“Wer für den Schwachen kämpft, hat den Starken zum Feind.”
(Gottlieb Duttweiler, Gründer der Handelskette Migros in der Schweiz)
Die Extraktivismus-Debatte: Erdöl, Staat und Entwicklung
Neben der Demokratie-Debatte hat sich die Extraktivismus-Debatte, in der das Verhältnis zwischen Erdölexportabhängigkeit, Rolle des Staates und Entwicklungsmodell thematisiert wird, als zweiter Fokus der Kritik an Hugo Chávez herauskristallisiert. In dieser zweiten Debatte bündeln sich zugleich die oben aufgeführten Strukturprobleme, mit denen die bolivarische Reform-Revolution zu kämpfen hat. Der wirtschafts- und entwicklungspolitische Doppelcharakter des Extraktivismus zeigt sich in Venezuela – wie in allen Petro-Staaten des globalen Südens – als Dilemma bzw. Blockade. Der Petro-Staat Venezuela besteht seit etwa 75 Jahren. Er ist – gemessen an der 500 Jahre alten Extraktionsökonomie, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit hat – relativ jung, folgt jedoch derselben Logik: Die zum gegebenen Zeitpunkt abbau- und auf dem Weltmarkt verwertbaren Naturressourcen werden exportiert. Die damit erworbenen Renten werden von der „Herrenklasse“ kontrolliert, verteilt und letztlich unproduktiv „verpulvert“. Periodisch auftretende Umverteilungskämpfe innerhalb der „Herrenklasse“ bzw. zwischen dieser und aufsteigenden Mittelschichten bzw. den marginalisierten Unterschichten ändern nichts an der Grundlogik des rentenbasierten Extraktivismus. Auf lange Sicht sind Abhängigkeit, Entwicklungsblockaden, irreversible Umweltschäden und Übernutzung bzw. Verlust der nichterneuerbaren Ressourcen das Resultat.
Zwar wird zu Recht – meist von links – kritisiert, dass die bolivarische Reform-Revolution mit dieser Logik nicht gebrochen hat, drei Dinge werden dabei allerdings ausgeblendet: Erstens ist dies bislang in Venezuela von niemandem ernsthaft versucht worden. Aber immerhin unterscheidet sich Hugo Chávez zweitens von all seinen Vorgängern darin, dass er die Ölmilliarden erstmals in die armen Unterschichten „investiert“. Dies geschieht durchaus im Doppelsinn – zum einen als politische „Investition“ zugunsten von Stabilität und Machtsicherung, zum anderen im Sinne einer Verbesserung der Lebenschancen der armen Bevölkerungsmehrheit. Drittens stellt sich die Frage, wodurch überhaupt ein Bruch mit der Logik des Extraktivismus verhindert wurde bzw. wird. Oder anders gefragt: Was macht das Erdöl zu „Exkrementen des Teufels“ und verhindert, dass es im Sinne einer zukunftsfähigen Produktionsweise „gesät“ werden kann?
Obgleich eine in der Praxis getestete Antwort noch aussteht, lassen sich doch wichtige Voraussetzungen für eine Transformation des Ressourcenfluchs in einen „Segen“ benennen: Verteilung und Einsatz der Ölrente müssen so erfolgen, dass alternative Produktionszweige aufgebaut werden können, die nicht nur in der Konkurrenz des Weltmarktes Bestand haben, sondern auch sozial und ökologisch zukunftsfähig sind. Ohne einen durchsetzungsfähigen, planenden und intervenierenden Staat ist diese schwierige und langwierige Aufgabe nicht zu bewältigen.
Bei der Überwindung des Extraktivismus kommt gerade in Venezuela dem Agrarsektor in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselstellung zu: Erstens bei der gesamtwirtschaftlichen Diversifizierung, zweitens zur Rückgewinnung der Ernährungssouveränität, drittens bei der Schaffung eines Binnenmarktes und viertens um eine künftige Industrialisierung zu ermöglichen. Wie groß die hier zu erbringende Transformationsleistung ist, zeigt sich darin, dass 2010 allein für Nahrungsmittel-Importe über 5 Milliarden US-Dolar ausgegeben werden mussten. Umso bedauerlicher ist der Umstand, dass die chavistische Agrarreform nur schleppend vorankommt.
Für und wider „Erdölsozialismus“
Eines der Hauptprobleme ist die in allen Bevölkerungsschichten verbreitete Rentenmentalität: Bei den Oberschichten verbinden sich parasitäres Konsumverhalten, eine feindliche Einstellung gegenüber staatlichen Interventionen, Kapital- und Steuerflucht sowie Fixierung auf die Finanzmärkte zu einer besonders schwer aufzubrechenden Blockadehaltung. Die Mittelschichten orientieren sich politisch, sozial und ideologisch meist an den Oberschichten, während die Unterschichten gerade erst beginnen, sich aus der Alimentierungsfalle zu befreien.
Bei der Überwindung der Rentenmentalität der Unterschichten erweisen sich die misiones einerseits als wirksames Instrument der Förderung von Bildung, Selbstorganisation und Selbstverwaltung, wodurch notwendige Veränderungen im Sozialverhalten befördert werden. Andererseits können sie auch die Fortsetzung staatlicher Alimentierung bewirken.
Gravierender ist jedoch die Losung vom „Erdölsozialismus“. Mit dieser stellen Kritiker von Hugo Chávez den bisherigen Kurs des Transformationsprozesses in Frage. Während Rechte – aber auch Linke – sich vor allem an der dominanten Rolle des Staates, der Re-Nationalisierung des Ölsektors und der Verwendung der Ölmilliarden für die Unterschichten stoßen, bemängeln vor allem Linke die wachsende Abhängigkeit vom Erdöl und die Reduzierung auf eine bloße Umverteilungspolitik. Chávez selbst, von dem diese Formulierung ursprünglich stammt, interpretierte den „Erdölsozialismus“ vor allem positiv. Seiner Meinung nach ermöglicht gerade der Ölreichtum Venezuelas den Aufbau des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Er negiert damit nicht nur die Gefahren, die der Logik des Extraktivismus und der Rentenmentalität innewohnen, sondern konterkariert damit das Konzept der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Dieser ist nur dann durchsetzbar und von Bestand, wenn er Antworten auf die globalen Probleme des 21. Jahrhunderts gibt und sich damit als Alternative zum Krisenkapitalismus erweist. Mit einer Fortsetzung des Extraktivismus, wie ihn der Begriff des „Erdölsozialismus“ suggeriert, ist eine zukunftsfähige Gesellschaft nicht vereinbar.
„Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – Realität oder Ziel?
Ungeachtet aller Fortschritte des Transformationsprozesses, der von Hugo Chávez eingeleitet wurde und geprägt ist, legen auch andere Argumente nahe, dass dieser noch weit von jenem Ziel entfernt ist, das mit dem Begriff des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ eher vage umrissen ist. Bislang bewegt sich der bolivarische Prozess noch im Rahmen eines Staatskapitalismus, der sich durch eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten einer armen Bevölkerungsmehrheit auszeichnet und dessen materielle Basis auf dem Extraktivismus beruht. Für den erforderlichen Durchbruch zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ fehlen die machtpolitischen Voraussetzungen und ein moderner Staat, unter dessen Ägide Partizipation, Planung und Intervention den notwendigen Beitrag zur schrittweisen Überwindung des Extraktivismus leisten. Es stellt sich ferner die Frage, wie sich der „Sozialismus des 21. Jahrhundert“ in einem Weltsystem entwickeln soll, das nicht nur kapitalistisch und global ist, sondern darüber hinaus weiter von der Logik der entfesselten Finanzmärkte dominiert wird. All diese Einwände führen zu dem Schluss, dass der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den Hugo Chávez nicht nur in Venezuela populär gemacht hat, das Ziel der bolivarischen Reform-Revolution beschreibt, aber (noch) keine gesellschaftliche Realität. Bestimmte Ansätze und Keime des Neuen sind zwar vorhanden, der entscheidende Durchbruch steht aber noch aus.
Hugo Chávez jenseits von Mythos und Dämonisierung
Immerhin muss Hugo Chávez zugute gehalten werden, dass er den Begriff des Sozialismus, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion obsolet schien, enttabuisiert hat. Er selbst hat ihn als Zielpunkt des bolivarischen Prozesses benannt. Dessen Verlauf und Ergebnisse sind aber zu widersprüchlich, um ihn als „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bezeichnen zu können. Überträgt man diese gemischte Bilanz auf Hugo Chávez, dann wird man ihm am besten mit der Charakterisierung als „unvollendeter Sozialist“ gerecht.
Indem Hugo Chávez das Konzept des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ aufgegriffen und diesen zum Ziel der bolivarischen Reform-Revolution machte, hat er in den Augen seiner Gegner einen weiteren, unverzeihlichen Tabubruch begangen. All diese Tabubrüche, die Hugo Chávez wegen seiner Herkunft, seines Stils, seiner Politik und seine Parteinahme für die Armen von seinen Gegnern angelastet werden, erklären einerseits dessen Dämonisierung.Andererseits setzen seine Anhänger dem den positiv besetzten Mythos des comandante entgegen. Am besten wird man jedoch dem Wirken von Hugo Chávez gerecht, indem man beide Extreme vermeidet. Die Polarisierung, die bislang die Debatte über seine Verdienste und Fehler geprägt hat, ist einer sachlichen Diskussion wenig dienlich. Sie hat zwar ihren Ursprung in der sozialen Polarisierung der IV. Republik und setzt sich in der politischen Polarisierung der V. Republik fort, wird aber zugleich in Gestalt einer ideologisch motivierten und medial inszenierten Polarisierung von rechts gegen Hugo Chávez instrumentalisiert, der darauf seinerseits selbst oft polarisierend reagiert hat.
Trotz – vielleicht auch wegen – dieser Polarisierung hat sich Hugo Chávez große Verdienste erworben. Auch wenn vieles widersprüchlich und unvollendet geblieben ist, hat er ein gewichtiges Stück Zukunftsarbeit geleistet, an dem sich alle messen lassen müssen, die sich nach ihm den gewaltigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen werden.
„In der Tat, Hugo Chávez hinterlässt ein außergewöhnliches Erbe, geprägt von restloser Aufopferung und Hingabe für die Rechtlosen und Ausgeschlossenen in seinem Lande und die Verbesserung von deren Los. Er bleibt ihnen allen lebendig in der Erinnerung erhalten. Hugo Chávez hat sein Volk geliebt; er hat ihm Würde, Respekt und Selbstachtung verliehen. Ein ganz Großer unter den Großen“ (Walter Suter, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und zuletzt Botschafter seines Landes in Venezuela, Quelle: amerika21).
Bildquellen: [1] Caroline Benett /Rainforest Action Network; [2] Quetzal-Redaktion