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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Väter des Vaterlands

Rafael Pérez Gay | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Während die Feuerwerkskörper explodieren, die den Ruf von Dolores (Grito de Dolores)* feiern, während die staubigen Gesichter der Größen der Nation beim Klang von – was sonst – Mocoyas Huapango* brennen und die Väter des Vaterlands – Hidalgo, Aldama, Allende, die Richterin (la corregidora)*, Morelos und andere Spitzenspieler sich für das Match: Vaterland gegen Geschichte vorbereiten, bleibt Zeit, darüber nachzudenken, wie man mit den Helden umgeht.

Die offizielle Geschichte hat uns einige so wenig interessante Figuren hinterlassen, dass es fast keine Möglichkeit gibt, eine Beziehung zu ihnen zu finden. Hidalgo hat man so glatzköpfig und so alt gezeichnet, dass es einfacher ist, sich ihn, anstelle eines harten und zu allem entschlossenen Mannes inmitten der Verschwörer, vorzustellen, wie er während der ernsten Beratungen der Konspirateure in Querétaro ein cocol* in eine Tasse Schokolade eintunkt.

Anstelle des erleuchteten Geistlichen, der die erste große Volksrevolution in Amerika auslöste, beschreibt die bronzene Geschichte einen glatzköpfigen Schwächling, der es fertig bringt, auch die geduldigsten Freunde mit seinen Streichen zur Verzweiflung zu bringen. Solche Freunde waren zum Beispiel Ignacio Allende und Juan Aldama, criollos*, die mit ihm konspirierten, um sich in der Nacht des 15. September 1810 zu erheben. Unter diesen Umständen kann man sich Hidalgo vorstellen, wie er, als er erfährt, dass die Verschwörung entdeckt worden ist, folgendes äußert:

– Meine Herren, ich weiß nicht, ob es wegen der Nerven ist, aber ich habe seit längerem beträchtlichen Haarausfall. Kennen Sie vielleicht ein gutes Gegenmittel?

– Brillantine, Padre. Schmieren Sie es jede Nacht damit ein, und Sie werden sehen, wie es wieder anfängt zu sprießen – entgegnet Aldama, während er den Kopf aus den Tiefen des unermesslichen Kragens seiner Uniform erhebt.

Also: Jener Hidalgo, den wir während der Unabhängigkeitsfeiern ehren, wird vom Lehrer am Collegio de Valladolid, der eine Armee von zehntausend hungrigen Bauern befehligte, der in Celaya zum Generalissimo ernannt wurde, der das Blutbad der Alhóndiga de Granaditas* anführte und das spanische Heer am Monte de las Cruces besiegte, dieser kühne Pater wird zum Lämmchen. So gesehen, so glatzköpfig, alt und naiv, verschonte er die schutzlose Stadt Mexiko, nicht wegen politischer oder militärischer Zweifel, sondern wegen seines fortgeschrittenen Alzheimers:

– Hör mal, Nacho – könnte er Ignacio Allende zwischen den Lagerfeuern der Aufständischen gefragt haben, die den Befehl zum Angriff der Stadt erwarteten, – was machen die vielen Leute hier? Gehen wir lieber nach Guadalajara. Dort haben wir gute Freunde.

Worauf sein Heer sich auf den Weg zur Niederlage von Puente Calderon begibt, wo die Truppen von Félix Maria Calleja die Aufständischen schlugen. Und von dort ging es – Ironie der Geschichte – zu den Käfigen, in denen ihre Köpfe in der Alhöndiga de Granaditas aufgehängt wurden.

Anderen Protagonisten des Dramas der mexikanischen Unabhängigkeit erging es noch schlechter. Die Richterin Domínguez ging in die Geschichte mit einem Schuh in der Hand ein – mit dem sie an die Wand ihres Zimmers geklopft haben soll, um zu verkünden, dass die Verschwörung aufgedeckt worden war, außerdem mit einigen Kilo Übergewicht und einer derartigen Hässlichkeit, die es wohl zu ihrem Schicksal werden ließ, den Aufstand Hidalgos zu unterstützen und von der Bank von Mexiko auf unseren alten 5-Centavo-Münzen verewigt zu werden. Es gibt Historiker, die ihre politische Gefangenschaft bezweifeln und annehmen, daß Richter Domínguez sie nicht aus politischen, sondern aus Ernährungsgründen einschloss. Da sie auf Diät war, räumte sie, wenn er sie das Zimmer verlassen ließ, nicht den Kühlschrank leer, denn den gab es zu dieser Zeit noch nicht, sondern die Speisekammer, reich gefüllt, wie die aller einflussreichen criollos, mit Gebäck der raffiniertesten charcuterie française.

Fatal erging es auch Don Andrés Quintana Roo und Don José María Cos. Beide hingen, der offiziellen Geschichte nach, an den Zipfeln von Morelos Kopftuch, reduziert zu Kleindarstellern der Bewegung, die der Diener der Nation anführte. Obwohl diese gebildeten criollos Teil der ideologischen Avantgarde und des rebellischen Journalismus waren, schenkt ihnen niemand Beachtung. Quintana Roo kennt man als Staat im Südosten Mexikos und als das aufgedunsene Gesicht auf den früher so begehrenswerten 500-Peso-Scheinen, mit einer fettigen Haarsträhne wie die des römischen Kaisers. Dabei ist es möglich, dass diese Männer in der Zeit, als sie die Entwürfe für die erste mexikanische Verfassung, die von Apatzingán, redigierten und die Zeitungen Ilustrador nacional und Semanario Patriótico Mexicano schrieben – die Feuerspitzen der aufständischen Presse – Morelos das Leben ziemlich schwer gemacht haben.

– Wir sollten Chema raten, eine Diät zu machen und das Tuch vom Kopf zu nehmen. Er sieht miserabel aus – hätte Cos zu seinem Freund Quintana Roo gesagt haben können.

Der Mode der Geschichte gehorchend, rufen die Präsidenten den Namen Vicente Guerreros am Festtag des Grito de Dolores. Guerrero ist einer der Gewinner der offiziellen Geschichte. Er brachte es ebenfalls zum Namensgeber eines Bundesstaates, doch in Wahrheit hat er nach Morelos Tod nichts mehr zustande gebracht. Man sagt ihm großen Mut und einen tönenden Satz in der Stunde der Hinrichtung nach: Das Vaterland geht vor!, und man macht ihn außerdem verantwortlich für einen berühmten Verräter, den Herrn Picaluga. Bis zu uns ist er gedrungen mit grässlichen Koteletten und einer Uniform mit einem so energischen Kragen – wie der von Aldama – dass er ihn beinahe unkenntlich macht.

Die berühmten Tage des Vaterlands haben bei mir bleibende Erinnerungen hinterlassen. Eines 15. Septembers fuhr ein Teil der Familie zum Hotel Majestic am Zócalo, um in friedlicher Weise die Ankunft einer Tante zu begehen, die im Ausland lebt. Die Idee der Expeditionsteilnehmer war es, auf der Dachterrasse des Hotels zu Abend zu essen und von dort oben die Feierlichkeiten des Grito de Dolores zu beobachten. Nie werde ich diese Nacht vergessen:

Als wir unser Auto in der Balderasstrasse parkten, gab uns der Parkplatzwärter eine Nachricht, die mich wesentlich stärker beunruhigte als meine Mitstreiter:

– Seien Sie vorsichtig, heute nacht wird es hier viele Überfälle geben! – Er sagte das im Brustton der Überzeugung, so dass ich dachte, dass die Aufständischen, angeführt von Hidalgo, sich bereits auf dem Paseo de Reforma näherten. Ich wollte umkehren, aber die Familie, die schon immer etwas ungarisches, an-tifranquistisches und Zigeunerblut in den Adern gehabt hat, gab Befehl, weiterzufahren. Ich flehte sie an, nach Hause zurückzukehren und sopes* und quesadillas* zu essen und den Ruf im Fernsehen zu sehen, aber dieser Vorschlag wurde verworfen.

Das Hotel Majestic anzusteuern, war ungefähr so schwierig wie die unheilvollen Momente, die Hidalgo in der Schlacht von Puente Calderon verlebte, wo man dem Pater und seinem zerlumpten Heer von Aufständischen Saures gab. Reißende Ströme euphorischer Menschen kamen und gingen in einem Spalier von Stößen, Quetschungen und Verkäufern von nationalistischem Zubehör. Ich meine die Zapatistenhüte, die grün-weißroten Kindertröten und die Faschingspfeifen und andere Produkte der sogenannten Populärkultur und des mexikanischen Erfindungsgeistes. (Ich nehme an, dieses Jahr wird dieser Erfindungsgeist zumindest einen als Kasper verkleideten Hidalgo hervorbringen.)

Unsere Karawane bewegte sich mit großen Schwierigkeiten auf der Straße Cinco de Mayo vorwärts. Es fehlten noch einige Querstraßen bis zum Majestic, als ich einen Mann mittlerer Größe und sonnengebräunten Teints erblickte, der auf mich zusteuerte. Als er in meiner Nähe war, gab er mir, ohne weitere Erklärungen abzugeben, eine Kopfnuss. Ich wollte sie erwidern, aber man ließ mich wissen, dass ich das zu unterlassen hätte, da ich andernfalls gegen die Regeln der Nacht des 15. September verstieße, die unter anderem darin bestünden, demjenigen auf den Kopf zu hauen, bei dem man dazu Lust verspürte und zwar unter dem etwas idiotischen Vorwand, ein mit Mehl gefülltes Ei an seinem Schädel aufzuschlagen, und außerdem darin, mit derselben Freiheit der Wahl jemandem eine Faust voll Confetti in den -vorzugsweise offenen – Mund zu stopfen.

– Darum handelt es sich hier? – fragte ich.

– So muss es sein – bekam ich mit patriotischem Feuer zur Antwort.

Als wir zum Hotel Majestic kamen, dachte ich an jene Hollywood-Filme von der Art Das Jahr der Gefahr oder Der Schrei der Stille, in denen Revolutionen und Staatsstreiche ablaufen und wo die, die können, in das zentrale Hotel der Stadt flüchten, von wo aus sie entsetzt die wütende Menge beobachten, die das ancien régime stürzt. Und tatsächlich, vom Dachgarten konnte man die stürmischen Massen beobachten, die gewiss nicht das ancien régime beseitigten; aber die Leute klammerten sich mit revolutionärer Wut in die Menge wie Rosinen in die Gelantine.

Hier oben standen die Dinge auch nicht zum Besten; später mussten wir uns auf die Stühle stellen, um den Präsidentenbalkon des Palacio Nacional sehen zu können und den Ruf von Dolores zu vernehmen. Die Terrasse war so voll, dass ich zwei Löffelchen der Elotesuppe der Dame probieren konnte, die am Nebentisch saß. Es ging auf Mitternacht zu, als einer der Gäste erklärte, als ob er der Leutnant Hidalgos bei der Erstürmung der Festung Alhóndiga de Granaditas sei:

– Das ist wohl war, beim Feuerwerk übertrifft keiner uns Mexikaner. –

Ich erinnere mich, dass ich vor den ersten Garben dachte, dass das zwar lobenswert und möglicherweise sogar richtig sein könnte, dass ich aber von keinem Land gehört hatte, das wegen seiner Feuerwerke zu einer Weltmacht geworden wäre.

Übersetzung: Anka Schmoll

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* Wortschatz:

Grito de Dolores: der Ruf von Dolores, einer Stadt, in der Hidalgo am l5. September 1815 zum Unabhängigkeitskampf gegen die Spanier aufrief.

Huapango: mexikanischer Volkstanz, Weise. Der Komponist Moncoya schuf einen H. in der klassischen Musik, der besonders beliebt ist.

la corregidora: Josefa Ortiz de Dominguez: Frau des corregidors D., beteiligte sich am Aufstand

cocol: weiches, süßes Anisbrötchen, besonders für alte Menschen

criollos: in Amerika geborene Nachkommen der spanischen Eroberer

Alhóndiga de Granaditos: Festung in Guanaguato, wurde von Hidalgos Truppen nach langem Kampf erstürmt. Nach seiner Niederlage in der Schlacht von Puente Calderon wurden die abgeschlagenen Köpfe der Führer der Aufständischen hier in Käfigen zur Schau gestellt

sopes und quesadillas: mit Käse bzw. Fleisch und Gemüse gefüllte Maisfladen

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