Gedanken zur Ausstellung in Frankfurt/Main
Die erste Begegnung mit Frida Kahlo löste eine Mischung aus Entsetzen und Angezogensein bei mir aus. Aber ich konnte den Anblick des Bildes „Die zerbrochene Säule“ nicht ertragen. Später erfuhr ich, daß die Malerin sich selbst dargestellt hatte und die Neugierde überwog. Anfangs konnte ich mir kaum vorstellen, daß eine mexikanische Frau so viel Mut besitzen würde, eigenes körperliches und seelisches Leiden öffentlich zu zeigen. Aber vielleicht konnte sie es, weil ihre Schönheit sie wie eine Maske schützte.
Am 23. Mai dieses Jahres ging nun in Frankfurt/Main eine Ausstellung zu Ende, die mit Bildern, Fotos und Alltagsgegenständen aus dem Haus der Frida Kahlo monatelang tausende Besucher anzog; auch mich. In den Ausstellungsräumen war es nicht einfach, infolge der vielen Besucher, sich den Bildern zu nähern. Auffällig war die Dominanz weiblicher Besucher, was auch immer das heißen mag.
Ich wußte zwar, daß Frida Kahlo einen großen Teil ihrer Bilder im Bett malen mußte, trotzdem erstaunte es mich, daß die Bilder im Verhältnis zu ihrer geringen Größe eine so starke Ausdruckskraft besitzen. Das trifft auch für das eingangs erwähnte Bild zu. Nun, direkt vor dem Original, wurde mir deutlich, was die Ambivalenz der Gefühle verursacht hatte. Die mehrfach in sich gebrochene (Wirbel-)Säule stützt den Kopf nach oben. Gleichzeitig erscheint sie aber wie eine bedrohliche Waffe, die den Körper in der Mitte auseinanderreißt, welcher nur mühsam durch Gurte eines Korsetts zusammengehalten wird. Wie auf Darstellungen christlicher Märtyrerbilder ist der nackte Körper gespickt mit Nägeln, doch außer milchgleichen Tränen sind Schmerz, Verzweiflung oder Trauer in den schönen Gesichtszügen nicht zu erkennen. Der stolze feste Blick Frida Kahlos verbirgt die dahinter liegenden Gefühle.
Die Säule verkörpert gleichsam sowohl die schmerzvollen inneren (auch seelischen) und äußeren Verletzungen als auch die Kraft, die den Körper und die Seele Frida Kahlos aufrichten und tragen kann. Das gleiche trifft auch auf das Korsett zu. Einerseits schnürt dieses Gerüst aus Gips, Leder oder Stahl den Bewegungsraum ein, doch andererseits macht es auch Bewegung für Frida Kahlo erst möglich und erträglich.
Je mehr ich über das Schicksal dieser Frau erfuhr, desto rätselhafter erschien mir die Art und Weise der Darstellung in ihren Bildern. Frida Kahlo beschönigte die Wahrheit nicht und doch wirken ihre Bilder schön; sei es durch den Formenreichtum der dargestellten mexikanischen Pflanzen- und Tierwelt, die die Malerin umgab, sei es durch die intensive klare Farbigkeit, die von der Malerei ausgeht, sei es durch die Detailgenauigkeit ihrer Motive. Außerdem, und das ist der wichtigste Punkt, malte Frida Kahlo zum großen Teil sich selbst. Sie begründete das damit, daß sie die meiste Zeit ihres Lebens allein sei und daß sie selbst das Motiv sei, daß sie am besten kenne.
Die Ausstellung machte deutlich, welche Themen Frida Kahlo bevorzugte – den Gegensatz zwischen Leben und Tod in der Spanne von Geburt und Sterben. Das erklärt einen weiteren Grund für die Ambivalenz bei der Betrachtung ihrer Bilder. Bei keiner anderen Malerin habe ich bisher eine so intensive Auseinandersetzung mit tabubesetzten Themen wie Fehl-/Geburt, Selbstmord oder Sexualität überhaupt bemerkt wie bei Frida Kahlo. Besonders fällt auf, wie realistisch genau bestimmte Motive oder Details gemalt sind und dann als Symbole verschlüsselt in einen naiv anmutenden neuen Zusammenhang gesetzt werden, in dem die Perspektive keine Raumillusion schafft sondern Bedeutungsträger ist. So erscheint im Doppelporträt Frida Kahlos mit ihrem Ehemann Diego Rivera einmal sie selbst viel kleiner als in der Realität, ein anderes Mal stellt sie ihn als ihr Kind verkleinert dar. Für Frida Kahlo, die wegen der Schwere ihrer Verletzungen nach einem Unfall kein Kind austragen konnte, verkörperte der Maler Rivera Ehemann, Geliebten, Freund und Sohn in einem. Neben der Malerei waren die Beziehungen zu ihrem Mann und ihren Freunden und zu ihrer mexikanischen Heimat die Quellen, aus denen sie Lebenskraft und Hoffnung schöpfte.
Frida Kahlos Bilder sind sehr mexikanische Bilder. Die Motive verbinden ihre persönliche Erlebniswelt mit den mexikanischen Traditionen. Das demonstrierte sie zum Beispiel in Selbstporträts mit typischen Attributen wie präkolumbianischem Schmuck oder der Tehuana-Tracht in einer „Mexikanisch-Ist-Schön-Haltung“. Erwähnenswert ist m diesem Zusammenhang, daß die Tehuana-Tracht Bestandteil einer indianischen matriarchalischen Kultur war und zu Lebzeiten Frida Kahlos auch als Ausdruck des gestiegenen Selbstbewußtseins Mexikos (damit auch der mexikanischen Frau) angesehen wurde.
Frida Kahlos Selbstporträts tragen meist kühl und distanziert wirkende Züge. Der Betrachter begegnet einer stolzen Frau, die um ihre Attraktivität weiß und bewußt damit umgeht. Ausdruck dessen ist bei Frida Kahlo auch der Umgang mit der weiblichen Identität und Sexualität. In der Zeit der Trennung von Diego Rivera trennte sie sich auch von ihrem langen Haar und kleidete sich bewußt männlich, trennte sich damit auch von den Erwartungen an das Frauenbild in der Öffentlichkeit.
Damit lehnte sie symbolisch ihre Weiblichkeit ab und bekannte sich erst wieder nach der Rückkehr Riveras zur weiblichen Sinnlichkeit und Schönheit, ohne ihre Selbständigkeit aufzugeben.
Das Element der Schönheit hat auch im Thema Leben und Tod eine wichtige Funktion. Der Tod spielt für die mexikanische Erlebniswelt eine andere Rolle als für die europäische. Der Tod ist in Mexiko Bestandteil des Lebens und wird als Prozeß verstanden und als solcher auch in Feste einbezogen. Die Ausstellung in Frankfurt/Main beinhaltete auch einige kunstvoll gestaltete und bemalte Judasfiguren, die in ihrer heiter-ironischen Darstellung die Vergänglichkeit des Lebens deutlich machen. Für Frida Kahlo, die solche Figuren sammelte, war die Auseinandersetzung mit dem Gegensatz Leben und Tod eine Reflexion ihres eigenen persönlichen Empfindens, Ausdruck ihres Kampfes zwischen Lebenswillen und Resignation. Und die Gegenwärtigkeit des Todes im Leben zeigt sie vor allem auch durch die Verherrlichung der Schönheit ihres verletzten Körpers. So war es ihr möglich, durch die von ihr erfundene Symbolsprache die erlittenen Schmerzen in ihrer ganzen Tragweite malend zu erfassen, ohne sie naturalistisch in einer detaillierten Situation darzustellen. Die schön gemalten Gesichtszüge dominieren und werden durch besonders brutale Attribute (Dornenhalsband, blutende Körper etc.) noch gesteigert. Überhaupt taucht Rot als Farbe des Blutes in vielen ihrer Bilder auf. Zum einen betont sie damit die schmerzenden Wunden, zum anderen zeigt sie darin aber auch pulsierendes Leben. Rote Linien verbinden Motive miteinander in eben der genannten Doppeldeutigkeit. Im Doppelporträt „die zwei Fridas“ sind die zwei Wurzeln ihrer Identität dargestellt, die freigelegten Herzen sind durch eine Ader miteinander verbunden. Doch die anderen Adern sind durchtrennt und die europäisch gekleidete Frida droht zu verbluten. Die zweite Frida mit der Tehuana-Tracht hält ein Amulett ihres Mannes in der Hand – Hinweis auf die Trennung des Ehepaares in der Zeit, in der das Bild entstand.
Die typische Malweise Frida Kahlos zeigt die Verbundenheit zur mexikanischen Volkskunst. In mexikanischen sogenannten Votivbildern, die Heiligen geweiht werden, finden sich die Merkmale wieder. Die Ausstellungsbesucher konnten das an einigen ausgestellten Votivtafeln vergleichen.
Frida Kahlo identifizierte sich mit den klaren, naiven, mit Hingabe gemalten Tafeln der Volkskünstler. Mit ursprünglicher Phantasie und Intuition strahlen diese kleinen Bilder eine geheimnisvolle und einfache Schönheit zugleich aus. Frida Kahlo konnte sich in den Heiligen- und Märtyrerbildern wiederfinden. Sie übernahm einige Motive direkt in ihern Bildern und entwickelte die Votivbilder, die wie die Volkskunst überhaupt in der Zeit der mexikanischen Revolution eine neue Aufwertung erfuhren, weiter. Für Diego Rivera enthielten diese Tafeln in Miniaturform alle Merkmale der mexikanischen Wandmalerei.
Frida Kahlo verehrte er als Malerin vor allem deshalb, weil sie seiner Meinung nach der Inbegriff der mexikanischen Schönheit und Wahrhaftigkeit war. Und wirklich erscheint sie in ihren prachtvoll verzierten gemalten Tehuanakleidern wie eine Königin. Andre Breton, der Frida Kahlo für eine surrealistische Künstlerin hielt, fand poetische Worte, um seine Bewunderung auszudrücken. „Ich hatte nicht geahnt, daß die Welt der Früchte etwas so Wunderbares hervorbringen kann wie die Pitahaya, deren Pulpe die Farbe und das Aussehen eingerollter Rosenblätter trägt – die Pitahaya mit ihrem saftigen Fleisch und ihrem Geschmack wie ein Kuß aus Liebe und Begehren; nie hatte ich einen Klumpen jener roten Erde in meiner Hand gehalten, der die Statuetten von Colima – halb Weib, halb Grillegöttlich geschminkt entstiegen sind; und schließlich hatten meine Augen auch sie nie erblickt, die ihnen so überaus gleicht, in der Haltung und im Schmuck einer Märchenprinzessin, mit magischen Kräften in den Fingerspitzen, im Lichtstrahl des Vogels Quetzal, der, wenn er fortfliegt, Opale auf die Felskanten streut: Frida Kahlo de Rivera.“
Die Ausstellung in Frankfurt wurde ergänzt durch eine umfangreiche Fotoausstellung. Für mich strahlten die künstlerisch beeindruckenden Fotos eine stille Heiterkeit aus. In der mexikanischen Mythologie wird der Tod als ein Abschnitt auf dem Weg zur Wiedergeburt verstanden. Da liegt die Versuchung nahe, in der gezeigten Ausstellung eine Art Wiedergeburt Frida Kahlos zu sehen. Und wenn die Ohnmacht der Schönheit in ihrer Vergänglichkeit liegt, besteht ihre Kraft in der Lebendigkeit ihrer Liebe zum Leben.