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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Trench Town Rock

Mario Vargas Llosa | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Noch vor dem unausweichlichen Vormarsch der Kräfte Cromwells, die 1655 Jamaika überfielen, befreiten die spanischen Kolonisten ihre 50.000 Sklaven, welche im Dunkeln verschwanden. Sie tauchten in den folgenden Jahrhunderten wieder auf, geschmückt mit dem Namen „maroons“ (entstanden aus einem wilden Schrei) und einem widerspenstigen Nimbus.

Inmitten dieses ungebändigten Geschlechts wurde 1887 Marcos Garvey geboren, Apostel der Schwarzen und ihrer Rückkehr von Amerika nach Afrika. Ohne ihn hätte der Rastafari-Kult niemals die jamaikanischen Grenzen so bedeutend werden lassen, und ohne dessen Predigt wäre Bob Marley nie der gewesen, der er war.

Marcos Garvey weist man die prophetische Bemerkung zu (die Historiker diskutieren darüber): „Schaut auf Afrika, wo man einen schwarzen König krönen wird. Er wird der Erlöser sein.“ Jahre später, 1930, wurde in Äthiopien Ras Tafari Makonnen zum Herrscher erhoben und zum Negus (König der Könige) proklamiert. An den Bäumen und Dächern der Dörfer und an den Mauern der Ghettos Jamaikas begannen fromme Nachbildungen des Antlitzes von Haue Selassie zu erscheinen und das Grün, Rot und Gold der äthiopischen Fahne. Die Anhänger der neuen Religion stammten aus den armen Schichten und ihre Lehre war einfach. Jah (Abkürzung von Jehova) würde in einer geheimen Stunde das schwarze Volk auf der Rückkehr nach Äthiopien führen, indem er es aus dem Babylon herausbringt (der von den Weißen, dem Laster und der Grausamkeit beherrschten Welt). Der Moment kam, denn Jah war in dem Monarchen von Addis Abeba wiedergeboren. Die Rastas mieden den Alkohol, den Tabak, das Fleisch, die Meeresfrüchte und das Salz, und sie folgten dem Gebot der Leviten (25:5), sich weder die Haare noch die Barte und Nägel zu schneiden. Ihr Abendmahl und ihr grundlegender Ritus war die Ganja oder Marihuana, eine durch den König Salomon veredelte heilige Pflanze, auf dessen Grab sie sproß.

Das erste Mal, daß Bob Nesta Marley einen Rasta erblickte, war in Nine Miles, einem Weiler der Pfarrei St. Arm, wo er 1945 geboren wurde. Er war der Sohn einer Schwarzen und eines Weißen, der sie heiratete, aber kurz darauf wieder verließ; dieser Mischlingsjunge lauschte fasziniert den mittelalterlichen Geschichten vom Zauberer Juan, mit denen der Hexer des Ortes, ein begeisterter Geschichtenerzähler, die Bauern unterhielt. Die Erscheinung des Mannes, der ein Schlangennest auf dem Kopf trug, einen verschwommenen Blick hatte und anstatt zu gehen, zu schweben schien, erschreckte den Jungen, der jene Nacht von ihm träumte. Seine Bekehrung zum Rastafari-Kult sollte viel später geschehen.

Nine Miles muß sich seit damals nicht verändert haben. Es ist immer noch ein kleines niedriges Dorf in den Höhen einer steilen Kordillere, in das man nach der Überquerung eines unendlich langen Pfades von Kurven und Abgründen gelangt. Die Holzhütte, wo Bob Marley geboren wurde, existiert nicht mehr. Die Fans sind dabei, sie aus Zement zu rekonstruieren und sie haben einen Ganja-Strauch an der Schwelle gepflanzt. Sein Grab liegt etwas höher, auf dem anderen Hügel, den man zu Fuß erklimmen muß und von dem man, so wird mir gesagt, an dem traurigen Tag seiner Beerdigung einen menschlichen Ameisenhaufen von mehreren Kilometern wahrnehmen konnte. Dort befindet sich der Stein, wo er sich meist zum Meditieren und Komponieren niederließ, und auch seine Gitarre. Ein durch Äthiopier bestickter Wandteppich schmückt das Grabmal, welches man barfuß betritt und von dem wie Votivbilder Fotografien hängen, Tagebuchausschnitte, Wimpel, bis hin zum Emblem seines Autos, einem BMW, der seine Lieblingsmarke war, denn dessen Initialen vereinigten seinen Namen und den der Musikgruppe, mit der er berühmt wurde: The Wailers.

Der Rasta, der uns führt, empfängt gleichzeitig mit dem nordamerikanischen Paar, das sich in unseren Jeep eingeschmuggelt hat, die Heilige Kommunion. Die Besichtigung umfaßt einen Weg durch ein ausgedehntes Feld von heiligen Pflanzen. Da Marihuana theoretisch in Jamaika verboten ist, frage ich den Kommunikanten, ob es nicht Probleme mit der Polizei gegeben hätte. Er zuckt die Achseln: „Manchmal kommen sie und reißen’s raus. Und was ist? Sie wachsen von neuem. Sind sie vielleicht nicht Landsleute?“ Das Verbot ist rein formal. Vor einigen Tagen verkaufte man bei einem Reggae Bashi oder open-air-concert in Ocho Rios die Ganja in Fasern oder zu Spliffs gedreht vor den Blicken aller Welt und die Verkäufer riefen sie aus wie Erfrischungsgetränke oder Bier. Und ich glaube nicht, je an einem öffentlichen Ort in Jamaika gewesen zu sein, wo man mir sie nicht angeboten hätte, oder wo ich nicht irgend jemandem gesehen hätte -und nicht nur Rastas- der sie rauchte.

Aber es ist weder in Nine Miles noch in seinem Wohnsitz von Hope Road, den sein Produzent auf dem Höhepunkt seiner Karriere kaufte und der jetzt zu einem Museum umfunktioniert wurde, welches seinem Andenken gewidmet ist, wo man den Geheimnissen von Bob Marley nachspüren kann. Sondern im Armenviertel von Trench Town an der westlichen Peripherie der jamaikanischen Hauptstadt; es war in diesen gewalttätigen und spirituellen Straßen, in welchen er seine Kindheit und Jugend verbrachte, wo er zum Rasta und Künstler wurde und wo man noch heute den sozialen Dunst seiner Philosophie und seiner Musik atmen kann. Die Fliegen und die hohen Müllkippen, die bunte Ansammlung von Abfall, mit dem die Armen ihre Behausungen zusammengebaut haben, in denen sie dahinvegetieren, sind identisch mit jedem beliebigen Elendsviertel der Dritten Welt. Der Unterschied besteht darin, daß man hier mit jedem Schritt, außer auf Schmutz, Hunger und Gewalt, auf die Ausstrahlung dieser „im wilden Zustand befindlichen Religiosität“ stößt, die Claudel in der Poesie Rimbauds fand. Sie strömt vom bärtigen Antlitz des Leon von Judäa aus und von den abessinischen Farben, die auf Tafeln, Brüstungen und Wellblechen erscheinen und von den merowingischen Mützen, unter denen die Fußball spielenden Rastas ihre Zöpfe gesteckt haben. Als Junge, noch bevor der Guru Mortimo Piano ihn bekehrte und ihn auf einen mystischen Weg führte, den er niemals aufgeben sollte, setzte sich der Bob Nesta Marley auf den Straßen als Bandenführer, Fußballspieler und Raufbold durch; er muß eine Art Rimbaud gewesen sein: erzengelhaft und dämonisch, schmuck und gemein, grob und genial.

Wie der Rastafari-Kult ist der Reggae angehäuft mit dem Schweiß und dem Blut Trench Towns. In ihm mischen sich atavistische Rhythmen der Stämme, aus denen die Ahnen herausgerissen und zum Sklavenmarkt gebracht wurden, an den eine Mauer nahe des Elendsviertels erinnert, das Leiden und der Zorn, angestaut in den Jahrhunderten der Knechtschaft und Unterdrückung; eine messianische Hoffnung, entsprungen aus einer frommen Bibellektüre, das Sehnen nach einem mythischen Afrika, geschmückt mit prächtigen Phantasien von Eden und ein verzweifelt narzißtisches Streben, aufeinandertreffend und sich verlierend in der Musik.

Bob Marley erfand nicht den Reggae, der in den sechziger Jahren, als The Wailers in dem rustikalen Studio One von Kingston gerade ihre ersten Platten aufnahmen, von The Skatalites und anderen jamaikanischen Bands entwickelt wurde. Und trotz des Widerstandes der Obrigkeit, die in ihren Liedtexten eine Anstiftung zu Rebellion und Kriminalität sahen, hatten sie die Musik schon als populärste durchgesetzt und ihr einen unverwechselbaren persönlichen Stempel aufgedrückt; und dies hob die Würde des religiösen Ritus und der politischen Wahrheit. Die Poesie, die ihr eingehaucht wurde, brachte das Innerste der Seele ihrer Landsleute in Wallung, denn in ihr erkannten sie ihre Qualen und die Tausendundeine Ungerechtigkeit wieder, aus der das Leben in Babylon bestand. Aber in ihr fanden sie auch optimistische und überzeugende Gründe, dem Unglück standzuhalten: Sie wußten sich als Auserwählte Jahs, die sie waren, um die lange Prüfung zu bestehen, um bereit zu sein für eine Ankunft auf der versprochenen Erde, der unmittelbar bevorstehenden Erlösung.

Diese Musik berauschte sie, weil sie ihrer Tradition entsprach, bereichert mit modernen Rhythmen, die aus Amerika kamen: dem Rock, dem Jazz oder dem Calypso aus Trinidad und den Hymnen und Tänzen der Kirche. Der Slang, mit dem Bob Marley zu ihnen sprach, war das jamaikanische Patois, nicht zu enträtseln für das ungeübte Gehör; und die Themen waren ihre Klagen, ihre Leidenschaften, ihr Straßenklatsch, aber voll verborgener Sanftheit, Mystik und Pietät. Das Wort authentisch hat einen gefährlichen Unterton, wenn man es auf einen Künstler anwendet: existiert vielleicht die Authentizität? Ist es nicht ein einfaches technisches Problem für jeden Schöpfer, der sein Handwerk versteht? Für Bob Marley war es das niemals: mindestens seit 1968 gab er sein Letztes in den Liedern, die er komponierte, als er dank seiner Gespräche mit Mortimo Piano endgültig die Rastafari-Religion, seinen Glauben, seine mystische Haarfrisur und seinen messianischen Traum zur selben Zeit übernahm wie sein musikalisches Wissen, seinen religiösen Feuereifer und das dunkle, wilde Wellklagen seiner Stimme. Deswegen, obwohl zu seiner Zeit -in den Sechzigern und Siebzigern- viele Komponisten und künstlerische Talente auftauchten, war nur er, außer, daß er inspiriert und originell war, von einer makellosen Echtheit, daß er allen Verlockungen widerstand; selbst der allerbezauberndsten, die das Leben darstellt; denn er zog es vor, mit 36 Jahren zu sterben, noch bevor er erlaubte, daß sie ihm den von Krebs zerfressenen Zeh vom Fuß amputierten, da seine Religion es ihm verbot. Es ist wahr, daß er sehr reich starb -er hinterließ 30 Millionen Dollars- aber er genoß fast nichts von diesem Glück. Nun, wer das Haus in Hope Road besucht – der einzige Luxus, den er sich zu leisten erlaubte, als sein plötzlicher Ruhm ihn reich machte – bemerkt, wie ärmlich dieser Luxus ist, verglichen mit dem, was sich heute jeder Sänger mit mittelmäßigem Erfolg leisten kann.

Das einzige, was er im Ruhm seiner späteren Jahre ebenso wie im Elend seiner ersten, in Staub und Trümmern von Trench Town, auskostete, war, Fußball zu spielen, in eine mysteriöse Selbstbetrachtung davon zu versinken, daß er in die Welt euphorisch oder weinend zurückkehren würde, ein Lied in ein Schulheft zu kritzeln, eine Melodie beim Schrimmeln auf seiner Gitarre zu erkunden oder den süßsauren Rauch seiner Ganja-Zigarette zu schlucken. Er war freigebig bis hin zum Verschwenderischen, mit seinen Freunden und seinen Feinden, und der glücklichste Tag seines Lebens war jener, an dem er mit seinem Geld den Angehörigen Haile Seiassies, dem Despoten, an den Gott glauben würde, helfen konnte. Als er Afrika besuchte, entdeckte er, daß jener Kontinent weit von jenem Land der Erlösung für das schwarze Volk entfernt war, mit dem er seinen Glauben und seine Lieder mystifizierte. Und seitdem waren diese weniger „negristisch“, dafür ökumenischer, und nachdrücklicher waren auch seine pazifistische Predigt und sein Verlangen nach Spiritualität.

Man muß nicht religiös sein, um zu bemerken, daß ohne Religionen das Leben für die Armen und Elenden bei weitem ärmer und elender wäre, und daß die Völker die Religionen auch für das haben, was ihnen fehlt. Ich verabscheute die pittoresken, synkretistischen, theologischen Rastas, ihre Marihuana-Zusammenkünfte, ihre schrecklichen Ernährungsvorschriften, ihre verfilzten Zopffrisuren, als ich entdeckte, daß einer meiner Söhne und eine Gruppe seiner Freunde sich zum selben Glauben bekehrt hatten. Aber bei ihnen war es zweifellos eine vorübergehende Mode, eine wankelmütige Sinnlichkeit von privilegierten Jugendlichen, wogegen es mir in den kärglichen Gassen von Trench Town oder in der Armut der Dörfer der Pfarrei St. Ann als erschütternder Ersatz für das geistige Leben, gegen die desintegrierte Moral und die menschliche Ungerechtigkeit erschien. Ich bitte die Rastas um Verzeihung, was ich dachte und schrieb über sie, und neben meiner Bewunderung für ihre Musik, bekenne ich meinen Respekt gegenüber den Ideen und dem Glauben von Bob Marley.

Aus: El Pais, 16.01.1995

Übers, aus dem Spanischen: Barbara Baumrucker

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Bob Marley (1945-81): Jamaikanischer Reggaesänger, Gitarrist und Komponist, mit bürgerlichem Namen Robert Nesta Marley, geboren in Rhoden Hall, St. Ann, Jamaika.

Marley erlernte den Beruf eines Schweißers, ah er seine erste Gruppe gründete, die „Rudeboys“ (1961), die später als „The Wailers“ bekannt wurde. Seine ersten Platten waren eine Mixtur aus Ca-lypso und Soul; gegen Ende der sechziger Jahre wurde er zum Sinnbild der jamaikanischen Reggaemu-sik, einer Mischung aus Rock and Roll, Rhythm and Blues, Soul und jamaikanischem FolkRhythm. 1967 wechselte er vom Christentum zur Rastafari-Religion. Marley veröffentlichte „Catch a Fire“ (1972), „Burnin“‚ (1975), „Natty Dread“ (1975) und „Live“ (1975). 1976 wurde er politisch aktiv und wurde während der Vorbereitung auf ein Konzert in Kingston im Dezember des Jahres angeschossen. Er ging nach Europa, wo er rasch große Popularität in England, Schweden, den Niederlanden und Deutschland errang. „Rastaman Vibrations“ (1976) und eine USA-Tournee wurden ein riesiger Erfolg, der mit „Exodus“ (1977), „Babylon by Bus“ (1978), „Kaya “ (1978) „ Uprising “ (1980) und einer Neuauflage früherer Platten fortgeführt wurde. Marleys Songs umfaßten Liebeslieder und sozialkritische Themen. Er starb 1981 in Miami an Krebs.

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