Am 20. und 21. April kam an der Universität zu Köln ein „Who-is-Who“ der internationalen, marxistisch orientierten Venezuela-Forschung zusammen, um über die Zukunft der Revolución Bolivariana nach dem Ableben von Hugo Chávez zu diskutieren. Mit dem Tod ihres Initiators und Hauptprotagonisten stellt sich die Frage nach einer Zwischenbilanz und den Zukunftsaussichten dieses Transformationsprozesses. Nicht zuletzt die oftmals gewaltsamen Auseinandersetzungen um den Wahlsieg des chavistischen Kandidaten Nicolás Maduro haben Venezuela einmal mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit katapultiert.
Auch in Deutschland nehmen zahlreiche Menschen Anteil am Leben und Wirken von Hugo Chávez. Die Kölner Konferenz belegte dies auf beeindruckende Weise. Über 100 Menschen folgten der Einladung von zwei jungen Doktoranden der Universität zu Köln, Andrés Otálvaro (lateinamerikanische Geschichte) und Michael Kresse (Politikwissenschaft), um über Wirken und Vermächtnis von Hugo Chávez zu debattieren.
Den Auftakt der in spanischer Sprache abgehaltenen Konferenz machte der an der Universidad de Oriente in Venezuela lehrende Steve Ellner. In dem Einführungsvortrag arbeitete der US-amerikanische Historiker und Politikwissenschaftler fünf charakteristische Merkmale der Bolivarischen Revolution heraus:
- Erstens sei die Mobilisierung der vormals vom politischen Prozess ausgeschlossenen Massen hervorzuheben.
- Zweitens habe die Regierung Chávez, die zunächst mit einem „Anti-Programm“ angetreten war, einen Radikalisierungsprozess durchlaufen, den Ellner vor allem an der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und der Neudefinition der Besitzverhältnisse festmachte.
- Drittens habe die chavistische Politik das Land derart polarisiert, dass die Opposition nach 2006 nicht einmal die Legitimität der Regierung anerkannte.
- Viertens komme der permanenten Erzielung hoher Wahlergebnisse (mehr als 50 Prozent) zentrale Bedeutung zu, da sie den chavistischen Regierungen größere Handlungsspielräume zur Durchsetzung ihrer Reformen verschaffe.
- Fünftens sei die Zusammensetzung der sozialen Basis zu berücksichtigen. Denn anders als kommunistische Regierungen, die ausschließlich die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen als ihre soziale Basis angesehen hätten, stellen für den Chavismus sowohl Marginalisierte, informell Beschäftigte und LandarbeiterInnen als auch die Mittelklasse die soziale Basis dar.
Im zweiten Block ging es dann um die historischen Brüche und Kontinuitäten im „Heimatland“ von Simon Bolívar, dem Helden der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfe (1810-1830). Der Bolívar-Experte Michael Zeuske, der in Köln als Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte tätig ist, stellte in seinem Vortrag strukturelle Elemente als Vorbedingungen für den Chavismus dar. Mit dem Ausbrechen der Unabhängigkeitskriege 1811 habe sich die Büchse der Pandora geöffnet. Gewalt und Caudillismo wurden zu einenden Merkmalen aller Fraktionen. Beispielhaft dafür sei das Massaker des Caudillo Tomás Boves aus dem Llano an der Oligarchie von Carácas, wie auch der im Gegenzug von Bolívar veranlasste Terror, bekannt als Decreto de Guerra a Muerte. Laut Zeuske kam Bolívar nach den Wirren der Unabhängigkeitskämpfe zu dem Urteil, dass sich Venezuela nur von einem Caudillo regieren lasse. Der venezolanische Soziologe Vallenilla Lanz versuchte dies in seinem Buch Cesarismo democrático (1919) in Hinblick auf die diktatorische Herrschaft von Juan Vicente Gómez und den positivistischen Zeitgeist sogar wissenschaftlich zu begründen.
Nach diesem lebendigen Ausflug in das 19. Jahrhundert übernahm wieder Steve Ellner das Wort und analysierte die unter Chávez eingeleitete Neudefinition der venezolanischen Historiographie. Während die traditionelle Geschichtsschreibung das 19. Jahrhundert als Jahrhundert des Todes werte, würden mit dem Chavismus die sozialen Kämpfe und Errungenschaften, wie Pressefreiheit und die Abschaffung der Todesstrafe, hervorgehoben. Laut Ellner hat Chávez die Historiographie politisiert.
Dem Wiener Historiker und Vorsitzenden des Forschungs- und Kulturvereins für Kontinentalamerika und die Karibik (KONAK), Christian Cwik, blieb dann zum Ende des geschichtlichen Blocks nur noch wenig Zeit für seine Präsentation. Er analysierte den Kolonialismus als integrativen Prozess, der allerdings an der Integration des Llano genannten Hinterlandes und seiner Bewohner, der Llaneros, gescheitert sei. Somit habe es in Venezuela Räume für die Entwicklung von marginalen Gruppen außerhalb der Legalität gegeben. Chávez, der selbst den Llanos entstammt, habe sich glaubhaft die Integration dieser marginalen Gruppen zum Ziel gesetzt.
Einen Einblick, wie dies innerhalb des bolivarischen Transformationsprozesses umgesetzt wird, lieferte der nächste Block, der sich mit der Konstruktion neuer Machtkonzepte beschäftigte. Der italienisch-deutsche Politikwissenschaftler Dario Azzelini konstatierte das Scheitern der repräsentativen Demokratie in Venezuela. Da die Bevölkerungsmehrheit, vor allem die unteren Schichten, vom politischen Prozess ausgeschlossen blieben, erlangten für soziale Bewegungen und Basisorganisationen aus diesen Sektoren partizipative Demokratieansätze zentrale Bedeutung, die innerhalb des bolivarischen Transformationsprozesses Mitentscheidungs- und Kontrollmechanismen der Basis garantieren sollen. Die konstituierende Macht1, wie Azzelini soziale Bewegungen und Basisorganisationen in Abgrenzung zu dem unscharfen Begriff Zivilgesellschaft nennt, erfuhr mit der Bolivarischen Revolution eine immense Stärkung gegenüber der aber immer noch dominanten konstituierten Macht aus Regierung, Parlament und Judikative. So bliebe Venezuela in weiten Teilen eine liberal-repräsentative Demokratie, auch wenn die Institutionen des bürgerlichen Staates zum Teil transformiert wurden. Bedeutender seien aber die Prozesse der Selbstorganisation der zuvor Marginalisierten in Gemeinderäten und lokalen Selbstverwaltungen. Leider hat sich Azzelini nicht genügend Zeit genommen, um von den konkreten Erfahrungen in der Basisorganisation zu berichten, die er jahrelang begleitet hat. In seinem eher theoretischen und allgemein gehaltenen Vortrag konstatierte er eine “Explosion der Volksorganisation”, in denen die Menschen die besondere Erfahrung gemacht hätten, selbst der Akteur der Überwindung ihrer Marginalisierung zu sein.
Einen genaueren Blick auf die Misiones genannten Sozialprogramme im Kampf gegen die Marginalisierung lieferte anschließend Andrés Otálvaro. Der kolumbianische Doktorand, der am Institut für iberische und lateinamerikanische Geschichte in Köln tätig ist und dessen Dissertation sich mit den „Bolivarischen Missionen“ beschäftigt, begreift diese (ebenfalls) als Integration von unten. Bedeutend sei, dass in historischer Perspektive erstmals die marginalisierte urbane Klasse, d.h. vor allem der informelle, nicht gewerkschaftlich organisierte Sektor, aktiv eine soziale Transformation mitgestaltet. Somit seien die Misiones Teil einer neuen, sich im Aufbau befindenden institutionellen Struktur in Venezuela und eine Manifestation der „Volksmacht“. Sie hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass Venezuela 2005 als zweites lateinamerikanisches Land (nach Kuba) von der UNESCO als frei von Analphabetismus deklariert wurde und auch der Gini-Koeffizient von 48,6 Prozent (2002) auf 27,8 Prozent (2010) sank. Otálvaro griff auch gängige Kritikpunkte wie Populismus, Klientelismus, Autoritarismus und den auf Chávez bezogenen Personenkult auf, die er als z.T. berechtigt ansah, betonte aber den universellen Charakter der Misiones gegenüber den Vorwürfen einer nur partikularen Reichweite für ein bestimmtes Klientel. Darüber hinaus würden die hauptsächlich aus Erdöleinnahmen finanzierten Sozialprogramme das in Venezuela dominierende Renten-Modell vertiefen.2
Am Samstag Nachmittag sollte dann nicht nur ein Ortswechsel von der Universität zum Allerweltshaus vollzogen werden, sondern auch ein Perspektivenwechsel von akademischer Analyse zu aktivistischer Erfahrung. Leider hatte die Radio-Aktivistin Atenea Jiménez ihre Deutschlandreise absagen müssen. Für sie hatte es Priorität, in Venezuela die Fortsetzung des bolivarischen Transformationsprozesses gegen die teilweise gewaltsamen Angriffe der Opposition zu verteidigen. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie ernst die Lage vor Ort ist. Auch Malte Daniljuk bestätigte dies in seinem Vortrag. Der Journalist und Wahlbeobachter war aus Carácas angereist und konnte somit die Lücke am Samstagnachmittag füllen. Nach einem zunächst sehr technischen Vortrag über die verschiedenen Sicherheitsmechanismen in der elektronischen Stimmenauszählung berichtete er sehr lebhaft von den Auseinandersetzungen um das Wahlergebnis, das nach seiner Einschätzung unanfechtbar sei. Daher dienten die Provokationen der Opposition vor allem der Destabilisierung und Delegitimierung der Regierung Maduro. Laut Daniljuk hatte der im Amt bestätigte Interimspräsident eine ausschlaggebende Rolle in der De-Eskalation, da er chavistische Gruppierungen dazu aufrief, auf die Gewalt der Opposition nicht mit Gegengewalt zu reagieren.
Den zweiten Vortrag im Allerweltshaus übernahm dann wie geplant Douglas Estevem von der brasiliansichen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), die auch in Venezuela die Agrarbewegung in ihrem Kampf für Land und ökologischen Anbau unterstützt. Estevem berichtete von dem 2007 zwischen Chavéz und der MST geschlossenen Abkommen über eine Kooperation der MST im bolivarischen Transformationsprozess sowie von der Partizipation von sozialen Bewegungen in dem von Chávez initiierten Staatenbündnis ALBA. Ein erstes konkretes Resultat dieses Prozesses sei die Errichtung einer lateinamerikanischen agrar-ökologischen Schule in Venezuela, an der im letzten Jahr die ersten 68 Absolventen ihren Abschluss machten. Anschließend gab es im Allerweltshaus die Möglichkeit, den an eindrücken reichen Samstag bei venezolanischem Essen und Musik in entspannter Atmosphäre ausklingen zu lassen.
Am Sonntagmorgen ging es dann in der Universität mit dem akademisch orientierten Programm weiter. Der deutsch-amerikanische Soziologe Gregory Wilpert analysierte das Spannungsverhältnis zwischen Venezuelas Integration in den kapitalistischen Weltmarkt einerseits, und dem Anspruch der Bolivarischen Revolution, einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufzubauen, andererseits. Der Erdölreichtum des Landes sei hier in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen ermögliche er die Finanzierung der Sozialprogramme, die zum Abbau der gesellschaftlichen Ungleichheiten beitragen. Allerdings verfestige der Fortbestand des extraktivistischen Renten-Modells die Abhängigkeit Venezuelas vom kapitalistischen Weltmarkt und schränke auch die Realisierung ambitionierter Ziele ein. So sei beispielsweise der in der Verfassung festgeschriebene nachhaltige Umweltschutz in den erdölreichen Regionen bei einer Fortsetzung der derzeitigen Fördermethoden nicht realisierbar.
Anschließend legte Michael Kresse die Wurzeln der chavistischen Ideologie dar und präsentierte damit einen Teil seines Dissertationsprojektes am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte. Er fokussierte seinen Vortrag auf die Ideologie, welche Chávez in den 1990er Jahren, vor seiner Präsidentschaft, entwickelt hatte. Kresse betonte die explizit nicht-marxistische Tradition dieser Ideologie, denn laut dem Grundsatztext von Chávez, „El Libro Azul – El Árbol de las Tres Raíces“ beruht sein Denken auf drei Wurzeln3: Erstens das von Simón “Robinson” Rodríguez entwickelte Konzept der Volksbildung zur Emanzipation der Marginalisierten; zweitens Simón Bolívars Traum der Integration Spanisch-Amerikas, aber auch sein Konzept der moralischen Macht; schließlich Ezequiel Zamoras Ansatz der Endogenen Entwicklung und die Betonung der Gleichheit. In ihrem anti-kolonialen Diskurs versteht Kresse die chavistische Ideologie als Gegenmodell zu dem westlichen Kreuzzug, der in Venezuela zur Errichtung einer Kastengesellschaft, aber auch der liberalen repräsentativen Demokratie geführt habe. Dem setze der Chavismus das Konzept einer partizipativen und protagonistischen Demokratie entgegen und zielt letztendlich auf die Zerstörung der Kastengesellschaft. Die auch im postkolonialen Venezuela fortbestehende Kastengesellschaft sieht Kresse als eine zentrale Ursache für den Aufstieg von Chávez, der die bereits vorher bestehende strukturelle soziale Polarisierung offen gelegt habe.
Die Manifestation der Polarisierung in den Auseinandersetzung zwischen Chavismus und Opposition in den Medien sollte dann Thema des letzten inhaltlichen Blocks sein. Leider war der Journalist Malte Daniljuk schon wieder abgereist, so dass Michael Kresse einsprang und die erstaunlich positiven Darstellungen von Chávez in den 1990er Jahren in der privaten Presse der heutigen Opposition analysierte. Harald Neuber, Redakteur bei Amerika21.de, stellte im Anschluss die Probleme in der deutschsprachigen Berichterstattung über Venezuela dar. Da kaum ein Mainstream-Medium Reporter vor Ort beschäftigt sei, hängen die deutschen Medien vom Diskurs der großen Medien in Venezuela ab, die sich bekanntlich in den Händen der Opposition befinden. Dadurch seien die deutschen Medien sehr anfällig für Manipulationen.
Zum Abschluss der zweitägigen Konferenz kamen alle akademischen Referenten zu einer von Harald Neuber moderierten Diskussion zusammen. Spätestens bei dieser „Herrenrunde“ zeigte sich deutlich, dass die Venezuela-Forschung auch an diesem Wochenende eine Männerdomäne4 blieb. Die Referenten hatten noch einmal die Möglichkeit, ausgehend von ihrem jeweiligen Fachbereich Thesen über den Stand und die Zukunft des bolivarischen Transformationsprozesses zu formulieren. So prognostizierte Dario Azzelini, dass der Prozess der Basisorganisation in Zukunft nicht abreißen werde. Unter Maduro – so hingegen Steve Ellner – werde sich der Rhythmus der Transformation auf nationaler Ebene verlangsamen. Nach Meinung von Gregory Wilpert müsse sich der neue Präsident mehr auf interne Probleme konzentrieren, weshalb das internationale Projekt des Bolivarismus in Form von ALBA, Petrocaribe etc. nicht wie unter Chávez fortgeführt werden könne. Christian Cwik erinnerte jedoch daran, dass besonders hier, im Stoppen der Freihandelszone ALCA und in dem Bruch der OAS-Hegemonie über Lateinamerika eine der größten Errungenschaften von Chávez liege. Wilpert verwies ebenfalls darauf, dass der Tod von Hugo Chávez mehr Raum für interne Debatten öffne. Harald Neuber verwies in diesem Zusammenhang auf die Polit-Talkshow „Aló Presidente“ von Hugo Chávez, die nunmehr in „Diálogo Bolivariano“ umbenannt und deren Format von Monologen des Präsidenten in einen Dialog zwischen Politikern und Experten geändert wurde.
Die Abschlussdiskussion, wie auch der gesamte Kongress, ließ sich als Dialog zwischen Forschern mit unterschiedlichen Fachgebieten und Kernthemen, jedoch ähnlicher Ausrichtung verstehen. Die daraus resultierende Beurteilung der chavistischen Politik führte dazu, dass wirklich kontroverse Diskussionspunkte in erster Linie aus dem Publikum heraus vorgebracht wurden. Durch die Auswahl der Referenten wurden ideologische Grabenkämpfe vermieden, die so manche Diskussion um die Politik von Chávez lähmen. Dass durch diese Schwerpunktsetzung die Auseinandersetzung mit Kritik aus der antichavistischen Opposition nicht im Zentrum stand, mag als einseitig erscheinen. Es ermöglichte in Köln jedoch, einen Raum zu schaffen, in dem unterschiedliche Aspekte des bolivarischen Transformationsprozesses aus der gegebenen Perspektive kompetent beleuchtet wurden.
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Bildquelle: Quetzal-Redaktion, aa