Anlässlich des 40. Jahrestags des Putschs in Chile führte Quetzal ein Interview mit Patricio Fernández, dem Direktor und Mitbegründer der chilenischen Wochenzeitung „The Clinic“. Die Zeitung stellt nicht nur ein einzigartiges und extrem kreatives Projekt dar, sondern zieht auch durch ihren absichtlich pietätlosen und sarkastischen Humor starke Aufmerksamkeit auf sich. Einige Stimmen in Chile bezeichnen „The Clinic“ als Skandal. In einem zweiteiligen Interview berichtet Fernández nicht nur über die Zeitung, sondern schildert uns auch seine Einschätzung zu den Medien und dem Wandel der Öffentlichkeit in Chile.
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Teil 2: Über den Jahrestag des Putschs und den aktuellen Wandel im Land
Wenn wir uns die Aufarbeitung der Vergangenheit in Chile und die Erinnerungskultur ansehen, wieso gab es dieses Jahr diese gewaltige Medienresonanz bezüglich des 40. Jahrestags des Putschs in Chile?
Es ist etwas sehr Überraschendes zum vierzigsten Jahrestag passiert, viel mehr als das vor zehn Jahren noch der Fall war: Die großen Fernsehunternehmen, die nach dem Ende der Diktatur ihre Besitzer wechselten, gehören heute großen Konsortien, die praktisch ganz Chile besitzen. Aber jetzt ist ihre Toleranz diesbezüglich größer geworden. Daher sahen wir im Fernsehen unzählige Fotos und audiovisuelle Produktionen, die sich auf das bezogen, was während der Diktatur geschah. Warum passierte das? Weil in Chile unzählige Bücher über die Diktatur veröffentlicht oder neu aufgelegt wurden.
Ich kann dir meine Hypothese diesbezüglich erzählen, ich weiß nicht, ob sie stimmt. Es ist allerdings eine Tatsache, dass etwas passiert ist. Im Monat vor dem Jahrtag erlebten wir hier eine Lawine der Information und des Rückblicks auf das, was in dieser Zeit passiert ist. Ich denke, dass das mit dem „Ausbruch“ dieser neuen Generation zu tun hat, die ihre Eltern oder ihre Großeltern fragen, was damals passiert ist. Letztere wollen das alles nicht sehen, weil sie immer noch traumatisiert sind. Sie lebten mit diesem Pakt, für den sie alle mitverantwortlich waren (der Pakt zwischen Diktatur und demokratischen Kräften, insbesondere der Concertación, während des Übergangs zur Demokratie, Anm. d. Red.). Sie mussten das alles neu bewerten. Der emotionale Umgang damit wurde somit erneuert. Das war ein heilender und sehr guter Prozess. Heute wagt sich niemand mehr in Chile zu sagen, dass die Verschwundenen „vermeintliche Verschwundene“ seien, so wie sie es über viele Jahre lang in Chile taten. Die politische Rechte in Chile leugnete die Verletzungen der Menschenrechte so oft in den letzten Jahren. Sogar unser aktueller, rechter Präsident, der beim Plebiszit gegen Pinochet gestimmt hatte, redet von der aktiven Verantwortung, von der Verantwortung der Zivilen, die mehr hätten machen können, aber nicht taten bzw. die Verbrechen sogar rechtfertigten. Es kam also zu einem wichtigen Fortschritt, und wir werden sehen, was daraus werden wird. Aber es ist eine Tatsache.
Und was wollt ihr von „The Clinic“ mit eurem Spezial vermitteln?
Daran erinnern, dass gewisse Dinge in Chile nicht wieder passieren können, obwohl man nie weiß, ob sie wieder passieren werden. Daran erinnern, dass es in Chile ein kriminelles Regime gab, weil das von Pinochet kriminell war. Es hatte Sicherheitsbehörden, die per Dekret gegründet wurden und die sich dem Verfolgen, Foltern und Ermorden von Menschen widmeten. Dass nicht wieder die Zerstörung passieren kann und die Unfähigkeit, sich zu Widersetzen und mit unterschiedlichen Meinungen zusammenzuleben. An all das möchten wir für immer erinnern; nicht zu diesem Jahrestag, sondern hoffentlich jeden Tag. Auch möchten wir die politische Rechte in Chile daran erinnern, dass sie eine enorme Verantwortung hat für das, was damals passierte und zusätzlich, dass sie uns erklären soll, wie sie den Putsch unterstützen konnte. Es würde ihnen sehr schwer fallen, zu erklären, dass die gesamte politische Rechte 17 Jahre danach beim Volksentscheid erklärte: „Ja, wir wollen, dass die Diktatur weitergeführt wird“. Das ist eine Schuld, die man ihnen zeigen und an die man sie erinnern muss. Das ist eine Geschichte, die erst ihre Kinder bereinigen können. Es gibt hier einen ganzen politischen Sektor, auf dem die Schuld lastet, nicht nur die Diktatur unterstützt, sondern auch die Augen vor den Verbrechen geschlossen zu haben. Und daran zu erinnern, es aufzufrischen und dafür zu sorgen, dass es noch nicht vom Tisch ist, das ist etwas, das uns interessiert und wichtig ist.
Denkst du, dass dieses große Interesse am Jahrestag des Putschs auch Auswirkungen auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im November haben wird?
Ich denke schon, aber man muss im Hinterkopf behalten, dass wir am 5. Oktober an das Plebiszit erinnern. Dort wird diese Debatte fortgesetzt. Nun gut, die Wahlen wird mit Sicherheit Michelle Bachelet gewinnen, außer es passiert noch etwas Außergewöhnliches. Die Kandidatin der Rechten, Evelyn Matthei, hat nur sehr wenig Rückhalt, viel weniger als traditionell die Rechte hat. Niemand zweifelt daran, dass Michelle Bachelet gewinnen wird. Die Rechte ist momentan in Chile in einer sehr schwierigen Situation. Selbst Präsident Piñera zog seiner Kandidatin den Boden unter den Füßen weg und redete von der passiven Schuld all jener, die nichts unternahmen. Man muss wissen, dass Matthei die Tochter Fernando Mattheis ist, einem der Junta-Generäle. Sie selbst hat sogar die Kampagne für die Weiterführung der Diktatur unterstützt und erschien 1988 in einer Werbung für Pinochet. Daran zu erinnern, was während dieser Diktatur passiert ist und was unter denen passieren könnte, die das Präsidentenamt anstreben – klar, dass sie angegriffen werden.
Ich habe ein Video von der Sendung „Wahre Lügen“ auf Kanal 4 gesehen, wo du gesagt hast, dass ihr politisch nah an der Concertación seid, gewisse Kandidaten während ihrer Kampagnen unterstützt und daraus kein Geheimnis macht. Ihr unterstützt also auch dieses Mal die Liste der Concertación?
Also, zunächst einmal sind wir keine Concertacionistas, wir gehören auch keiner Partei an und wir bewahren unsere Unabhängigkeit. Wir sagen über alle politischen Lager, was uns auffällt. Aber mit Hinblick auf das, was ich zuvor gesagt habe, ist „The Clinic“ mit Sicherheit keine Publikation der Rechten. Vielmehr bekämpfen wir, was dieser Sektor in Chile verteidigt. Generell haben wir auch kein Problem, kurz vor Wahlen eine Position einzunehmen, wenn die Wahl zwischen einem Kandidaten der Rechten und einem eher linkeren und progressiveren Kandidaten ist. Da vertun wir uns nicht.
Gibt es denn deiner Meinung nach in Chile immer noch ein Problem mit der Unabhängigkeit der Medien? Ich denke da zum Beispiel an „El Mercurio“ und „La Tercera“.
Aber absolut! „El Mercurio“ und „La Tercera“ unterstützten direkt die Militärdiktatur – ohne jeden Zweifel. Heute gehören sie großen Konsortien, welche die Rechte unterstützen und auf keinen Fall unabhängig sind. Da können sie sagen, was sie wollen, die Ausrichtung der chilenischen Tageszeitungen ist äußerst klar. Genauer gesagt, während der letzten zwanzig Jahre, die Jahre der Transition, war eines der großen Probleme unserer Demokratie die Inexistenz von Medien, die nicht diesen großen Konsortien gehören und nahe der politischen Rechten stehen. Das bekümmert mich heute weniger, weil es das Internet gibt und die Informationen auf eine andere Weise zirkulieren. Es gibt mehr Möglichkeiten, mehr Medien, mehr Stimmen. Aber die großen Medien in Chile, also Fernsehen und gedruckte Presse, sind definitiv von der Rechten.
Und stellt „The Clinic“ damit ein Gegengewicht zu den dominanten Medien dar?
Natürlich, wir haben uns ja auch gegründet, um uns über sie lustig zu machen. Wir hatten sogar einmal eine Beilage, die sich „Merculo“ nannte (Mecurio + Culo = Arsch, Anm. d. Red.), weil Agustín Edwards, der Direktor, einer der Verschwörer des Putschs war. Er traf sich persönlich mit Henry Kissinger und Nixon. Er erhielt Geld der CIA. Das, was ich hier sage, sind keine Verschwörungstheorien, das sind heute überprüfte Tatsachen. „El Mercurio“ ist das Herz dieses extremen chilenischen Konservatismus. Ich würde sogar sagen, dass sie emblematisch in der ganzen Welt sind. Der chilenische Konservatismus ist besonders fortschrittsfeindlich und eine sehr verschlossene Welt. Und der „Mercurio“ ist sein offizielles Sprachrohr.
Was meinst du, hat sich die Medienwelt, abgesehen von „The Clinic“, in den letzten Jahrzehnten verändert?
Ja gut, es wäre wohl arrogant zu sagen, dass sie sich durch „The Clinic“ verändert hat. Aber ich denke schon, dass wir dazu beigetragen haben. Ich denke, dass wir ein Beitrag zum Pluralismus waren. Und ich denke auch, dass Zeitungen, wie „La Tercera“ sich ein bisschen verändert und geöffnet haben, aufgrund des Drucks – auch von Seiten unserer Zeitschrift. Aber noch mehr als ein Beitrag zum Wandel, denke ich, waren wir ein Symptom dieser Energie für die Öffnung Chiles, die damals existierte. Wir haben nicht komplett die Realität verändert, aber wir waren ein Katalysator des Wandels der Realität.
Es gab ja in der Welt ein großes Interesse am Wandel in Chile, und was wir zum Beispiel in Deutschland sehr stark mitverfolgt haben, war die Schüler- und Studentenbewegung. Es gibt auch ein paar Sonderausgaben oder Dossiers zum vierzigsten Jahrestag des Putschs. Was denkst du, warum gibt es ein so großes Interesse an der chilenischen Vergangenheit und auch an den aktuellen Geschehnissen in Chile?
Der Putsch gegen Allende am 11. September 1973 war sehr emblematisch für den epochalen Bruch. Die Unidad Popular („Volkseinheit“, Wahlbündnis unter Allende, Anm. d. Red.) – trotz ihrer zahlreichen Schwächen – setzte den großen Traum des demokratischen Sozialismus in Szene. Etwas, das später in verschiedenen Orten in Europa existierte. So kam François Mitterrand damals nach Chile, um sich hier von etwas inspirieren zu lassen, das er später in Frankreich durchsetzen konnte. Die sozialistische Regierung in Chile kam nicht durch Waffengewalt an die Macht, es war keine strikt revolutionäre Regierung und sie hielt sich in hohem Maße an die Verfassung. Salvador Allende war ein Politiker mit langer Tradition in Chile. Ein republikanischer Politiker, der jahrzehntelang Minister und Senator war. Er war kein Revolutionär in olivgrüner Uniform, wie zum Beispiel Fidel Castro, der kam, um sich aufzudrängen. In dieser Hinsicht war Chile also eine Hoffnung für sozialen Wandel. Was danach kam, was einfach nur Horror. Ich glaube, dass die Polarität und dieser gigantische Putsch, den die demokratische Tradition in Chile erlebte, etwas sind, was das politische Gewissen vieler Orte prägte. Es gab ein paar Tage nach dem Putsch in Italien, Argentinien, Spanien, in verschiedenen Ländern der Welt, gigantische Solidaritätsveranstaltungen für Chile. Ich denke, dass Chile zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum, ein Labor des kalten Kriegs war. Hier traten im Geheimen die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika gegeneinander an. Hier intervenierten die CIA und die US-amerikanische Regierung. Auf der anderen Seite kam Fidel Castro hierher und blieb einen ganzen Monat. Wir waren ein Ort der Aufmerksamkeit für die Welt. Und was danach mit Pinochet kam, war auch ziemlich bedeutsam, weil nach dem Putsch und, während all die schrecklichen Dinge passierten, Milton Friedman kam und wir nun zum Labor des Neoliberalismus wurden, nachdem wir zuvor das Labor des Sozialismus gewesen waren. Hier führten sie die Maßnahmen als Experiment durch, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den achtziger Jahren an verschiedenen Orten der Welt anwandten. Wir sind also ein sehr weit entferntes, abgelegenes Land, eine ferne, verlorene Insel am Ende des Planeten. Nichtsdestotrotz hat sich hier Weltgeschichte auf eine sehr polarisierte Weise abgespielt. Daher kann die Welt hier in Chile ihre eigenen Geister und ihre eigene Geschichte konzentriert vorfinden. Ich denke, dass ist ein Grund, warum Chile einen so großen Effekt außerhalb des Landes verursacht hat.
Möchtest du diesem Interview noch etwas hinzufügen?
Das einzige, was noch zu ergänzen wäre, ist dies: Nach all dem, was in Chile passiert ist, sehe ich mit viel Optimismus auf die heutige Situation in Chile. Mir gefallen die Forderungen, die es in Chile gibt. Es gibt die Schüler- und Studentenbewegung, aber es ist viel mehr als nur diese Bewegung. Das, was die Leute auf ihren Straßen fordern, was sie in ihren Häusern diskutieren. Wir haben jegliche Art von Sturm erlebt, aber ich denke, dass dieses Land heute tugendhafte Dinge fordert. Es hat zivilisatorische Forderungen gestellt. Im selben Moment, wo in anderen Teilen der entwickelten Welt, in Europa selbst, darüber gesprochen wird, jene sozialen Rechte wieder zu verwehren, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlangt wurden. In Chile versuchen wir sie zum ersten Mal zu erreichen, oder vielmehr, zurückzukehren zu dem, was wir in gewissen Bereichen vor dem Putsch hatten, und das um ein Vielfaches zu übertreffen, was wir in anderen Bereichen erreicht hatten. Das heutige Chile verspricht oder lädt zumindest dazu ein, von einer viel schöneren, besonneneren und humaneren Realität zu träumen. Hoffentlich wird es funktionieren. Nichts deutet darauf hin, dass es einfach werden wird. Hoffentlich wird es funktionieren.
Du bist also Optimist.
Ja, ich bin ein Optimist. Ich denke, dass es zumindest möglich ist, viele Dinge in Chile zu gestalten bzw. zu versuchen, sie zu gestalten. Wir befinden uns an einem sehr interessanten Zeitpunkt. Es geht nicht mehr darum, gigantische Träume zu verwirklichen. Die enorme Utopie ist nicht das, was wir in der chilenischen Politik sehen, aber die kleinen Forderungen, welche die gewaltige Ungleichheit in Chile korrigieren. Chile ist kein armes Land. Es gibt Arme, aber das Land entwickelt sich. Was wir jetzt benötigen, ist, dass die Früchte des Wachstums besser verteilt werden.
Übersetzung aus dem Spanischen: Christine Schnichels
Bildquelle: [1] Quetzal-Redaktion, cs [2] Marco Correa_