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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!

Carlos Henriquez | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

(…) Lateinamerika hat eine große Vielfalt von Menschen, die sich in mannigfaltiger Weise voneinander unterscheiden. Das paßt aber vielen nicht in ihre Weltauffassung. Damit beziehe ich mich auf einen Artikel in der ersten Ausgabe des Quetzal, in dem viele Charakteristika einer Menschengruppe nach Auffassung des Verfassers aufgelistet waren. „Lateinamerika ist reich!“, war in Nicaragua einer der ersten Sätze, die man in der Schule lernen sollte, reich an Kultur und an Gefühlen. Daß darunter viele ganz unterschiedliche Dinge verstanden werden, scheint sehr menschlich zu sein, aber bitte versuchen Sie nicht, das alles als eine immer geltende Eigenschaft der dort lebenden Menschen zu deuten. Besonders zu vermerken sind die Unterschiede, die durch die Sprache als Zeichen einer großen Vielfalt von Ausdrucksformen zu verspüren sind. Sicher gibt es unter uns viele Probleme bei der verbalen Verständigung, dies sind aber nicht die Ursachen für ein getrenntes und uneinheitliches Lateinamerika, vielmehr ist es unsere multikulturelle und sozialbedingte Art und Weise zu denken.

Der Autor gibt sich mit seinem Artikel große Mühe, die Realität oder besser gesagt das fadenscheinige Leben der „colonia latina“ eines x-beliebigen Landes zu verurteilen und sich sogleich über selbige lustig zu machen. Zweifelsfrei hat er an vielen Stellen recht, aber ob es sich um eine persönliche Meinung handelt, welche er benutzt, um auszudrücken, daß in Lateinamerika „alles vor die Hunde geht“, weil „die Realtät von den Menschen dort einfach vergessen wird“, oder ob es nur Vermutungen sind, die er äußern wollte ?? Ich muß ehrlich sagen, daß er sich dabei irrt.

Unter uns gibt es viel schmerzhaft getarnte Heuchelei, weil die Menschen durch gerade eben diese nicht das sind, wofür sie gehalten werden. Menschen sind veränderlich und beeinflußbar.

Jeder versteht die Sprache und das damit Verbundene, wie er eben will. Das soll aber bitte keinen Anlaß zur Verspottung bzw. Verurteilung dieser Sprache sein. Der Sprache liegt ein gewisses Gefühl zugrunde, welches mißverstanden wird; und zwar sehr oft. Ich fühle mich sehr als Latino! Aber ich passe in das Schema des Autors nicht hinein. Was bin ich denn und was sind all die anderen, die dieses Gefühl in sich tragen, ohne Überheblichkeit, und sich dazu bekennen, nicht schämen.

Ich persönlich vermisse eine kritische und konsequent objektive Einschätzung der Latinos und der lateinamerikanischen Länder. Es waren viele stereotypisierte Beispiele, wodurch der Verfasser eine determinierte Menschengruppe zu erfassen versucht. (…) Letztlich beschreibt er nur eine Minderheit. Nicht alle Latinos sind so, wie er sie darstellt. Das Geschilderte war meiner Meinung nach ein Bild voller Vorurteile gegenüber den Menschen; es entspricht damit nicht dem Wirklichem. (…) Die Kritik geht für mich zum Teil in das Banale über, wodurch er in eine verwirrend falsche Interpretierung der Angelegenheit verfällt.

„Stereotyp“, „prototyp“ und „klischeehaft“ sind nicht menschliche Eigenschaften, sondern eher Verhaltensformen in einer prädeterminierten Gesellschaft, welche die Menschen zum Mitmachen zwingt. Das ist aber jedem selbst überlassen, diese rückschrittlichen dekadenten und oberflächlichen sogenannten menschlichen Werte anzunehmen. Individuen werden von den verschiedenen angestrebten Werten einer Gesellschaftsordnung stark geprägt, durch die Schule, die Familie und das „Milieu“. Inwiefern diese Werte als Symptome einer zurückgebliebenen entfremdeten und brutalen Gesellschaft anerkannt werden, ist auch ein Ausdruck der persönlichen Auseinandersetzung eines jeden mit der Gesellschaft, die zu Brocken zerfällt, weil sie von unangebrachten Verschleierungen überflutet ist – wo die generalisierte Verdummung blüht. (…)

Für mich besteht kein Unterschied zwischen „Latino“ und „Lateinamerikaner“. Wenn das Wort „Latino“ sich in einen voll von Vorurteilen und Stereotypen belasteten Begriff gewandelt hat, stelle ich die Frage: Von wem wurde das Wort „Latino“ so geprägt? (…) Ich glaube, daß jeder von uns ein unterschiedliches Bild vom Wort „Latino“ in sich trägt. Für mich bedeutet es viel mehr als der Ausdruck eines fötiden, purulenten, verfaulten Identitätsgefühls. Unrecht würde ich begehen, wenn ich das Wort „Latino“ mit solchen Wesensmerkmalen verbinden würde. Ebenso könnte ich nicht von Latinos, die sich im Ausland aufhalten, auf die Menschen und die Lebensart in ihrer Heimat schließen. Das gleiche gilt auch, wenn man über Themen wie Sexualität in einer sogenannten Macho-Gesellschaft spricht und dabei die Rolle der Frau zu erörtern versucht, sie als Komplizin einer bestimmten Eigenart von Männern darstellen möchte. Nicht vergessen darf man, wie es dazu gekommen ist. Dahinter stecken eine Menge sozialer und historischer Ursachen, die durch Dummheit und Unwissenheit verdeckt bleiben, nur von wenigen deutlich erkannt. Diese stellen die Frau als Überbleibsel, Anhängsel der Männer, ohne Hoffnung auf jegliche Form von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung dar, sogar als Mitläuferin und Dulderin dieser Macho-Gesellschaft, in der die männliche Überlegenheit selbst im Widerspruch zu sich steht und von importierten Prototypen geprägt ist, so daß sich die Menschen in den bereits genannten Eigenschaften widerspiegeln wollen. In Lateinamerika war immer eine gemeinsame Identität gefragt, welche von „Machismo“ und „Hembrismo“ ferngehalten werden sollte. Die Suche nach einer eigenen Identität ist Aufgabe eines JEDEN. (…) Lateinamerika ist voller Romantiker und Träumer, aber auch voller Machos und Diktatoren, und es bleibt nicht unverändert; viel größer als das Macho-Denken ist das Bedürfnis nach Verbesserung und Vorankommen. Nur die Klärung der Frage „Wie lange wird es noch dauern?“ hängt von uns allen Latinos ab.

(leicht gekürzt)

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