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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Zehn geläufige Irrtümer oder Lügen über Literatur und Kultur in Lateinamerika

Eduardo Galeano* | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

1. Literatur machen heißt, Bücher zu schreiben

Schriftsteller ist, wer Bücher schreibt, sagt die bürgerliche Denkweise, die alles vierteilt, was ihr in die Hände fällt. Die Unterteilung der schöpferischen Tätigkeit hat ihre Ideologen, die darauf spezialisiert sind, Mauern zu errichten und Gräben auszuheben. Bis hierher, sagt man uns, reicht der Roman; das ist die Grenze des Essays; da beginnt die Poesie. Und bitte keine Verwechslungen: Dort drüben ist die Grenze, sie trennt die Literatur von den niederen Gefilden, jenen Unterarten wie dem Journalismus, dem Lied, den Drehbüchern für Film und Fernsehen, dem Hörspiel. (1)

Die Literatur umfaßt jedoch die Summe all‘ jener geschriebenen Texte, die einer bestimmten Kultur zugehörig sind, unabhängig von der Wertschätzung, die sie im einzelnen verdienen. Ein Artikel, eine Liedstrophe oder ein Drehbuch sind auch Literatur – mittelmäßige oder brillante, entfremdende oder befreiende, so wie jedes Buch eben auch schlecht oder gut sein kann.

In den Schablonen dieser Seelenzerbrecher gäbe es keinen Platz für viele der erfolgreichsten und schönsten literarischen Schöpfungen Lateinamerikas. (…) Der Argentinier Rodolfo Walsh, einer der wertvollsten Schriftsteller seiner Generation, hat den größten Teil seines Werkes im journalistischen Bereich entwickelt, und mit seinen Reportagen hat er unermüdlich Zeugnis abgelegt von der Infamie und der Hoffnung in seinem Land. (…)

Ich frage mich, da ich beim Aufzählen von Beispielen bin, ob es dem Werk von Chico Buarque an literarischem Wert mangelt, nur weil es geschrieben wurde, um gesungen zu werden. Ist denn Popularität eine Ehrverletzung der Literatur? Die Tatsache, daß die Gedichte von Chico Buarque, dem vielleicht besten brasilianischen Dichter der jungen Generation, in aller Munde liegen und in den Straßen gesungen werden -schmälert sie etwa sein Verdienst oder verringert sie seine Bedeutung ? Ist Poesie nur etwas wert, wenn sie auf Papier gedruckt wird, und sei es in nur tausend Exemplaren ?(…)

In einem derart ausschließenden Sozialsystem, wie es in den meisten Ländern Lateinamerikas herrscht, werden wir, die Schriftsteller, dazu gezwungen, alle Ausdrucksformen zu nutzen. Mit Einfallsreichtum und Geschick ist es immer möglich, in den Mauern jener Festung, die uns zum Schweigen verurteilt und uns den Zugang zu den großen Menschenmengen erschwert oder unmöglich macht, ein paar Risse anzubringen. (…)

Ich bin weit davon entfernt, den Wert des Buches als Mittel des literarischen Ausdrucks zu leugnen. Aber es geht einfach darum, endlich seinen Monopol-Anspruch in Frage zu stellen. Dies führt uns zu der nächsten, ebenso falschen, aber recht häufigen Konzeption.

2. Unter Kultur versteht man die Produktion und den Konsum von Büchern und anderen Kunstobjekten

In den meisten Fällen wird diese Behauptung nicht ausgesprochen; dennoch ist sie allgegenwärtig. Dabei greift sie, meine ich, viel zu kurz. Erstens, weil sie die Wissenschaft ausschließt, dieses gesamte Universum wissenschaftlicher Kenntnis, das zur Kultur gehört, das aber konsequent von den Intellektuellen verleugnet wird, die sich den Künsten zugewandt haben. Außerdem wird durch eine solche Behauptung die Kultur zu einer Industrie herabgewürdigt, einer Produktion von Luxusartikeln, die die sogenannte „Massenkultur“ leugnet, welches die eigentliche Kulturindustrie ist, international aufgebaut zur Eroberung der großen Märkte. Und drittens, aber nicht weniger bedeutsam: Dieser Kulturbegriff tut so, als gäbe es keine spontanen und wertvollen Ausdruckformen der Volkskultur. (…)

3. Die Volkskultur kommt aus dem Traditionellen

Aus der Sicht der herrschenden Ideologie ist Folklore sympathisch, aber von geringem Wert. Doch diese väterliche Sympathie läßt ihre Maske fallen und enthüllt ihre schlichte Verachtung, wenn das Kunsthandwerk den heiligen Hain der „Kunst“ betritt. Im Jahr 1977 hat der peruanische Maler Fernando Szyszlo auf seinen Sitz in der Nationalen Kulturkommission verzichtet, weil man, als Exponate Perus, zur Biennale von Säo Paulo eine Auswahl von handwerklichen Stük-ken entsandt hatte. (…) Ich erinnere mich noch an die langen Gesichter so mancher Staffelei-Maler.

In Panama, als ich zu behaupten wagte, daß einige der Wandteppiche der Cuna-Indios von den San Blas Inseln es verdienten, zu den besten zeitgenössischen Schöpfungen der Bildenden Kunst ihres Landes gezählt zu werden.

Für das System ist es klar: Zumindest in der Theorie leugnet niemand das Recht des Volkes, Kultur zu konsumieren, die von Spezialisten erschaffen wurde, auch wenn sich in der Praxis dieser Konsum auf die einfallslosen Produkte der sogenannten Massenkultur beschränkt. Was die schöpferische Kraft des Volkes angeht: Kein Problem, solange sie sich nur im Rahmen hält. Ein paar mehr oder weniger exotische Archetypen, mit schillernden Kostümen, einer sich wiederholenden Sprache, die nichts bedeutet: das „Volkstümliche“ ist das „Pittoreske“. (…)

Aber warum lebt zum Beispiel „Popol Vuh“, das Heilige Buch der Mayas, noch immer, jenseits der Bibliotheken der Historiker und der Anthropologen? Im Laufe der alten Zeiten vom Maya-Quiché-Volk erschaffen, ist dieses anonyme Gemeinschaftswerk nicht nur weiterhin einer der literarischen Höhepunkte Lateinamerikas. Für die indigene Mehrheit der guatemaltekischen Gesellschaft ist es auch ein wunderschönes und scharfes Werkzeug, denn die Mythen, die es enthält, leben weiter in der Erinnerung des Volkes, das sie erschaffen hat. (…)

Diese authentische Nationalkultur, die in einigen Teilen Lateinamerikas eine sehr starke Verwurzelung im Volke hat, wirkt nicht wie die Reproduktion der herrschenden Kultur. Im Gegenteil: Das fast vollständige Fehlen schöpferischer Phantasie bildet eine der herausragenden Eigenarten unserer herrschenden Klassen. (…)

Aber während die herrschende Kultur das Wissen verteilt – oder besser gesagt: Unwissen verteilt -kann eine andere, aufstrebende Kultur die Ver-ständigungs- und Schöpfungsmöglichkeiten der großen und bisher zum Schweigen verurteilten Mehrheiten entfesseln. Diese Kultur der Befreiung nährt sich aus der Vergangenheit, verbleibt aber nicht in ihr. Von fernen Zeiten kommen einige der Symbole unserer kollektiven Identität, die uns heutigen Lateinamerikaner dazu befähigen, neue Freiräume der Partizipation, Kommunikation und Begegnung zu eröffnen; aber diese Symbole leben nur in dem Maße, wie sie vom Wind der Geschichte in Bewegung gehalten werden. (…)

4. Der Schriftsteller erfüllt eine zivilisatorische Aufgabe

Das Sendungsbewußtsein des Schriftstellers, der seinem Handwerk eine religiöse Bedeutung beimißt und die sich daraus ergebenden Privilegien einklagt, stammt in Lateinamerika in direkter Linie von der romantischen Tradition und der liberalen Ideologie ab, die das Buch vergöttern, als wäre es eine Schatztruhe der Zivilisation. Ein jeder, der schreibt, veröffentlicht und einen Leser außerhalb seiner Familie erreicht, fühlt sich schon als Auserwählter. (…)

Die meisten lateinamerikanischen Länder sind weit davon entfernt, Gesellschaften zu sein, in denen die Schöpfung nicht mehr ein Privileg ist, sondern ein kollektives Recht. Karl Marx sagte einmal, die Kunst sei die höchste Freude des Menschen. Ein Bedürfnis für alle, aber ein Luxus für wenige. Wir Schriftsteller kommen aus einer Minderheit, für die wir schreiben, auch wenn uns der Vorsatz und die Hoffnung antreiben, uns allen Menschen mitzuteilen. (…)

Lenin lästerte über die mildtätigen Intellektuellen, „die tatsächlich glauben, es reiche aus, den Arbeitern vom Leben in der Fabrik zu erzählen, und ihnen etwas einhämmern, das sie schon längst kennen.“ Dieser väterliche, wiederholende und langweilige Unterton breitet sich nicht nur in so manchem Roman des „sozialistischen Realismus“ aus, sondern er findet sich auch in sehr vielen politischen Dokumenten, Zeitschriften und Flugblättern der lateinamerikanischen Linken wieder. (…)

5. Eine wahre Demokratie ist jene, die den Schriftstellern und Künstlern die Meinungsfreiheit garantiert

Diese für das liberale Gedankengut so typische Auffassung sieht die Schriftsteller und Künstler abseits aller Wirren und Unbilden des Lebens. Sie behütet das Wohlergehen der Dichter, aber sie kümmert sich nicht um das Schicksal der Metallarbeiter, der Sekretärinnen, der Maurer oder der Landarbeiter. Für gewöhnlich hören wir wütende Proteste gegen die konjunkturelle Zensur, die aber geflissentlich die strukturelle Zensur übersehen. Man verurteilt das Verbot, die Ermordung, die Verhaftung oder die Vertreibung der Schrifsteller, die Plünderung von Bibliotheken, die Schließung von Zeitungen und die Bücherverbrennungen, als seien dies alles nur „Auswüchse“ und „willkürliche Überschreitungen“ und nicht die dramatischen Konsequenzen eines Systems, das sich nicht anders zu helfen weiß, als auf die Gewalt zurückzugreifen, um das wachsende Heer der Arbeitslosen, Verzweifelten und Verdammten stillzuhalten.

Ein Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO belegte vor einigen Jahren, daß in Lateinamerika hundertzehn Millionen Menschen in „sehr großer Armut“ leben. Wird denn etwa keine strukturelle Zensur verhängt gegen eine derart große Menschenmenge, wenn man ihr den Zugang zu den Büchern und den Zeitschriften verwehrt, obwohl diese frei verkäuflich sind? Wie sollen diese Menschen lesen, wenn sie nicht lesen können oder kein Geld haben, um sich das zu kaufen, was sie lesen wollen? Ist es etwa keine strukturelle Zensur, die in unseren Gesellschaften die Meinungsfreiheit und die Schaffensfreude für eine privilegierte Minderheit reserviert, während sie Augen und Mund aller anderen verschließt ? (…)

6. Man kann nicht von einer lateinamerikanischen Kultur sprechen, denn Lateinamerika ist nur eine geographische Realität

Nur eine geographische Realität? Und sie bewegt sich doch. In den – zuweilen winzigen – Taten offenbart Lateinamerika jeden Tag so viele Gemeinsamkeiten wie Gegensätze; wir Lateinamerikaner teilen uns einen gemeinsamen Raum, nicht nur auf der Landkarte. Sehr wohl wußten dies die Helden, die zu Anfang des letzten Jahrhunderts Lateinamerika, wenn auch vergeblich, einigen wollten – aber auch das erfolgreiche Imperium, das dieses Lateinamerika Zug um Zug auseinandergebrochen hat, um es zu beherrschen. Und sehr wohl wissen das auch heute die multinationalen Unternehmen, die ihre Geschäfte im lateinamerikanischen Maßstab planen, und die nach Gutdünken die Mechanismen der Integration lenken. (…)

Von dem ausgehend, was uns verbindet, und auf der Grundlage der Achtung unserer unzähligen nationalen Identitäten, ist Lateinamerika ein Werk, das erst noch vollendet werden muß. (…)

Mit beredter Leichtigkeit nehmen unsere wahrhaftigen, aber bisher unverbundenen Kulturen Kontakt miteinander auf, wenn man sie denn läßt. Viele Gründe und Geheimnisse lassen uns als winzige Teile eines großen Vaterlandes fühlen, wo Menschen aus aller Welt und aus allen Kulturen sich über die Jahrhunderte getroffen haben, um sich zu vermischen und zu sein. (…)

7. Die große Aufgabe der neuen Literatur Lateinamerikas besteht in der Erfindung einer neuen Sprache.

Der Vergangenheit gehören – glücklicherweise -die romantisierenden Romanschinken an, ebenso der Paternalismus der „indigenistischen“ Schriftsteller und der verlogene „Nativismus“, die in den Metropolen und für diese geschrieben wurden. In den letzten zwanzig oder dreißig Jahren hat die lateinamerikanische Literatur ein neues Bewußtsein von  der Realität an den Tag gelegt, das in einigen jugendlichen Bereichen der Mittelklasse ausgebrütet wurde und das sich auf kultureller Ebene mit der gleichen Kraft entfaltete wie auf der politischen. (…)

Die neueste Mode der kulturellen Haute Couture kommt bei uns, wie auch alles andere, mit Verspätung an, wenn sich in den europäischen Metropolen schon kaum einer mehr für sie interessiert. Die Pierre Cardin der Schriftstellerei haben in Paris diese Theorie erfunden, oder besser gesagt, wiedererweckt, denn sie ist schon alt; und die Kopisten haben sie auf die neu aufkommende lateinamerikanische Literatur angewandt, um sie des kritischen Inhalts zu berauben. (…)

Die Verkürzung der Literatur auf das reine Feuerwerk verrät auf der ästhetischen Ebene einen Kult der Formen, der dem gleichkommt, was auf politischer Ebene zur Verwechslung zwischen Demokratie und Wahlen führt. Ebenso verrät es eine Verwechslung von Mittel und Zweck, ähnlich jener der Technokraten, die auf wirtschaftlichem Sektor meinen, der Fortschritt sei das letzte Ziel einer jeden Gesellschaft.

8. Lateinamerika hat eine üppige Natur: seine Literatur ist folglich barocker Art

Es kommt hier nicht darauf an, die tausendundei-ne Theorie über das Barock zu diskutieren. (…) Es wäre unmöglich, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Jeder versteht das Barock auf seine Art: für die einen bezeichnet dieses Wort eine bestimmte Stilart, für andere wiederum eine Epoche der Kunstgeschichte. Eigentlich findet jeder Theoretiker in diesem Wort genau das, was er ihm zuvor eingebleut hat. (…)

Die lateinamerikanische Literatur ist barock, so sagt man uns, weil sie die Sprache des Urwalds spricht – als ob die Sprache des Urwalds die einzig mögliche wäre in einer Region mit großen Städten, weiten Wüsten, Steppen, Kordilleren und Pampas, und als ob es tatsächlich „eine“ Sprache des Urwalds gäbe. (…)

Das mit dem barocken Stil ist ein Klischee, so falsch wie jedes Klischee. Es bezieht sich auf die verschwenderische Sprache, und es entspricht dem weit verbreiteten Gedanken, ein lateinamerikanischer Roman müsse sich, um gut zu sein, über viele Seiten ausbreiten und vieler Wörter bedienen. Ein solch willkürliches Merkmal würde aber aus der lateinamerikanischen Literatur viele ihrer besten Schriftsteller ausschließen, wie zum Beispiel Juan Rulfo, einen Mann schlichter und wortkarger Prosa: das Gesamtwerk Rulfos, eines der besten Erzähler der Welt, umfaßt weniger als dreihundert Seiten.

Ein anderer großer Romancier Lateinamerikas, Alejo Carpentier, benutzt den Ausdruck „barock“ in einem Sinne, der überhaupt nichts gemein hat mit dem überladenen, leeren und hochtrabenden Diskurs anderer Schriftsteller. Für Carpentier entstammt das Barocke der Vermischung der verschiedenen Stile und Kulturen, die in unseren Ländern „die wunderbare Wirklichkeit“ hervorbrachte, und dieser Barock hat einen originären und vitalen Sinn, der in keiner Weise etwas mit dem kolonialen Blick zu tun hat, der uns von außen in eine exotische Landschaft versteinert und in Bilder für den Export. Im Werk von Carpentier wird der Stil, den er barock nennt, benutzt, um die Wirklichkeit zu benennen und neu zu entdecken… Wenn man Carpentier, Lezama Lima, Guimaraes Rosa oder Jorge Enrique Adoum liest, bekommt man den Eindruck und die Gewißheit, daß die Komplexität des Stiles genau der Komplexitität der Welt, die sie ausdrückt, entspricht (…)

9. Die politische Literatur behandelt politische Themen; die soziale Literatur behandelt soziale Themen.

Gibt es denn überhaupt ein literarisches Werk, das nicht politisch und sozial ist? Sozial ist ein jedes, denn es gehört zur menschlichen Gesellschaft; und auch politisch, nämlich in dem Maße, in dem das gedruckte Wort immer auch Beteiligung am öffentlichen Leben bedeutet – ob der Autor es nun will oder nicht, es weiß oder nicht. (…)

Die Literatur kann, so glaube ich, einen politisch befreienden Sinn beanspruchen, wenn sie dazu beiträgt, die Realität in ihren vielfachen Dimensionen aufzudecken, und wenn sie auf irgendeine Weise die kollektive Identität nährt oder das Andenken der Gemeinschaft rettet, der sie entspringt… So kann, von diesem Standpunkt aus gesehen, ein Liebesgedicht politisch fruchtbarer sein als ein Roman über die Ausbeutung der Bergarbeiter in den Zinn-Minen oder der Arbeiter auf den Bananenplantagen. (…)

In einer kürzlich erschienenen Arbeit sagt Pedro Orgambide, daß er die Vermutung hege, der „Canto General“ von Pablo Neruda sei in den vermeintlich unpolitischen Passagen des Textes besonders politisch. Mir scheint, daß dieser Verdacht wohlbegründet ist. (…) Ich teile nicht die -fast einhellige – Meinung, „Das Buch von Manuel“ sei das engagierteste Werk Julio Cortazars, ebenso wie mir „Der Herbst des Patriarchen“ von Gabriel Garcia Marquez im politischen Sinne nicht so reichhaltig erscheint wie „Hundert Jahre Einsamkeit“, auch wenn in diesem großen Roman die politische Anklage nicht im Vordergrund steht.

10. Die Literatur kann bestenfalls die Wirklichkeit interpretieren; aber sie ist nicht in der Lage, sie zu verändern.

Indem sie die Realität interpretiert, sie wiederentdeckt, kann die Literatur dazu beitragen, diese besser zu kennen. Und man muß sie kennen, um sie zu verändern: Es hat keinen einzigen Fall sozialen und politischen Wandels gegeben, der sich nicht aus einer bewußten Ergründung der Realtität entwickelt hätte. (2)

Die Werke der „Fiction“, wie man sie nennt, erschließen einem für gewöhnlich viel besser die verborgenen Dimensionen der Wirklichkeit als die der „No-Fiction“. In einem berühmten Brief schrieb Engels, daß er von den Romanen Balzac’s mehr gelernt habe, über gewisse Aspekte der Ökonomie, als von all‘ den Büchern der Wirtschaftsgelehrten seiner Zeit(3). Keine soziologische Studie kann uns mehr über die Gewalt in Kolumbien sagen als der kurze Roman „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt‘ von Garcia Märquez, in dem, soweit ich mich erinnere, nicht ein einziger Schuß fällt; oder auch „Die Stadt und die Hunde“ von Mario Vargas Llosa, das die Gewalt in Peru besser durchleuchtet als jede andere Abhandlung über dieses Thema. (…)

Die Romane und Erzählungen von Jose Maria Arguedas legen beredtes Zeugnis von der Zerschlagung der indigenen Kulturen Lateinamerikas ab. Der Roman von Augusto Roa Bastos, „Ich, der Allmächtige“, eröffnet einen viel größeren Zugang zu der Geschichte Paraguays zu Zeiten von Caspar Rodriguez de Francia als jedes Geschichtsbuch. Die derzeitige Zersetzung Uruguays wurde mit meisterlicher Hand von Juan Carlos Onetti in „Die Werft“ vorausgeahnt. Gibt es einen besseren Schlüssel als die Bücher von Asturias, um in Guatemala einzutreten? Ist es nicht der Hauch von Leben und Tod des heutigen Argentiniens, der mit Sanftmut und Wut die Gedichte von Juan Gelman beflügelt? Und EI Salvador und Nikaragua, diese kleinen tapferen Länder – sprechen sie nicht aus dem Munde eines Roque Dalton und eines Ernesto Cardenal?

Die Wirklichkeit zu enthüllen heißt nicht, sie zu kopieren. (…) Sehr zutreffend sagte Mario Benedetti in einer kürzlich erschienenen Arbeit, daß eine Erzählung wie „Das gestürmte Haus“ von Julio Cortazar (4), obwohl es eine phantasische Erzählung ist, mit der Wirklichkeit stärker verbunden sei, als die akkurat geführten Inventarlisten so mancher Autoren des Nouveau Roman in Frankreich. Mit trefflichen Symbolen gibt „Das gestürmte Haus“ das Dünkirchen einer sozialen Klasse wieder, die allmählich von etwas vertrieben wird, dem sich entgegenzustellen sie nicht den Mut besitzt. (…)

Der Wert eines Textes ließe sich sehr wohl an dem messen, was er bei denen auslöst, die ihn lesen. Die besten Bücher, die besten Essays und Artikel, die trefflichsten Gedichte und Lieder können nicht ungestraft gelesen oder gehört werden. (…)
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* geb. 1940 in Montevideo, Uruguay; Journalist arbeitete in Uruguay bei verschiedenen linken Zeitungen (El Sol, Marcha; Epoca). 1973-85 Exil in Argentinien und Spanien.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Peter Hammer Verlages Wuppertal.

(1) Das Werk des Kubaners José Marti zum Beispiel, wurde vor allem zur Veröffentlichung in Zeitungen geschrieben – der Lauf der Zeit bewies, daß diese Texte sowohl dem Moment als auch der Geschichte gehören.

(2) Die Gedichte Nerudas haben eine größere Kraft und sind politisch tiefgründiger in „Höhen des Machu Picchu“ als auf jenen Seiten, die der Verurteilung einiger Diktatoren oder der Freveltaten der United Fruit Company gewidmet sind.

(3) Das beste Werk politischer Ökonomie im Argentinien des letzten Jahrhunderts ist ein Gedicht über einen widerborstigen Gaucho namens Martin Fierro.

(4) Vgl. hierzu auch die Ausführungen von C. Gatzemeier in diesem Heft

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