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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Der Mann ohne Namen

Juan R. Narváez | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Er pflegte auf eine einzigartige, korrekte und präzise Weise über die Schwelle zu treten. Er war überzeugt von der Unanfechtbarkeit seiner Art, die Gegenstände zu betrachten mit diesen seinen gelben Katzenaugen, die sich untrüglich stets auf die dunklen Ecken und Ritzen eines Zimmers richteten.

Er genoß es, als universell – gebildet zu gelten. Man konnte ihn leicht für einen Gelehrten halten oder annehmen, daß er ungeheure wissenschaftliche Aufgaben an einer Universität bewältigte, oder aber daß er ein Beauftragter des Ministeriums sei. Er hatte eine unangenehme Art, sich wichtigzumachen. Als die Leute ihn kennenlernten mit seinen großen Augen und jenem seltsamen „Sie“, mit dem er sie anredete, oder dem süßlichen und aufdringlichen „Ich bitte um Vergebung“, prägte er sich ihnen ein durch seine Art, über alle Dinge Bemerkungen zu machen, durch seinem belehrenden Ton und seine überspannte Sprache.

Er war von angenehmer Gestalt und hatte ein ansprechendes Gesicht. Die ihn kannten, waren sich zu jeder Zeit darin einig, daß er kein normaler Mensch war und daß ihn zweifellos eine Aura des Überirdischen umgab. Sie sprachen ihn mit „mein Herr“ an. Sie wußten nicht, wie er hieß, und sie bemühten sich nicht, es zu erfahren; vielmehr begnügten sie sich mit der Feststellung, daß er sehr geschickt zu reden wußte und daß er sonderbare gelbe Katzenaugen besaß. Freilich gab es darüber hinaus eine Reihe von Vermutungen und Tuscheleien über seine Herkunft. Einige Nachbarn waren der Ansicht, daß er ein Ausländer sei, vielleicht ein Europäer oder Australier auf der Durchreise, aber diese Meinung wurde wieder aufgegeben. Er mischte sich ohne Umschweife in das dörfliche Leben ein und übernahm wie niemand sonst die Rollen des familiären Berates, des Rechtsanwalts, Richters und des Freundes. Bei den Landkreiswahlen schlug er sich selbst als Bürgermeister vor. Und gewann.

Die Leute begrüßten seinen Sieg. Doch als er erst Bürgermeister war, nutzte er alle Entscheidungsgewalt, die ihm über das Leben der Leute gegeben war. Er war unfehlbar Pate bei allen Taufen, die während seiner Amtszeit stattfanden. Er vollbrachte kein großes Werk, aber er mißbrauchte auch nicht das Vertrauens der Bevölkerung, um sich zu bereichern. Sein vielleicht größter Verdienst war es, familiärer Berater der Dorfgemeinschaft zu sein. Von A bis Z wurde alles, was er sagte, ohne Zögern akzeptiert.

Er löste mit Bravour zahlreiche Fälle. Einer davon drehte sich um Ehebruch. Der Beschuldigte hatte zwei Konkubinen, und seine Frau erfuhr davon. Es kam zum Skandal. Um den Streit der Frauen wegen des Mannes zu beenden, machte er es sich zur Aufgabe, den beiden Konkubinen Ehemänner zu verschaffen. So befestigte er an der violetten Tür des Bürgermeisterhauses ein ansehnliches Plakat, auf dem zu lesen stand „Es werden zwei Männer gesucht. Zwei Männer ohne familiäre Bindung. Zwei ehrenhafte Männer, die eine Frau suchen. Zwei kerngesunde Männer mit Heiratsabsichten. Zwei Frauen erwarten diese Männer“.

Dank der selbstlosen Hilfe der zahlreichen frommen Frauen des Dorfes glückte ihm trotz vieler Schwierigkeiten ein ganzer Erfolg: Die Frauen azeptierten ihre künftigen Ehemänner ohne Einwände. Einer war der Dorftrottel und der andere ein Kriegskrüppel aus dem Bürgerkrieg von 1926. Der Frau des Ehebrechers hielt er eine Predigt mit dem Inhalt, sie müsse sich stärker um ihren Mann kümmern. Dann, schon etwas gereizt und ohne große Lust auf einen weiteren Sermon, entschied er sich für eine recht ungewöhnliche Strafe für den untreuen Ehemann. Dieser mußte sich Tag für Tag neben seiner Frau schlafen legen, wobei ihm jede Art sexuellen Kontaktes für den Zeitraum von zwei Jahren untersagt war.

Dieses Urteil machte man in allen Ämtern, in allen Kneipen, Bars und Orten des öffentlichen Lebens bekannt. Außerdem enthielt das Urteil einen Passus, demzufolge jeder Frau, die sich dem untreuen Ehemann näherte, eine Gefängnisstrafe und sogar die Exkommunizierung drohte.

Und um fortan dergleichen Probleme von vornherein auszuschließen, da sie erfahrungsgemäß immer zu erheblichem Ärger führten, wenn nicht gar zu Duellen, entschied er, unterstützt von den frommen Frauen, dem Priester und dem Gemeindevorstand, daß während seiner Amtszeit jede Art von sündigen Beziehungen außerhalb der Ehe verboten sein sollte. Jeder Mann mußte fortan ständig seinen Ausweis bei sich tragen und ihn vorzeigen, wenn er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen wollte. Aus dem Ausweis war ersichtlich, ob sein Besitzer verheiratet war oder nicht. Jede Vertreterin des horizontalen Gewerbes und jede andere Frau mußte ebenso wie der Mann, mit dem man sie in flagranti entdeckt hatte, eine Geldstrafe bezahlen, deren Höhe von der Schwere des Falls abhing.

Der Pfarrer des Dorfes pries die Weisheit und salomonische Handlungsweise des Mannes ohne Namen. Er glaubte, dieser sei ein Entsandter des Himmels und behandelte ihn entsprechend, sprach nachts Gebete für ihn und bat den Schöpfer, ihn vor Abwegen zu bewahren wie auch vor Sünden, vor Schurken und Räubern.

Der Mann mit seinen schönen, großen und erhabenen gelben Augen fühlte sich geehrt. Am Sonntagsmorgen ging er zur Kirche und wurde dort von allen Anwesenden begrüßt. Wer ihn im Bürgermeisterhaus aufsuchte, den ermutigte er, in die Kirche zu gehen und Jehova um Verzeihung zu bitten und darum, daß er ihm den Weg erleuchte. Als seine Amtszeit abgelaufen war, bat man ihn, ja flehte man ihn an, erneut zu kandidieren. Er lehnte ab. Er zog sich zurück, um in Frieden in seinem Haus zu leben, das voller Bücher und seltsamer Dinge war.

Die Leute im Dorf waren sich darin einig, daß er der beste Bürgermeister war, den sie je hatten. Er starb nicht. Wenn man den Bemerkungen Glauben schenkte, die im Dorf umliefen, so besaß er nicht die Fähigkeit dazu. Schließlich verschwand er genauso, wie er aufgetaucht war. Manche waren fest davon überzeugt, daß er zum Himmel aufgefahren sei.

Die Behörden und die Vereinigung, der Schuldirektor, der Chef des Polizeikommandos, eine tschechische Anti-kommunistin, die trotz ihrer vierzig Jahre noch blendend aussah, die Landbesitzer, die Pächter, die frommen Frauen, angeführt vom Herrn Pfarrer, die Gewerkschaft der Junggesellen und die einfachen Frauen und Männer des Dorfes errichteten ihm zu Ehren eine schöne Statue von zwanzig Metern Höhe. Das ganze Dorf kam zur Einweihung, und es wurde ein großes Volksfest gefeiert. Man zerschlug Pinatas, die Kinder veranstalteten Wettspiele, es gab einen Gedichte-Marathon und man schenkte Getränke und Essen aus. Der Pfarrer las eine Messe und taufte die Statue. Bei diesem feierlichen Akt nahmen das Wort der Bürgermeister und die Ehrengäste der Regierung sowie Vertreter der beiden Abgeordnetenhauser. Später knieten viele sogar vor dem ungewöhnlichen Denkmal nieder und baten es um Fürsprache beim Allmächtigen.

Im Dorf gab es von nun an den „Tag des Heiligen mit den gelben Augen“. An diesem Tag kamen Prozessionen sogar aus weitentlegenen Orten des Landes, und auf dem Platz wurde ununterbrochen gebetet. Man schoß auch Leuchtraketen ab und Feuerwerkskörper und warf mit Knallfröschen. Der Tag endete mit einer Messe, die ein religiöses Fest war. Er war in der Tat ein Heiliger geworden.

Die kleine Hütte, in die er sich vor seinem Verschwinden zurückgezogen hatte, wurde zum staatlichen Kulturbesitz erklärt. Der amtierende Bürgermeister stellte in den beiden Häusern des Parlaments einen Antrag zur Debatte, der ohne weiteres angenommen wurde. Er schlug vor, dem Heiligen die Verdientmedaille der Nation zu verleihen. Die Legislative befürwortete den Vorschlag und gab ihm an die Exekutive weiter, die seine Realisierung veranlaßte. Und so übergab der Präsident in einem öffentlichen Akt, an dem Schulkinder der ersten Klasse teilnahmen, den Orden einer Gruppe von Leuten aus dem Dorf.

Der Titel „Inhaber der Verdienstmedaille der Nation“ brachte es mit sich, daß man auch Briefmarken mit seinem Konterfei druckte. Von nun an wurde sein retuschiertes Ebenbild mit jenem sonderbaren Lächeln auf Postkarten und Briefe geklebt und in alle Landesteile und ins Ausland geschickt. Und das Bildungsministerium erließ eine Verfügung mit dem Inhalt, daß der Mann mit den gelben Augen in die Schulfächer Geschichte und Gesellschaftskunde aufgenommen werden solle. Zu diesem Zweck begann man Bücher über sein Leben und Werk herauszugeben, in denen auf sein Erscheinen und sein Verschwinden wie auf einen himmlischen Akt der Erleuchtung verwiesen wurde. Die Karawanen von Gläubigen kamen Jahr um Jahr. Die Prälaten der Kirche zelebrierten die religiösen Feierlichkeiten mit gottergebener Monotonie.

Es wurden jetzt auch Abziehbilder mit seinem Bildnis verkauft. Sein lächelndes Gesicht erschien auf Porträts und Postern. Man verschenkte zahllose Flugblätter und Handzettel in verschiedenen Farben, von denen unweigerlich das intensive Gelb seiner Augen strahlte. Er wurde ein Gebrauchsgegenstand. Die Bildchen und Statuetten von ihm waren allgegenwärtig: in Schulen, Museen, Parks, öffentlichen und privaten Büros, in Bars und Kneipen, an Laternenpfählen, Bussen, Zügen, Häusern, in Zeitungen, auf öffentlichen Toiletten, auf Krankenwagen, an Tankstellen und Postämtern.

Diese Verehrung des Heiligen dauerte unverändert Jahre um Jahre an. Mit der Zeit geriet er langsam in Vergessenheit, bis er eines Tages verschwand, da die Leute es satt hatten, ihn überall vor Augen zu haben. Man konnte nicht mal in Ruhe aufs Klo gehen, weil auch dort sein erleuchteter Blick war und mißbilligend herabschaute, wenn man respektlos und unvernünftig furzte.

Übersetzung: G. Pisarz

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