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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Luis Sepúlveda: „Die neue chilenische Erzählung ist nur ein Firlefanz“

Enrique Portilla Fuentes* | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Die Wege dieser Welt kreuzten sich bei Luis Sepülveda, schon bevor er geboren wurde: „Ich entstamme einer sehr eigenartigen Mischung, zu der ein Andalusier und eine Baskin sowie der Nachfahre eines Mapuche-Kaziken und einer Italienerin beigetragen haben.“

Auf dem Tisch liegen zwei Schachteln Zigaretten unterschiedlicher Marken, die er je nach der Intensität des Gesprächs oder nach dem Geschmack des Getränks im Mund einschiebt.

„Es ist eine Mischung des Blutes, die aus mir einen perfekten Bastard macht“, setzt er hinzu.

In diesem Jahr wird er mindestens vier neue Bücher auf den Markt bringen:

„Im März erscheint in Spanien ein Buch mit Erzählungen, das ziemlich merkwürdig ist: Wenn Du es Stück für Stück liest, sind es Erzählungen, aber wenn man es von Anfang bis Ende liest, ist es ein Roman, dann ist jede Erzählung ein Kapitel. Im Oktober erscheint ein zweiter Roman, auch in Spanien, mit einer Hauptfigur wie dem alten Zahnarzt, denn dieser Roman [„Der Alte, der Liebesromane las„] war eigentlich als erster Teil einer Trilogie des Amazonas konzipiert, die schon seit Jahren fertig ist, die ich aber nicht publizieren wollte, um nicht in dieses große Risiko zu geraten, das der kommerzielle Erfolg mit sich bringt: daß sie dich nur noch mit einer einzigen Sache identifizieren. Hier in Mexiko werde ich 1995 einen Erzählband und einen Roman für Kinder veröffentlichen. Zur Zeit schreibe ich an mehreren Romanen, die auch nach und nach erscheinen werden.“

Nach seinem Rücktritt als Direktor der Escuela de Teatro de la Universidad de Chile (Theaterschule der Universität von Chile) 1971 beschleunigte das Leben von Luis Sepúlveda seinen Schritt, um den Weg zu nehmen, den es noch zu gehen hat. Und es gesellt sich zu den sozialen Bewegungen jener Jahre, „was für mich die Folge hatte, für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis und danach ins Exil zu gehen. Dieses Exil war eine lange Kreuzfahrt, die mich durch ganz Lateinamerika führte, bis ich 1980 nach Europa übersiedelte und mein Hauptquartier in Hamburg aufschlug.“

Im Dezember kam er nach Mexiko, um seinen neuesten Roman vorzustellen: „Der Name des Torero“, der eindeutig in die Reihe der sogenannten „Schwarzen Romane“ gehört, aber auf seine Weise auch einem anderen Aspekt des Grundanliegens Sepúlvedas gerecht wird: der Rückgewinnung des kollektiven Gedächtnisses.

Als Gegenströmung zum Vergessen bezeichnet er dies, als „eine Abrechnung; es sind 15 Jahre lateinamerikanischer Geschichte, die nicht ignoriert werden können – da habt ihr sie“. „Um den Strom des Vergessens aufzuhalten“, fügt er hinzu, Paco Ignacio Taibo I. zitierend.

„Neben vielen anderen bezeichnenden Beispielen, die das etablierte kollektive Verdrängen widerspiegeln, hat sich in der letzten Zeit eine Generation von ziemlich jungen Schriftstellern von 30 bis 32 Jahren hervorgetan, die durch den Verlag Planeta mit dem Etikett der ’neuen chilenischen Erzählung‘ popularisiert wurden. In Wahrheit – ich bin wirklich kein schlechter Mensch – aber von diesen acht Autoren gibt es nicht einen, der schreiben kann, aber schon jetzt hat jeder von ihnen zwei Romane herausgebracht. In diesen zwei Romanen taucht die Zeit von 1970 bis 1989 einfach nicht auf. Das ist Literatur light, Firlefanz, um es deutlich zu sagen. Jemand hat die Seiten der Kalender herausgerissen; es ist eine Ungehörigkeit, davon zu sprechen, es ist heute nicht schicklich, von Verschwundenen, Folter, Exil zu reden.“

Der Weltenbummler, der heute einen Teil seiner Zeit im deutschen Schwarzwald verbringt, einen anderen in Paris und einen dritten „irgendwo“, hatte damals begonnen zu gehen. Zu gehen und zu schreiben.

P.F.: „Ich les dir etwas vor: ,Eine totalitäre Empfindung ist die, in einem Land zu sein, das man nicht liebt, ein Gefühl, das, früher oder später, erwidert werden wird…‘ Du sagst: ,Es ist das Niemandsland, das einige euphemistisch ‚Exil‘ nennen.‘ Sprechen wir davon!“

S.: „Die Wahrheit ist, daß ich niemals in einem Land gewesen bin, das ich nicht mag, das ist mir neu. In keinem Land, in dem ich gelebt habe, habe ich lange gebraucht, um Freunde zu finden, mich zu Hause zu fühlen. Das Exil… ich habe es nie als eine traumatische Situation empfunden, ich wußte immer, daß sie veränderbar war. Ich konnte sie ändern, illegal nach Chile zurückkehren, wenn ich das wollte, aber ich habe mir vorgenommen, ein bißchen mehr von der Welt zu sehen, ein bißchen mehr von meiner eigenen Realität kennenzulernen, als die beste Art, mich selbst zu begreifen. Wirklich, in der zweiten Woche, die ich im Exil verbrachte, begann ich es als ein Stipendium für Reisen und Studien zu verstehen: Ruhig, sagte ich mir, du bist nicht im Exil, sondern du genießt das Stipendium des Generals Pinochet, das dir erlaubt, ein wenig von der Welt kennenzulernen. Und das Exil auf diese Art zu verstehen, bedeutete zum Beispiel, daß ich nie in irgendeinem Land um politisches Asyl bat, denn das hatte mit meiner persönlichen Würde zu tun. Ich sagte mir: Nein, einen Moment, wenn ich mein ganzes Leben gegen dieses Scheißsystem gekämpft habe, werde ich jetzt nicht auf Knien rutschen, um die Erlaubnis zu bekommen, irgendwo bleiben zu dürfen. Ich bleibe, wo es mir gefällt und ich gehe, wann es mir gefällt. Wenn das Gesetz mir verbietet zu bleiben, ist das nicht mein Problem – ich habe diese Rechtsprechung nicht erfunden, und deshalb betrifft sie mich auch nicht. Ich beherrsche die Gesetze des Untergrunds, ich kann in jedem Land bleiben – und so machte ich es. Deshalb sage ich Dir: Ich habe mich immer wohl gefühlt in allen Ländern, in denen ich gewesen bin… Wegen eines Informationsproblems ist von Deutschland leider nur das Schlechte in der Welt bekannt, z.B. das Wiederaufkeimen von Rassismus und Faschismus, das ich in diesem Roman schildere, aber ich schildere auch diese große Solidarität bei einigen Nebenfiguren wie diesem Barmann oder den anderen, die versuchen, der Hauptfigur zu helfen. Was man nämlich nicht weiß über Deutschland, ist, daß es dort eine ungeheure antifaschistische Bewegung gibt, und es ist das einzige europäische Land, in dem so etwas Fantastisches existiert wie eine Zivilgesellschaft, die den Mut hat, auf die Straße zu gehen und zu sagen ,NEIN!‘. Ich bin in Deutschland Mitglied einer politischen Organisation, die eindeutig anarchistisch ist, der „Schwarze Block“; das sind die besseren Deutschen, ich bin sehr glücklich mit ihnen und lebe weiter in Deutschland, weil sie zu verlassen für mich wie desertieren wäre, es wäre Feigheit.“

P.F.: „In „Nombre de Torero“ erklären sich zwei Personen, die auf ihr Leben zurückblicken, bereit, als Investigatoren zu wirken. Die zwei haben viele gemeinsame Züge: gleiches Alter, gleiche Gesellschaft, die gleiche Tragik. Liegt in dieser antagonistischen Parallele ein über die Ideologie hinausgehendes Konzept vom Menschen?“

S.: „Nein. Zuerst einmal bin ich nicht einverstanden mit einer Voraussetzung: die beiden teilen nicht dieselbe Tragik. Die beiden Figuren laden dazu ein, darüber nachzudenken, was von einem blieb, der für den Sozialismus kämpfte und von einem anderen, der im sogenannten real existierenden Sozialismus lebte. Von dem, der den sogenannten realen Sozialismus lebte – und dies entspricht einer ziemlich konkreten und unerbittlichen Realität -, blieb überhaupt nichts; auf der anderen Seite, von dem anderen blieb etwas Grundlegendes: es blieb seine moralische Integrität, und das kann niemals tragisch sein.“

P.F.: „Aber es ist die Tragik zweier Männer, die dem Zusammenbruch ihres Lebens zusehen müssen, eine Tragik der Einsamkeit…“

S.: „Das ist die Leere, aber auch hier gibt es keine Parallele, denn die Figur des Franz Galinsky erlebt diese Tragik, weil seine Frau sehr schnell versteht, nach welchen Regeln der Kapitalismus der Konkurrenz funktioniert: Unehrlichkeit und der Wille zu gewinnen, wo es irgend möglich ist, das heißt: keine Minute zu verlieren, time is gold. Der andere sieht seine Partnerschaft der Sache geopfert, der sich beide ganz verschrieben haben; sie ist ihnen nicht aus den Händen geglitten, denn die Chance dieses Paares wurde der Menschenwürde geopfert; das ist ein großer Unterschied.“

P.F.: „Sprechen wir von dem Weg, den Dein erster Roman,Der Alte, der Liebesromane las‘ zurückgelegt hat, seit du ihn geschrieben hast, bis er schließlich das Publikum erreichte. Es gab viele Schicksalsfälle… „

S.: „Dieser Roman ist viele Wege hin und zurück gegangen. Zuerst habe ich sehr lange gebraucht, um ihn zu schreiben, denn er basiert auf einer persönlichen, sehr intimen und prägenden Erfahrung für mich. Ich hatte das Glück, sieben Monate mit Indianern des Amazonasgebiets zusammenzuleben, und dieses Zusammenleben veränderte mein Weltbild. Ich begriff, daß das, was ich bis zu diesem Moment wiedergekäut hatte, wie ein Steinzeitmarxist, nichts mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit zu tun hatte. Ich hatte für eine Vereinheitlichung des Kontinents gekämpft, ohne zu wissen, daß das Wunderbarste, das wir hatten, diese Vielfalt der Kulturen, dieser kulturelle Reichtum war.

Bis 1977 war ich davon überzeugt, daß man in Lateinamerika Spanisch, Portugiesisch und ein bißchen Englisch spricht, vielleicht noch Quechua und Aymara. Ich hatte keine Ahnung, daß allein in der Amazonasregion 180 verschiedene Sprachen gesprochen werden, die total unbekannt sind; daß es 180 Arten gibt, zu kommunizieren und die Welt zu betrachten, daß es möglich ist, ein anderes Verhältnis zu Leben und Tod zu haben, zum ganzen Kreislauf der Natur. Ich habe so lange zum Schreiben gebraucht, weil ich etwas wollte, das unerbittlich ist, und keine simple Einladung für Eindringlinge, die nichts mit dem Amazonas zu tun haben, sich dort einzumischen.

Ein Freund regte mich an, diesen Roman zu schreiben. Deshalb glaube ich an die Freundschaft. Ein Freund, dem das Buch gewidmet ist: Chico Mendes, Führer der Gummizapfer in Brasilien.

Es gab ein paar Rezensionen in der Presse Asturiens; von dieser Ausgabe sind im besten Falle 500 Exemplare verkauft worden.

Dann, als ich 1989 nach Chile zurückkehrte, hatten meine Freunde dort, vor allem Jüan Pablo Cárdenas, beschlossen, mich mit einer chilenischen Ausgabe des Buches zu empfangen. Diese chilenische Ausgabe – es war ein Seh…buch, das von allein auseinanderfiel, schlecht gedruckt, schlecht gebunden – dieses Buch gelangte nach Deutschland. Nach einiger Zeit erreichte mich ein Angebot eines Verlags, sie übersetzten es, und es wurde ein Verkaufserfolg in Deutschland, wo so etwas sehr selten ist: ein Roman, den niemand kennt, dem keine einzige Empfehlung der Kritiker vorausgeht. Der Verlag präsentierte ihn auf der Frankfurter Buchmesse 1992, die Spanien gewidmet war. Und natürlich erwarteten alle, daß ein Spanier der meistverkaufte Autorder Messe sein würde, aber ich verkaufte in der einen Woche 170.000 Exemplare des Romans. Die Franzosen interessierten sich dafür; sie verlegten es, und es wurde ein wunderbarer Erfolg. Und über Frankreich kam es zurück nach Spanien, und über Spanien schließlich nach Mexiko und Lateinamerika, in einer besseren Ausgabe. Es war eine kuriose Weltreise.“

Übers, aus dem Spanischen: Anka Schmoll
Aus: La Jornada Semanal, Nr. 296, 12.02.95

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* geb. 1949 in Chile, nach Engagement in Gewerkschaften Exil in Equador, gründet Theatergruppen in Peru, Kolumbien und Equador, arbeitet als Journalist, seit 1980 in der BRD.

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