischen Präsidenten gnadenlos abzutreten haben, und sei es durch einen Putsch.

* da sie sich dadurch Wettbewerbsvorteile erhoffen

Eigentlich würde sich der Artikel mit der folgenden Anekdote über Brecht schon fast erübrigen:

Der Komponist Rudolf Wagner-Regeny erzählte Brecht folgende Geschichte: Eine ältere Jungfrau war wegen ihres Geldes von einem jungen Mann geheiratet worden.

In der Hochzeitsnacht rief sie plötzlich: Entweder – oder. Das ewige Hin und Her ist ja nicht zu ertragen!

Brecht kommentierte lachend: Typisch. Der Kleinbürger erträgt nur Zustände. Bewegung ist ihm verhaßt.

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