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Astor Piazzolla

Luis Ignacio Helguera | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Der Stern des Tangotanzplatzes, Astor Piazzolla (Rio de la Plata, Argentinien, 1921-1991), bekannte so manches Mal – das Hemd offen, die Brust behaart, die Stimme klar und frei – daß er die Personifizierung der Sonne, des Mittelmeerraumes, des guten Essens und des herzlichen Lachens über das Leben sei, der Tango dagegen, all seine Musik und diese große Zeit seines Lebens mit der Musik und mit dem Tango wären Finsternis und Nostalgie, Liederlichkeit und Schmutz, Bordell und Messer, schlechter Alkohol und schlimmer Tod. Das Bekenntnis traf mich, weil hier auf meridiane und zugleich verblüffende Weise die große und häufige und mysteriöse Dichotomie Leben – Werk zutage trat: wie tagsüber leichthin Rotwein und Steaks in den besten Restaurants von Buenos Aires zu kosten und nachts hinabzusinken zur Inspiration der tiefsten Tangogründe; mehr noch, dem Licht zu gehören und stetig diese Musik zu wiederholen, die, wie Javier Barreiro (Der Tango. Verlag Jucar, Los Juglares: Madrid 1985) schreibt, „nie einen offiziellen Charakter erlangte (…), immer einen unzeitgemäßen, verfluchten, nachtschwärmerischen, fatalistischen, dekadenten Nachgeschmack bewahrt“… Darauf kann ich nichts erwidern, nur den Fakt anführen, daß der kindliche Stern mit der unverwechselbaren und prototypischen Stimme auf dem Tangotanzplatz geboren wurde und aufwuchs, mit dieser Stimme, die vom Vergangenen gegenwärtig gemacht und von der Zukunft in Erinnerung gebracht wird, (geschaffen aus Staub und Zeit überdauert der Mensch/ weniger als die leichtfertige Melodie,/ die die Zeit nur ist. Der Tango schafft eine verworrene, irreale Vergangenheit, die auf eine bestimmte Weise sicher ist,/ die unmögliche Erinnerung, tot gewesen zu sein/ kämpfend, in einem Winkel der Vorstadt“). Diese Stimme des berührbaren, tanguiblen Tangos, von Lautsprechern zum Nationalsymbol erhoben, die Stimme des Carlos Gardel (1890-1935), vor dem Piazzolla zufällig auftrat, und die Hypothese, daß man, nachdem man den Tango gespürt hat, das Leben durch den Filter des Tangos spürt, war eine Gewohnheit, die er viel weiter weg von der Gewohnheit führte, bis zu dieser anderen Gewohnheit der Besessenheit, bis zur besessenen Gewohnheit, den Tango zu spüren, bis zur besessenen Freiwilligkeit, mit der Gewohnheit zu brechen, den Tango so zu spüren und zu leben und zu machen wie die daran gewöhnte Mehrheit ihn spürte, lebte und machte. Eine seltene Unangepaßtheit brachte 1938 den jungen Piazzolla nach Paris zum gemeinsamen Studium mit Alberto Ginastera und Nadia Boulanger, die, nachdem sie Skizzen von „Kult“ werken des jungen Komponisten durchgesehen hatte, sagte: „Alles ist gut, richtig, aber haben sie nicht etwas mehr, etwas mehr persönliches?“, und in diesem Moment, ohne natürlich zu wissen, daß dies ein durch die Geschichte der Musik festgehaltener Moment sein würde, nahm Astor einige Tangomanuskripte, die Nadia, nachdem sie sie gelesen hatte, zu dem überzeugenden und vorausschauenden Ausruf veranlaßten: „Das ist es! Das ist es, was Sie komponieren müssen: Tangos!“ Und das war es, was von da an der sonnige Piazzolla komponierte. In den Tangos fand er sein anderes Ich, sein Fühlen und den Ausdruck der Nächtlichkeit, niemals jedoch auf konventionelle Weise, niemals als Wiederholung des bereits Gefühlten und Ausgedrückten. Die gesamte Arbeit von Piazzolla mit dem Tango ist ein leidenschaftliches und rigoroses Beispiel des Kampfes gegen seine Versteinerung in einer kanonischen Form, der Geringschätzung der bequemen Kommerzialisierung, der Herausforderung an die orthodoxen und konformistischen Zuhörer, und deshalb, so denke ich, ist das Publikum dieses exzellenten Musikers nicht sehr zahlreich.

Dem Tango treu, aber auch vielseitig, auch der Bereicherung, Erneuerung, Entwicklung des Tangos aufgeschlossen sein, ohne dabei jemals sein Wesen zu verändern. Für mich hat dieser Piazzolla Ähnlichkeit mit Perez Prado: beide waren vollendete Musiker, ebenso begabt wie ausgezeichnet. Beide waren in ein volkstümliches Genre (Tango, Mambo) verliebt, dem sie alle ihre Kräfte widmeten, und sie wurden flexibel, proteisch, fähig, sich mit anderen Musikrichtungen zu vereinigen oder in Wechselwirkung zu treten. Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Humor und Fatalismus, Astor Piazzolla machte aus dem Tango eine so elastische Sache wie ein Bandoneon, das sich streckt und zusammenzieht wie ein Wurm, wie eine Raupe, wie eine gigantische Assel; dieses Akkordeon, das ganz christlich in einer deutschen Kirche geboren wurde und dann in einem argentinischen Bordell landete, weil ein betrunkener deutscher Emigrant damit seine Rechnung beglich – selbstverständlich, ohne im geringsten die historische und musikalische Tragweite seiner Transaktion zu ahnen, weil er sonst vor dem Wandel zurückgeschreckt wäre. Dieses Instrument, das zu Instrumenten , zum Orchester wird, dieses sonderbare, mit der Nostalgie der italienischen canzonetta und vor allem dem Flair Argentiniens behaftete Instrument erweckte in Piazzolla trotz seiner Größe und Unhandlichkeit den Eindruck der Natürlichkeit, Notwendigkeit, so als wäre es organischer Bestandteil seines Körpers: eine weitere Lunge, ein weiterer Darm, eine weitere Leber, nicht operabel, ohne mögliches Transplantat.

Und so elastisch wie das Bandoneon ist Piazollas Tango, hinterlistig und diabolisch und gleichzeitig süß und sentiment al, leidenschaftlich und sinnlich. Die gleichen Empfindungen weckt auch die Romantik Gardeis („Traurige Milonga“: „Traurigkeit der Wege/ daß sie dich danach nicht mehr sahen/ Ruhe des Friedhofes/ Einsamkeit der Sterne/ Erinnerungen, die so schmerzen/ schwarze Schürze und schwarze Flechten“) – das Einsetzen eines synkopischen Dialogs mit Strawinsky („Drei Minuten mit der Wirklichkeit“ aus der Symphonie in drei Minuten) oder eine Korrespondenz des volkstümlichen Ausdrucks zur Avantgarde von Webern und Nachfolgern („Underground“, „Kontraste“), und das gleiche verschmilzt den Tango mit dem Jazz („Sideral“, die erhabene „Milonga des Engels“, „Michelangelo“ und viele andere) wie mit der italienischen Oper (Maria de Buenos Aires, Tango-Oper). Es gibt also unter dem Aspekt der instrumentalen Formen und Ausstattungen keine Grenzen. Die Tangos von Piazzolla sind ebenso plötzlich Vokalmusik, Lieder wie die von Gardel, wie sie zu ihrem Ursprung, der Tanzmusik, zurückkehren, rein instrumental, kammermusikalisch, konzertant, symphonisch, Tangos nicht zum Singen oder Tanzen, sondern zum Hören, nicht mehr und nicht weniger. Diese formale Eröffnung ist nur einem Musiker mit großer Beherrschung des Instruments (sei es Bandoneon, Gitarre, Violine, Cello, Kontrabaß, Klavier oder Schlagzeug …) möglich und natürlich bedurfte er weder Synthesizer noch Computer, um modern zu sein.

Eine der letzten Kompositionen von Piazzolla, Five Tango Sensations (1989) für Bandoneon und Streichquartett, die er für das Cuarteto Kronos schrieb, erreicht, was Harmonie und instrumentale Gestaltung betrifft, traumhafte, erotische und metaphysische Stimmungen von einer Subtilität und überschäumenden Lebenskraft, die sicherlich im klassischen Tango unvorstellbar ist.

Ohne ihn seiner volkstümlichen Wurzeln zu berauben brachte Piazzolla den Tango in die Konzertsäle. Es würde mich nicht besonders überraschen, im Nachlaß des Komponisten eine Tango-Messe zu finden, die die waghalsige und glückliche Schiffsreise des Bandoneons bis zu den deutschen oder auch nichtdeutschen Kirchen komplettieren und den unablässigen Kreis der Erfindungen, die grenzenlose Kreativität Piazollas schließen würde.

Übersetzung aus dem Spanischen: Claudia Tast

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