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Ich greife nicht zur Gitarre, um Applaus zu bekommen: Zum 95. Geburtstag von Violeta Parra

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Gärtnerin
Töpferin
Näherin
Tänzerin des transparenten Wassers
Baum voll singender Vögel
Violeta Parra.

Nicanor Parra: Verteidigung der Violeta Parra

Album-Cover Las últimas composiciones de Violeta Parra, Quelle: Quetzal-Redaktion, gt

Das Jahr 2012 ist ein Violeta-Parra-Jahr, wenn auch genau genommen nur ein kleines, denn das große feiern wir in fünf Jahren. Aber in diesem Jahr jährt sich ihr Todestag zum 45. Mal, und am 4. Oktober wäre sie 95 Jahre alt geworden. Hierzulande werden diese Daten kaum zur Kenntnis genommen, obwohl sie sich anbieten würden: Ende November soll auch in Deutschland Andrés Woods Film „Violeta se fue a los cielos“ anlaufen, Rezensionen sind im Netz bereits zu finden.

In ihrer Heimat Chile ist Violeta Parra nach wie vor eine konstante Größe, ihre Bedeutung wird nicht infrage gestellt. Was macht Violeta del Carmen Parra Sandoval so außergewöhnlich, dass ihr Ruhm auch 45 nach ihrem Tod nicht verblasst ist? Sie war eine sehr vielseitige Künstlerin, Musikerin, Dichterin. Sie malte, töpferte, webte und schuf plastische Werke. Berühmt wurde sie vor allem als Musikerin, ihre Lieder werden bis heute in der ganzen Welt gesungen.

Violeta Parra wurde in San Carlos geboren, einem Städtchen in der Provinz Ñuble in Mittelchile, als eines von neun Geschwistern (die Angaben über die Zahl der Geschwister schwanken). Der Vater war Volksschullehrer, er starb früh. Die Mutter, eine Bäuerin, hat sie stark geprägt, sie war wohl immer der Pol, um den die Familie kreiste. Obwohl ihr Vater Musiklehrer war, wollte er nicht, dass seine Kinder sangen oder ein Instrument spielten. Violeta entdeckte irgendwann das Versteck der Gitarre und brachte sich als Neunjährige das Gitarre spielen selbst bei.

Nach dem Tod des Vaters verdienten die Geschwister Geld, indem sie als Musikgruppe auftraten, in Bussen, auf der Straße, in Kneipen. Das Musizieren zwischen Betrunkenen war nicht ganz ungefährlich, und nach ihrer Heirat 1938 wollte ihr Mann dann auch, dass sie mit diesen Auftritten aufhörte. Lassen konnte sie von der Musik letzten Endes jedoch nicht. Die gemeinsame musikalische Arbeit mit den Geschwistern (mit ihrer Schwester Hilda hatte sie bereits einige Lieder aufgenommen) brach sie – zu deren Entsetzen – erst ab, als sie begann, die chilenische Folklore systematisch zu erforschen. Violeta hatte bereits in den 1940ern begonnen, sich der Folklore ihrer Heimatprovinz zuzuwenden. Ihr älterer Bruder Nicanor forderte sie um 1952 auf, mit diesen Forschungen fortzufahren. Sie selbst fühlte sich dem Bruder wegen dieser Unterstützung immer verpflichtet.

Hätte es Nicanor nicht gegeben, dann gäbe es Violeta Parra nicht. [1]

Sie veränderte ihr Repertoire radikal: weg von kommerziellen Boleros und spanischen Liedern hin zu chilenischer Volksmusik. Das war zu einer Zeit, als in Chile die Folklore quasi modern geworden war. Das Radio fand im ganzen Land Verbreitung und bot neue Möglichkeiten, um die Bevölkerung zu erreichen. Und da fand man es opportun, eine chilenische Musik zu etablieren. Also wurde die Folklore erforscht, die echte chilenische Musik, die man streng von allem Ausländischen abgrenzte. Ein solches Unterfangen ist in Chile, wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch, fast lächerlich zu nennen, da die gegenseitigen Einflüsse, auch auf musikalischem Gebiet, immer sehr vielfältig waren. Als einzig wahr und authentisch chilenisch galt eine besondere Spielart der ländlichen Musik. Allerdings nicht die der Landarbeiter, sondern die der Huasos, der Landbesitzer. Es wurde eine Behörde gegründet, die sich um die Volksmusik kümmern sollte, an den Universitäten entstanden entsprechende Forschungsbereiche, es gab Radiosendungen, in denen populäre Gruppen wie Los Cuatro Cuartos auftraten. Diese trugen im Allgemeinen hübsche Kostüme und sangen Lieder über Themen, die mit der Lebenswirklichkeit der meisten Chilenen nichts zu tun hatten. Denn auch in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Chile bereits ein mehrheitlich urbanes Land. Diese Musik ist wohl mit dem zu vergleichen, was man hierzulande volkstümliche Musik nennt. Die idealisierte und romantisierende Darstellung eines Lebens, das nicht mehr existiert und so vermutlich nie existiert hat, findet man hier wie dort. Nebenbei sei hier bemerkt, dass sich Stars der „reinen chilenischen Musik“ ab 1973 problemlos der Pinochetdiktatur andienten.

Als Violeta Parra begann, die Volksmusik zu erforschen, hob sie sich von der allgemeinen Entwicklung im Lande ab. Sie hatte kein intellektuelles, akademisches Interesse an der Musik, und sie wollte die Folklore nicht erforschen, um sie nur zu bewahren. Sie wollte sie wiederbeleben. Und Chile galt ihr als das beste Buch der Folklore, das geschrieben worden war.

Es gibt einige Sänger, die kein Gedächtnis haben. Sie geben mir die Texte stückweise. Dann warte ich geduldig, bis ein anderer Sänger sie mir vorsingt, und rekonstruiere dann das Lied. Die Melodie singen sie dir immer gleich richtig. [5]

Fortan bereiste sie ganz Chile, sammelte Lieder, Texte, Melodien, zeichnete sie auf. Für ihre Forschungen nahm sie viele Entbehrungen auf sich und ordnete ihrer Arbeit letztlich auch ihr Privatleben unter.

Sie sagte uns, dass sie das für Chile macht, für die Folklore, für die Arbeiter und für ihre Musik. Nun ja, wir verstanden sie. Ich kann heute nicht erklären, wieso, wir waren ja noch kleine Kinder, aber wir verstanden sie völlig. Und es gab niemals einen Konflikt zwischen uns wegen dieser Motive, niemals. (Angel Parra) [4]

Violeta Parra, Quelle: Felipe Esturillo

Erste Anerkennung für ihre Arbeit gab es Anfang der 1950er Jahre, als Raúl Aicardi von Radio Chile ihr eine Radiosendung vorschlug, in der sie ihre Lieder vorstellen konnte. „Canta Violeta Parra“ wird ein Erfolg, aber trotzdem nach gut einem Jahr eingestellt. Ricardo García, der die Sendung mit ihr zusammen machte, erinnert sich noch Jahre später an den besonderen Kontakt, den Violeta zu den Menschen hatte. Sie fand schnell Zugang und machte „unmögliche“ Aufnahmen möglich.

Wie stark die Künstlerin sich indes vom „Folkloremainstream“ unterschied, belegen verschiedene Erinnerungen aus dieser Zeit. Als sie an der Universidad de Chile in Santiago auftrat – und vom Publikum gefeiert wurde, beschwerten sich Funktionäre der Hochschule über diesen „Angriff“ auf die akademische Kultur. Bei einer anderen Gelegenheit attackierte sie ein Musiker mit dem Vorwurf, sie hätte ihr Lied „La jardinera“ irgendwo gestohlen. Diese einfach gekleidete Frau mit offenem Haar konnte in den Augen der intellektuellen Öffentlichkeit keine ernstzunehmende Künstlerin sein.

Die Intellektuellen empörten sich über sie. Der Kontakt war nur lose. Sie fanden meine Mutter immer schmutzig, zerzaust, hässlich – sie hatte die Pocken gehabt – und sie sagten es ihr.“ (Angel Parra) [6]

An dieser Ablehnung wird sich zeit ihres Lebens im Prinzip nicht viel ändern. 1954 erhält sie den Premio Caupolicán als beste Folkloristin des Jahres. Sie wird in Concepción ein Folkloremuseum aufbauen, Platten aufnehmen, Bücher veröffentlichen, Kurse geben, ihre Kunst in Ausstellungen zeigen, in Chile ungemein populär sein – dem kulturellen Establishment blieb sie suspekt. Letztlich war es nicht selten der Einfluss aus dem Ausland, der die chilenischen Medien veranlasste, sich mit dem Werk Violetas zu beschäftigen. Als die Künstlerin in den 1950er Jahren durch Europa reiste und dort anerkannt wurde (dort entstand eine Reihe von Schallplatten), nahm man sie auch in Chile stärker zur Kenntnis. Gleiches geschah nach ihrem zweiten Europaaufenthalt, in dessen Verlauf sie ihre Arpilleras (eine Art Gobelin) sogar im Pariser Louvre ausstellte. Diese Ausstellung im Jahr 1964 war die erste Einzelausstellung eines lateinamerikanischen Künstlers in diesem Museum, und damit natürlich Grund genug, Violeta Parra auch in ihrer Heimat zu feiern. Doch mit der Künstlerin selbst konnte man letzten Endes nie besonders viel anfangen. Die Nachbarn des Viertels La Reina in Santiago de Chile fühlten sich von ihrer Carpa de La Reina, einem Zelt, in dem sie ab 1965 ein Kulturzentrum – eine Folkloreuniversität – aufbauen wollte, belästigt. Die Ablehnung ging so weit, dass ihr öfters die Polizei ins Zelt geschickt wurde, die Razzien durchführte, um angeblichen illegalen Alkoholausschank festzustellen.

Violeta repräsentierte eine andere Kultur als die offiziell geförderte, und erhielt deshalb kaum öffentliche Unterstützung. Die Tradition, aus der sie kam und die sie in ihrer Musik verarbeitete, unterschied sich fundamental von derjenigen, die immer wieder als authentisch chilenisch beschworen wurde. Sie hatte in ihrer Kindheit die ursprüngliche ländliche Musik, die der armen Landarbeiter, noch kennengelernt. Und aus ihrer Zeit des Geldverdienens in Bussen und Kneipen kannte sie auch die fahrenden Sänger, die in ihren Liedern auch Kommentare zum Zeitgeschehen abgaben – seinerzeit wohl so etwas wie die Zeitung für die einfachen Leute. Der Schriftsteller und Musiker Patricio Manns bezeichnete es als das wahre Genie der Violeta Parra, die bäuerliche Volksmusik ihrer Kindheit aufgenommen und in ihrer Musik verarbeitet zu haben.

Ich bin an einem Punkt meiner Arbeit angekommen, wo es mir nicht mehr genug ist, für mich allein zu malen, zu weben, töpfern, komponieren und Lieder zu singen. Ich brauche heute die Kommunikation, die Verbindung zwischen meiner Arbeit und der Welt, die mich umgibt. [2]

Mag Violeta anfangs auch noch eher der puristischen folkloristischen Fraktion zuzurechnen sein – so beklagte sie leidenschaftlich, dass die Moderne die Tradition zerstöre, sie ging mit ihrer Arbeit sehr schnell über das bloße Reproduzieren der Volksmusik hinaus. Die Volksmusik blieb der Bezugspunkt, doch ihre Lieder wurden komplexer – in der Musik ebenso wie in den Texten. Aus dem anfänglichen Bewahren und Wiederbeleben der Musik des Volkes wurde eine Weiterentwicklung.

Verwendet die Rhythmen, wie sie aus euch herauskommen, probiert die verschiedensten Instrumente aus, befreit euch, schreit, anstatt zu singen, blast die Trommel und trommelt die Trompete. Das Lied ist ein Vogel ohne Flugplan, es hasst die Mathematik und liebt die Strudel. [5]

Grab von Violeta Parra, Foto: Paul LowrySeit den 1950er Jahren beschäftigten sich ihre Lieder verstärkt mit der Welt, die sie umgab: Armut, Kindersterblichkeit, Unterdrückung – Themen, die in der „wahren chilenischen Musik“ keinen Platz haben – wurden zum Gegenstand ihrer Lieder. Und, auch hier ließ sie die offizielle Lesart der chilenischen Folklore weit hinter sich, sie erweiterte ihr „chilenisches Projekt“ sehr bald zu einem lateinamerikanischen. Damit nahm sie in gewisser Hinsicht die Entwicklung des Neuen Chilenischen Liedes vorweg, die ab Mitte der 1960 Jahre die Musiklandschaft Chiles verändern sollte. Und ebenso wie Violeta Parra wurden auch die bereits sehr populären Sänger des Neuen Liedes von den bürgerlichen Medien weitgehend ignoriert.

Violeta Parra wollte nicht weniger als den Ursprung der Musik und der Kunst ergründen, sie wollte mit ihrer Musik Chile einen. Sie war absolut in ihren Ansprüchen, in ihren künstlerischen wohlgemerkt. Erfüllen konnte sie ihre Ziele nicht, sie blieb oft auf sich allein gestellt, unverstanden. An eine Freundin schrieb sie einmal, dass sie die halbe Welt kontaktiere und doch keine Anerkennung für ihre Arbeit fände, und ich möchte, dass sie mich lieben.[1] Die endgültige Anerkennung blieb aus, wirklich berühmt wurde sie erst nach ihrem Tod. Erst nach 1967, so schreibt Patricio Manns, entfaltete sich ihr Einfluss, erst dann öffnete sich ihr schöpferisches Universum.

[Die Ziffern hinter den Zitaten beziehen sich auf die verwendete Literatur.]

Verwendete Literatur:
1. Parra, Isabel: El libro mayor de Violeta Parra. Ediciones Michay, S.A., Madrid 1985.
2. Manns, Patricio: Violeta Parra, la guitarra indócil. Ediciones Literatura Americana Reunida. Concepción 1986.
3. Parra, Angel: Violeta se fue a los cielos. http://www.archivochile.com/entrada.html
4. Subercaseaux, Bernardo/Londoño, Jaime: Gracias a la vida. Violeta Parra, testimonio. Editorial Galerna, 1976.
5. Cantaré. Songs aus Lateinamerika. Verlag Neues Leben, Berlin 1978.
6. Gitarre des dämmernden Morgens. Das neue Chilenische Lied. Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1975.
7. da Costa Garcia, Tânia: Canción popular, nacionalismo, consumo y política en Chile entre los años 40 y 60. Revista Musical Chilena, Año LXIII, Julio-Diciembre, 2009, N° 212, pp. 11-28.

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Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, gt; [2] Felipe Esturillo; [3] Paul Lowry.


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