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Ein Sonntag

Aníbal Ramírez | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Wer bin ich? Lohnt es sich, meinen Namen zu nennen? Viele Dinge haben keinen Sinn. Alles wird mit einem Namen versehen, und letztendlich ist das einzige, was von uns bleibt, eine weitere Nummer. Ich glaube, ich bin vor einiger Zeit vierzig geworden. Ich erinnere mich nicht. Ich habe eine unbekannte Region betreten. Vielleicht ist es die der Ruhelosigkeit. Aber wie? Möglicherweise war es die Phantasie in Verbindung mit meiner Trostlosigkeit.

Ich erwachte. Öffnete meine Augen. Meine Augen sind gelb wie die einer Katze, obwohl manche sagen, dass ich Camäleonaugen habe: sie ändern nämlich zuweilen ihre Farbe. Mein Zimmer war unverändert, alles schien normal. Ich wollte aufstehen. Mein Körper reagierte nicht auf natürliche Weise. Es gelang mir nicht mich zu erheben, so sehr ich es auch versuchte. Was war der Grund? Ich betrachtete meinen Körper. Um Himmels willen, was war das? Meine schmächtigen Arme waren verschwunden. Ich weinte, oder wenigstens schien es mir, dass ich Tränen vergoss. In meiner Panik achtete ich nicht auf das, was an einer Schnur oben im Fenster hing: es waren meine Arme. Nachdem der erste Sturm des Entsetzens in meinem Innern sich gelegt hatte, erblickte ich sie und schaute sie mir genau an. Sie sahen außerordentlich elegant aus. Der Zeigefinger der rechten Hand, oder vielleicht auch der linken – das weiß ich nicht genau – wies anklagend auf mich. Mit übermenschlicher Anstrengung erhob ich mich und näherte mich ihnen. Ich überlegte. Die Möglichkeit, dass jemand in mein Zimmer eingedrungen war, mir die Arme abgeschnitten und sie am Fenster aufgehängt hatte, kam nicht in Frage. Das Geheimnis musste in den Armen selber liegen. Ich grübelte, was in der Nacht geschehen sein konnte. Warum und wieso hatten sich meine Arme vom Körper gelöst? Und wie waren sie dahin gelangt, wo sie jetzt waren? Ich hatte keinerlei Schmerz verspürt. Es gab auch keinen Blutstropfen auf den Laken oder auf dem Boden oder an den Stellen meines Körpers, wo sie gewesen waren.

Durch das Fenster drang zögernd eine gedämpfte Helligkeit, und durch die halbgeöffneten Fensterflügel kam kalte Winterluft herein. Vielleicht konnte ich die Arme wieder mit meinem Körper zusammenfügen? Ich beantwortete meine Frage, indem ich auf eine Bank stieg: ich versuchte, meine Arme zu erreichen und sie wieder mit dem Körper zu verbinden, aber ich reichte nicht hoch genug hinauf. Die Hände packten mich derb, sie taten mir weh und brachten mich schließlich von meinem unsinnigen Vorhaben ab. Ich stieg hinab, so gut ich konnte, und in meiner schrecklichen Verwirrung und Scham fiel ich herunter. Unter großer Mühe stand ich wieder auf. Ich überlegte mir, dass es das beste sei, hinauszugehen und um Hilfe zu
bitten: Ich musste das Zimmer verlassen, egal wie, und meinen Nachbarn rufen. Da erinnerte ich mich, dass ich die Tür nachts immer zuschloss. Die Tür zu öffnen, würde sehr schwierig sein; da ich nicht auf meine Hände zählen konnte, käme selbst diese einfache Sache einer Ruhmestat gleich. Wie die Tür öffnen, ohne die Hände zu gebrauchen? Vielleicht mit dem Mund – aber in diesem Moment stellte ich zu meiner Bestürzung fest, dass meine Lippen offenbar zusammengewachsen waren und sich nicht voneinander lösen ließen. Es war unmöglich, so sehr ich es auch versuchte. Ich war am verzweifeln. Später, und schon ein wenig ruhiger, blickte ich auf den Wecker: er war stehengeblieben, ich hatte ihn am vergangenen Abend nicht aufgezogen.

Ich hatte Hunger. Ich setzte mich auf die Bettkante und begann, mir den Kopf zu zerbrechen. Ich musste ernsthaft darüber nachdenken, was ich als nächstes tun konnte, um mich aus der Notlage zu befreien, in der ich mich befand. Mein Kopf war leer, mir fiel nichts ein. Nur einen Tag zuvor war ich ein normaler Mensch gewesen, mit Hoffnungen, Freuden und Erwartungen. Ich fühlte mich wie der Unglücklichste aller Erdenbürger: ich konnte meine Lippen nicht voneinander lösen, und meine Arme waren nicht an ihrem Platz. Zwei Stunden später, meiner ungefähren Zeiteinschätzung nach, drang eine riesige blaue Wolke durchs Fenster ins Zimmer. Ich konnte nichts mehr sehen. Ich hörte, wie die Arme sich bewegten und meine Hände heftig zu applaudieren begannen. Welches übernatürliche Geschehen spielte sich in meiner Wohnung ab? Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging. Die Kälte drang mir durch die Haut in den Körperteilen, die ich noch mein eigen nannte. Langsam, Schritt für Schritt, gewann die Helligkeit wieder die Oberhand im Zimmer. Die Hände hörten auf, begeistert Beifall zu klatschen – ich glaube, dass ihre Begeisterung echt war. In diesem Moment wurde ich Zeuge einer anderen unerhörten Begebenheit. Ohne dass ich Schmerzen verspürt oder aber es hätte verhindern können- ich versuchte es hartnäckig – begannen meine Beine ebenfalls, sich selbständig zu machen. Meine Zehen bewegten sich leicht, auf sehr komische Weise, während die Beine sich von der Stelle, wo sie hingehörten, wegbewegten. Um Gottes willen! Bevor ich mich versah, hatten sie sich von meinem Körper gelöst und wanderten hinüber zu dem Tisch, der mir zum Essen und manchmal auch als Schreibtisch diente. Mit einem Sprung gelangten sie hinauf. Ich schaute ihnen zu wie ein Schwachsinniger. Erneut fragte ich mich: Was passiert hier eigentlich? Vielleicht bestraft mich Gott? Eine andere Erklärung gab es nicht. Das Geschehen, an dem ich hier teilhatte, suchte zweifellos seinesgleichen. Möglicherweise würde mancher sich glücklich schätzen, Zeuge eines solchen Ereignisses zu sein. Schließlich geschehen derartige Dinge nicht jeden Tag.

Ich wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Ich beobachtete, dass die Arme sich aus ihren Fesseln lösten und mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fielen. Konnte es sein, dass sie nicht länger die Fähigkeit besaßen, vernünftig zu handeln, so wie sie es taten, als sie noch von meinem Kopf gesteuert waren? Sie strichen sich gegenseitig über die Stellen, auf die sie gefallen waren, und danach näherten sie sich dem, was von meinem Körper noch geblieben war. Sie stiegen aufs Bett und versuchten mit den Händen meine Lippen voneinander zu lösen. Mein Rumpf bewegte sich nicht, und ich machte keinen Versuch, ihn zu bewegen. Nach einigen erfolglosen Versuchen gelang es ihnen, mir den Mund zu öffnen, und ich war in der Lage zu sprechen. Ich befahl ihnen, sich an die ihnen gemäßen Stellen meines Körpers zu begeben. Sie dachten gar nicht daran – der unverschämte rechte Arm machte eine verneinende Gebärde mit seinem Zeigefinger. Ich begriff, dass jedwede Wiederbegegnung meiner Gliedmaßen und meines Körpers unmöglich war. Ich bat sie, die Tür zu öffnen, zum Nebenzimmer zu gehen und an der Tür des Nachbarn zu klopfen. Es war, als ob ich mir den Mond zum Geburtstag gewünscht hätte. Mein Rumpf und mein Kopf begannen plötzlich, in Zuckungen zu verfallen. Die Arme nahmen vorsichtig Abstand. Mein Kopf flog mir vom Körper und landete unsanft auf dem Boden. Das fehlte gerade noch! Wie zuvor, als ob nichts passiert wäre, war am Hals kein Tropfen Blut zu sehen. Der Kopf schmerzte mir infolge des Aufpralls. Meine Nase, die ziemlich groß ist, begann hingegen zu bluten, eine Tatsache, die mir sehr merkwürdig erschien. Ich bat meine Arme, den Kopf auf den Tisch zu heben und zu versuchen, das Blut mit einem Lappen zu stillen. Sie gehorchten, wenn sie mich auch fast dabei erstickten. Nach einer Weile hörte es zu bluten auf. Später verlangte ich, daß sie den Kopf auf das Bett setzten – meine Nase ertrug den Gestank nicht mehr, der von meinen Füßen ausging. Die unteren Gliedmaßen waren beleidigt und wurden sehr ärgerlich. Sie steckten die Nase zwischen zwei Zehen meines linken Fußes.

Die Arme halfen dem Kopf und kämpften mit den Beinen. Sie teilten Schläge aus, während die letzteren Fußtritte zurückgaben. Einer davon, der sein Ziel verfehlte, traf stattdessen meinen unglücklichen Kopf, der daraufhin durchs Zimmer flog und nicht zurückkehrte. Als sie schließlich erschöpft waren, kehrte Ruhe ein. Mein Kopf, der Träger meines vernunftgesteuerten Willens, lag neben dem Mülleimer. Um die Augen sah er ziemlich blau aus, und die Nase, die deutlich beschädigt war, hatte wieder zu bluten angefangen. Ich bat die Arme inständig, dass sie mir den Kopf zurückbrachten und erneut versuchten, das Blut zu stillen. Danach vergegenwärtigte ich mir noch einmal meine Lage.

Ich hörte meine Innereien rumoren wie wütende Raubtiere im Käfig. Ich nahm an, dass sie Hunger hatten. Ich wusste nicht, wie ich sie beruhigen konnte. Es gab keine Öffnung mehr, durch die man etwas Essbares in den Magen hätte bringen können. Ich hatte zwar alle Körperteile noch, aber sie waren kein Ganzes mehr. Sie wieder zu vereinen, schien unmöglich. Die Nacht brach herein: eine weiße Nacht mit weißem Himmel und weißem Schnee, der auf der Stadt lag. Ich bedeutete meinen Beinen, vom Tisch herunterzukommen. Sie gehorchten und ließen sich auf einem Ende meines Bettes nieder. Daraufhin bat ich die Arme, den Kopf auf den Tisch zu setzen und Papier und Bleistift zu ergreifen. Sie leisteten der Aufforderung Folge und begaben sich auf den Tisch. Ich begann ihnen zu diktieren, was ich soeben erzählt habe.

Noch ist Sonntag. Morgen wird man mein Verschwinden bemerken und mich suchen kommen. Wenn sie morgen nicht kommen, dann vielleicht übermorgen. Es ist mir egal, wann. Mich in diesem Zustand zu präsentieren, ist mir peinlich. Der erste, der das Zimmer betritt, wird einen schrecklichen Schrei ausstoßen, vielleicht in Ohnmacht fallen; danach wird er die zuständigen Stellen informieren, und mein Fall wird eine öffentliche Sensation sein, denn so etwas hat es noch nie gegeben. Ich vermute, dass man Fotos machen wird, die die einzelnen Teile meines Körpers zeigen werden. Diese Fotos werden dann um die ganze Welt gehen. Wahrscheinlich werden sie mich in irgendein Forschungszentrum bringen, um mich zu untersuchen. Die Vorstellung eines solchen Spektakels ist furchtbar für mich. Ich empfinde großes Mitleid mit mir. In diesen Momenten scheidet mein Rumpf die Reste der letzten Mahlzeit aus, denn ich habe so gegessen, als ob alles normal wäre. Der Geruch ist unerträglich. Zwischen meinen Körperteilen besteht noch eine Verbindung. Vielleicht ist es eine unsichtbare Kraft. Wird dieser Zustand ewig anhalten, oder geht er vorüber, und ich werde bald wieder ein normaler Mensch? Ich weiß nicht, ob mein physischer Zustand andauern wird, oder ob er aufhört, wenn ich nicht mehr von den anderen getrennt bin. Dieser Alptraum ist grässlich real. Ich möchte aufwachen und ihm ein Ende machen, aber ich habe nicht den Mut, es zu tun.

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