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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Impressionen aus Guatemala-Stadt

Gisela Gellert | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Es war ein schwieriges Unterfangen, über die Stadt zu schreiben, in der ich seit fast 20 Jahren lebe und über deren Problematik ich schon zehn Jahre arbeite, deren zahlreiche Facetten und Aspekte mich aber dennoch immer wieder überraschen. Man kann sich dieser Stadt unter verschiedenen Blickwinkeln nähern, es gibt viele Möglichkeiten, einen ersten Eindruck von ihren vielen Gesichtern zu vermitteln. Ich versuche es mit Eindrücken von oben und von unten.

Impressionen aus der Vogelperspektive

Die guatemaltekische Hauptstadt trägt laut Geburtsurkunde eigentlich den schönen Namen „Guatemala de la Asunción“, wird aber umgangssprachlich kurz „Ciudad de Guatemala“, also Guatemala-Stadt, genannt.

Die meisten Besucher des Landes kommen per Flugzeug an, und schon beim Anflug auf die Metropole – sofern schönes Wetter ist, und das ist meistens der Fall – gewinnt man einen ersten Eindruck aus der Vogelperspektive, da der Flughafen mitten im südlichen Stadtgebiet liegt.

In einem Hochtal gelegen, 1500 m über dem Meeresspiegel, wird die Stadt östlich und westlich von noch einigermaßen grünen Gebirgsketten begrenzt, durch die sich die Straßen nach El Salvador und ins westliche Hochland schlängeln. Südlich der Stadt, in Richtung Pazifikküste, kann man den Amatitlán-See ausmachen (nicht zu verwechseln mit dem Atitlán-See im zentralen Hochland!). Etwas weiter entfernt erblickt man den ständig Asche und Lava speienden Vulkan Pacaya und südwestlich den perfekten Kegel des erloschenen Vulkans Agua, bewacht von den Zwillingen Fuego und Acatenango, beide noch periodisch aktiv.

Beim Anflug vom Norden her, über ein gebirgiges Gebiet mit tiefen Schluchten, welches die Ausdehnung der Stadt in dieser Richtung begrenzt, schweift der Blick über das historische Stadtzentrum mit seiner dichten Bebauung im strengen Schachbrettgrundriss. Zwischen zentralem Teil und Flughafen liegt das moderne Zentrum, bis vor 30 Jahren noch ausgedehntes Villenviertel der Oberschicht, und nun umgewandelt in die „Zona Viva“ mit luxuriösen Hotels, Einkaufszentren, Bürohochhäusern, Banken, Restaurants, Boutiquen, Diskotheken – eben allem, was der anspruchsvolle und zahlungsfähige Bewohner oder Besucher in einer Metropole erwartet. Im Gegensatz zum zubetonierten alten Stadtkern, der fast ausschließlich aus Flachbauten besteht, stechen hier das viele Grün und die wie Pilze aus dem Boden schießenden eleganten Hochhäuser ins Auge.

Am Rande der zentralen Stadtzonen dehnen sich weite Wohngebiete mit Einfamilienhäusern aller Art – und Bewohnern, deren Einkommen ebenso breit gestreut sind wie die Viertel, welche immer wieder von tiefen Schluchten durchschnitten werden, den sogenannten barrancos. Diese barrancos hatten und haben eine wichtige Rolle in der Stadtentwicklung. Ihren Ursprung haben sie zwei Faktoren zu verdanken: der Auffüllung des Hochbeckens mit dicken Schichten von Vulkanasche (100-200 m dick) und der mitten durch die Stadt verlaufenden Wasserscheide zwischen atlantischem und pazifischem Einzugsgebiet. Es bildeten sich so im Laufe der Zeit zwei vielfältig aufgegliederte Abflusssysteme, eines nach Norden und eines nach Süden.

Die vielen kleinen Flüsschen haben sich tief in die lockeren Gesteinsmassen eingeschnitten und so die barrancos gebildet. Noch bis in die 50er Jahre hinein hat die Stadt sich innerhalb der barrancos ausgedehnt. Einige nicht sehr tiefe wurden seit Ende des letzten Jahrhunderts einfach zugeschüttet, um die Ausdehnung der Stadt nach Süden zu ermöglichen. Als aber dann jeglicher Freiraum erschöpft war, musste man im Osten und Westen die barrancos überbrücken und große Umgehungsstraßen bauen. Aber aufgrund der wenigen, praktisch an einer Hand abzuzählenden Brücken ist es noch heute nötig, die halbe Stadt zu durchqueren, um ein oft nur wenige hundert Meter entferntes Ziel zu erreichen, das aber eben genau auf der anderen Seite des barrancos liegt.

Impressionen von unten

Bei der Ankunft auf dem Flughafen scheiden sich die Besucher nach ihren Zielen: der gut Bemittelte fährt mit einem Taxi zum Hotel ins nahe Luxusviertel der „Zona Viva“ und der Minderbemittelte mit einem klapprigen Bus ins alte Stadtzentrum (Zona 1), um zwischen einer billigen Pension oder einem etwas besseren Hotel zu wählen.

Hier tritt schon die erste Teilung der Stadt zutage, denn seit etwa 15 Jahren kann man von zwei Stadtzentren in Guatemala sprechen: dem traditionellen und dem „neuen“, wobei sich ersteres in einem deutlichen Verfallsprozess befindet, während das zweite eine erschreckend dynamische Entwicklung zeigt und mit Riesenschritten die noch anliegenden Wohngebiete überformt. Entsprechend ihrem Zustand, Angebot, Preisniveau und sozialem Prestige werden sie von verschiedenen Bevölkerungsschichten frequentiert. Und so wie es ein Zentrum für die „Armen“ und eines für die „Reichen“ gibt – die Mittelschicht pendelt Je nach Möglichkeiten, zwischen diesen zwei Welten – so ist die ganze Stadt geteilt. Und das in einem Ausmaß und mit Gegensätzen, wie man sie nur in wenigen lateinamerikanischen Städten findet, obwohl sich in allen ein immer markanterer Segregationsprozess vollzieht.

Man kann in Guatemala-Stadt leben und doch immer nur eines ihrer Gesichter kennenlernen. Obwohl man mit der Armut in der Stadt fast ständig konfrontiert wird – seien es nun die bettelnden Männer, Frauen und vor allem Kinder an allen Ampeln, die vielen Straßen verkauf er, Autowäscher und -Wächter, indianische Lastenträger und andere auf der Suche nach einem minimalen Lebensunterhalt – lernt man ihre eigentliche Welt nur kennen, wenn man sie sucht. Aber wer tut das schon?

Die Slumviertel, in Guatemala als limonadas oder – im mehr akademischen Jargon – als asentamientos precarios bekannt, liegen nur zu einem ganz geringen Teil in Straßennähe, meist aber in schwer zugänglichen Gebieten an der Peripherie. Besonders in den zahlreichen barrancos versteckt findet man die improvisierten Hütten, förmlich an den Hängen klebend, wo es in jeder Regenzeit wegen der vielen Erdrutsche fast täglich zu Tragödien kommt.

Selbst meine guatemaltekischen Kollegen und ich, die wir jahrelang theoretisch über die urbane Problematik gearbeitet hatten, waren von den unglaublichen Verhältnissen, in denen die Mehrheit der Hauptstädter lebt, tief geschockt. Erst jetzt, nach monatelanger Projektarbeit in verschiedenen asentamientos und nachdem wir ein halbes Hundert weiterer besucht hatten, können wir uns in etwa vorstellen, wie die meisten Guatemalteken hausen müssen.

Da es nicht möglich ist, hier näher auf diese Erfahrungen einzugehen, wenigstens noch ein paar Zahlen zum Abschluss. Vor zehn Jahren zählte man im metropolitanen Bereich von Guatemala-Stadt 130 asentamientos precarios mit rund 450 000 Einwohnern, 1991 waren es bereits 230 mit 750 000 Einwohnern, und im Moment spricht man von knapp einer Million Hauptstädtern, welche in extrem prekären Verhältnissen leben. Wenn man diese Zahlen ins Verhältnis zu den allgemeinen Einwohnerzahlen setzt, ergibt sich ein erschreckendes Bild: 1990 schätzte man l 076 725 Einwohner für die Hauptstadt (Municipio de Guatemala) und 1711 000 für den metropolitanen Bereich. Die Volkszählung vom Mai 1994 brachte als vorläufiges Ergebnis geringere Zahlen als die vorausberechneten: 822 427 Einwohner für den Municipio de Guatemala und l 541 780 für den metropolitanen Bereich (8 Municipios außer Guatemala).

Für Interessierte gibt es ausführlichere Information in: GELLERT, Gisela: Ciudad de Guatemala: factores determinantes en su desarrollo urbano (1775 hasta la actualidad); Mesoamerica 27 (1994) 1-68.

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