„Wer für den Schwachen kämpft, hat den Starken zum Feind.“
(Gottlieb Duttweiler, Gründer der Handelskette Migros in der Schweiz)
Die Agenda der bolivarischen Revolution zielte zunächst auf die Neugründung des Landes. Den ersten Schritt bildete die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Insgesamt beinhaltete das Projekt der Neugründung Venezuelas die Rückgewinnung der nationalen Souveränität, die Überwindung der sozialen Kluft zwischen Arm und Reich, die Ausweitung der demokratischen Rechte für die bislang Marginalisierten, das Vorantreiben der regionale Integration und das Ringen um eine multipolare Weltordnung. Für die Umsetzung dieser Agenda stand kein Masterplan zur Verfügung. Abfolge, Reichweite und Tiefe der Veränderungen hing vom jeweiligen Kräfteverhältnis, den Spielräumen und den institutionellen bzw. strukturellen Hindernissen ab. Auch Glück und Zufall spielten ihre Rolle.
Die anti-chavistische Konter-Reform
Die Initiative lag zunächst beim anti-chavistischen Gegenreformbündnis aus der alten politischen Klasse einschließlich der Gewerkschaftsführer, Unternehmer-Oligarchie, katholischer Kirche sowie Teilen der Staatsbürokratie, der Armee und der Manager der staatlichen Ölgesellschaft PdVSA. Unterstützt wurde die Konter-Reform von der Bush-Adminstration in Washington. Zwischen Dezember 2001 und August 2004 (siehe Chronologie) zogen diese Kräfte alle Register, um Chávez zu Fall zu bringen: Generalstreik (2001), Putsch (2002), Lahmlegen des Ölsektors (2002/2003), Abwahlverfahren (2004). Am gefährlichsten war der Putsch vom April 2002. Die Putschisten, die das gesamte Spektrum der anti-chavistischen Konter-Reform repräsentierten, setzten Chávez gefangen, flogen ihn in einer geheimen Aktion auf einen entlegenen Militärstützpunkt aus und wollten ihn zur Unterzeichnung einer Rücktrittserklärung zwingen. Eine spontane Massenbewegung, die ihre soziale Basis vor allem in den städtischen Armensiedlungen hatte, kippte im Bündnis mit Chávez-treuen Einheiten der Armee die Situation und trieb die Putschisten in die Flucht. Hugo Chávez kehrte unversehrt in sein Amt zurück. Den milden Umgang mit den Putschisten im Anschluss deutete die Opposition als Zeichen der Schwäche und versuchte durch einen 63-tägigen Streik im lebenswichtigen Ölsektor, die gesamte Wirtschaft lahmzulegen. Trotz der enormen ökonomischen Schäden, die diese Aktion verursachte, scheiterte auch dies Anfang Februar 2003. Ein letzter Versuch im April 2004, Chávez im Rahmen der neuen Verfassung abzuwählen, brachte ebenso wenig Erfolg.
Der Chavismo im Vormarsch
Nachdem die anti-chavistische Konter-Reform ihre letzten „Trümpfe“ ausgespielt hatte und gescheitert war, ging Chávez auf fünf Feldern in die Offensive. Die entscheidende Grundlage dafür bildete erstens die Re-Nationalisierung des Erdöls und anderer, als strategisch eingestufter Ressourcen bzw. Bereiche (Eisen- und Aluminiumindustrie u.a.). Dies war nicht nur deshalb erforderlich, weil sich das obere und ein Teil des mittleren Managements von PdVSA mit dem „Ölstreik“ offen auf die Seite der Konter-Reform geschlagen hatten, sondern vor allem deshalb, weil die staatliche Ölgesellschaft entsprechend der neoliberalen Vorgaben zuvor wie ein Privatunternehmen agieren konnte und dem Staat damit wichtige Einnahmen verlorengingen.
Mit der Re-Nationalisierung konnte Chávez dann auch sein zweites Projekt finanzieren: die Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsprogramme, die als misiones an der Staatsbürokratie vorbei die Lebensverhältnisse der in Armut lebenden Bevölkerungsmehrheit (ca. 70 Prozent) verbessern sollten.
Den dritten Bereich bildeten Maßnahmen zur machtpolitischen Absicherung der Reform-Revolution. Diejenigen in den Streitkräften und im Staatsapparat, die sich während des Putsches 2002 regierungsfeindlich verhalten hatten, mussten gehen. Außerdem wurde die Militärdoktrin den neuen Bedingungen angepasst und der Präsident veranlasste den Aufbau einer Volksmiliz.
Viertens begann sich die soziale Basis des Chavismo (neu) zu organisieren. Erste, spontane Versuche der Selbstorganisation hatte es bereits im Umfeld der verschiedenen Umsturzversuche zwischen 2001 und 2004 gegeben. Nun kam politische, finanzielle und moralische Unterstützung vom comandante hinzu. Die Selbstorganisation des Chavismo vollzog sich in den verschiedensten Bereichen: in den Wohn- und Siedlungsgebieten, in den Gewerkschaften, in den selbstverwalteten Betrieben, durch die Bildung von Genossenschaften, über die Volksbewaffnung und bei der Umsetzung der misiones. 2007 wurde mit der Bildung einer chavistischen Einheitspartei, der PSUV, begonnen.
Fünftens trieb Chávez die Außenpolitik in mehreren Richtungen voran. Zentrales Anliegen war die regionale Integration Lateinamerikas im Sinne der Ideale Bolívars, wobei die Initiativen in verschiedene, sich ergänzende Projekte mündeten. Um die Achse Venezuela-Kuba bildete sich ab Dezember 2004 unter der Führung von Hugo Chávez die Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA), der neben den beiden Gründungsmitgliedern Bolivien, Ecuador, Nicaragua und einige karibische Inselstaaten angehören. Außerdem nahm der venezolanische Präsident eine regionale Neuausrichtung vor, indem er am 19. April 2006 den Austritt aus der Andengemeinschaft (CAN) erklärte und Venezuela wenig später, am 20. Juli, Vollmitglied im Mercosur wurde. Wichtige chavistische Initiativen zur weiteren Regionalintegration sind die Zusammenarbeit mit 17 anderen karibischen und lateinamerikanischen Staaten im Rahmen von Petrocaribe (gegründet am 7. September 2005), die Gründung der Bank des Südens (22. Februar 2007) sowie des Fernsehsenders TeleSur (Erstsendung 24. Juli 2005). In enger Kooperation mit Brasilien konnte die Errichtung einer USA-dominierten Freihandelszone, die von Alaska bis Feuerland reichen sollte, verhindert werden. Beide Staaten waren auch maßgeblich an der Gründung von UNASUR (23. Mai 2008) und CELAC (23. Februar 2010) beteiligt.
Neben der lateinamerikanischen Integration bildet die Stärkung der Organisation Erdöl Exportierender Staaten (OPEC), zu deren Gründungsmitgliedern 1960 Venezuela gehörte, das zweite Standbein chavistischer Außenpolitik. Hier lässt sich auch die enge Zusammenarbeit mit dem Iran einordnen. Die gebetsmühlenartig inszenierte Medienschelte in westlichen Medien reiht sich in das Polarisierungsritual ein, welches dazu dienen sollte, Chávez außenpolitisch unter Druck zu setzen.
Das gemeinsame Interesse an einer stabilen multipolaren Weltordnung, ergänzt durch geopolitisch inspirierte Kooperation, bildete die Basis der Zusammenarbeit mit Russland und China. Während Russland für Chávez vor allem als alternativer Waffenlieferant interessant war, besaß (und besitzt) China in seiner doppelten Eigenschaft als Käufer venezolanischen Erdöls und als Investor (gerade im Erdölsektor) große Bedeutung. Auch diese dritte Richtung chavistischer Außenpolitik war – wie die ersten beiden – defensiv ausgerichtet. Sie dienten vor allem dazu, die internationalen Spielräume Venezuelas zu erweitern und den bolivarischen Transformationsprozessen gegenüber Angriffen seitens der USA abzusichern.
Suche nach einem Ausweg aus der Doppelfalle
Die chavistische Außenpolitik kann ohne das besondere Verhältnis zu den USA nicht erklärt werden, wobei mehrere Faktoren zu berücksichtigen sind. Seit Venezuela 1935 zum Erdöl exportierenden Land geworden war, ging der überwiegende Teil der Lieferungen in die USA. Solange die IV. Republik bestand, war die daraus resultierende gegenseitige Abhängigkeit kein Problem, sondern für beide Seiten vorteilhaft. Als regionale, später globale Hegemonialmacht wähnten sich die Vereinigten Staaten sicher, dass Venezuela gar nichts anderes übrig blieb, als sich in sein Schicksal als Öllieferant zu fügen. Allein die Tatsache, dass das lateinamerikanische Land erstens zu 90 Prozent vom Erdölexport abhängig ist und dieser zweitens zu 80 Prozent in die USA geht, lässt Venezuela kaum Spielräume für Alternativen. Und genau hier liegt auch der Dreh- und Angelpunkt der chavistischen Außenpolitik. Als überzeugter Bolivarianer wollte und musste er weg von der einseitigen Abhängigkeit von den USA. Als Präsident des Erdölstaates Venezuela konnte er dies nicht – jedenfalls nicht sofort und mit einem Mal. Chávez tat in dieser Situation das einzig Mögliche, um wenigstens langfristig aus der Doppelfalle – Abhängigkeit vom Erdöl und von den USA – herauszukommen: Er nutzte das Erdöl als Instrument, um sich zunächst aus der politischen Vorherrschaft der USA zu befreien. Die steigenden Einnahmen aus dem Rohstoffexport dienten in mehrfacher Hinsicht als „Schmiermittel“ beim Aufbau gegenhegemonialer Strukturen und Akteure gegen die Dominanz der USA:
– Erstens zur Finanzierung der lateinamerikanischen Integrationsprozesse, teils unter venezolanischer Führung, teils in enger Kooperation mit der regionalen Führungsmacht Brasilien;
– zweitens zur Stärkung der Reform-Revolution in Venezuela selbst, wobei das Geld vor allem in die misiones und die nationale Verteidigung floss;
– drittens zur Gewinnung von internationalen Bündnispartnern (OPEC-Iran, Russland, China).
Ungeachtet aller anti-USA Rhetorik blieb diese Politik defensiv ausgerichtet. Die militärischen Ressourcen waren der Verteidigung gegen Angriffe von außen vorbehalten. Gegenüber seinen Nachbarn, d.h. auch gegenüber Kolumbien, dem engsten Bündnispartner der USA in Südamerika, strebte Venezuela nach guten Beziehungen. Gegenüber den kleinen karibischen Inseln in der Nachbarschaft verhielt sich Chávez immer fair und zurückhaltend. Selbst Revolutionsexport konnten ihm seine Gegner nicht ernsthaft vorwerfen. Derartige Absichten lagen ihm fern. Damit fungierte die regionale Mittelmacht Venezuela klar erkennbar als lateinamerikanischer Stabilitätsfaktor. Anders lässt sich kaum erklären, warum auch rechte Staatsoberhäupter wie Juan Manuel Santos (Kolumbien) und Sebastián Piñera (Chile) freundschaftliche Beziehungen zu Chávez pflegten.
Das Rätsel der Polarisierung
Bleibt die Frage, weshalb Hugo Chávez und seine Politik in solchen Ländern wie den USA oder Deutschland ähnlich polarisiert haben wie in Venezuela selbst. Seitens der USA lässt sich dies relativ einfach beantworten. Zuvörderst sah sich Washington in seiner Rolle als Hegemonialmacht herausgefordert. Hinzu kommen geopolitische Ambitionen und ideologisch motivierte Überreaktionen. Diese drei Faktoren – Ökonomie, Geopolitik und Ideologie – bündeln sich in den Augen der USA auf brisante Weise in den besonders engen Beziehungen zwischen Venezuela und Kuba. Dies hat zunächst einmal mit der Washingtoner Obsession gegenüber der kubanischen Revolution zu tun. Bis heute können es die herrschenden Kreise der USA nicht verwinden, dass die einst von ihnen als Halbkolonie beherrschte Insel, die zudem noch unmittelbar vor der eigenen Haustür liegt, sich dem Sozialismus zugewandt hat und auch dann noch an dieser historischen Entscheidung festhielt, als die sowjetische Schutzmacht schon längst implodiert war und der Neoliberalismus global triumphierte. Dass Hugo Chávez Kuba mit günstigen Erdöllieferungen ökonomisch wieder auf die Beine half und dafür im Gegenzug Hilfe im Gesundheits- und Sicherheitsbereich erhielt, empfanden die USA deshalb als besonders schmerzlich.
Geopolitisch gehört Venezuela als der Karibik zugewandte Mittelmacht zur „dritten“ Grenze der USA (Kanada und Mexiko bilden die erste und zweite). Aufgrund seiner geographischen Lage spielt das Land zudem bei der Bekämpfung der transnationalen Drogenökonomie, unter deren Auswirkungen Venezuela selbst immer mehr zu leiden hat, eine wichtige Rolle. Mit der Kombination von Erdöl-Dollars, geopolitischer Verortung, anti-neoliberaler Wirtschaftspolitik und der Orientierung auf das „Patria Grande“ eines geeinten, antiimperialistisch orientierten Lateinamerika stellt die chavistische Außenpolitik für Washington insofern eine ernste Herausforderung dar, weil sonst nirgends in der westlichen Hemisphäre eine derartige Synergie zu finden ist. Dass es Chávez in erster Linie darum geht, mit der historisch ererbten Abhängigkeit von alten (Spanien, Großbritannien) und neuen Imperialmächten (USA) zu brechen, reicht bereits, um in Washington alle Alarmglocken schrillen zu lassen. Nachdem aber 2004 der letzte Versuch, Chávez direkt zu Fall zu bringen, gescheitert war und die Opposition bei fast jeder Wahl eine Niederlage hinnehmen musste, blieben der angeschlagenen Hegemonialmacht im Norden nur wenig Möglichkeiten, das Ruder herumzureißen. Unter diesen nimmt die mediale Dämonisierung des „verrückten Borderline-Demokraten“ – gepaart mit Versuchen, ihn als Politiker lächerlich zu machen – einen Spitzenplatz ein. Dem kommt entgegen, dass Hugo Chávez seinen Gegnern durch sein oftmals „unorthodoxes“ Auftreten nicht wenige Steilvorlagen geliefert hat. Dass diese international angelegte Medienstrategie im Westen so erfolgreich ist, hat aber auch mit der eurozentristisch gefärbten Brille zu tun, mit der wir auf Lateinamerika schauen. In der Regel wird dieser Kontinent kulturell und politisch dem „Westen“ zugerechnet, ohne dabei die Bedeutung des indigenen, afrikanischen und mestizischen Anteils zu beachten. Das Ausblenden oder die Verachtung der Vielfalt Lateinamerikas wird zudem von dessen Eliten geteilt, die sich seit Jahrhunderten fast ausschließlich an Europa und den USA orientieren. Nicht zuletzt deshalb darf zu Recht vermutet werden, dass bei der negativ polarisierten Wahrnehmung von Hugo Chávez rassistische Vorurteile eine Rolle spielen. Dies ist aber lediglich ein Teil zur Erklärung des Rätsels der Polarisierung, in deren Zentrum Hugo Chávez steht.
Es liegt in der Natur jedes ernsthaften Transformationsprozesses, dass er polarisiert. Dies hat zunächst damit zu tun, dass er Verlierer und Gewinner „produziert“, mit Tabus bricht und die Spielregeln neu definiert. Auf vier Tabubrüche wurde bereits verwiesen: der sozio-kulturelle Tabubruch gegenüber der „weißen“ Elite von Caracas, der anti-neoliberale Tabubruch in der Wirtschaftspolitik, der gesellschaftspolitische Tabubruch der Selbstorganisation der Armen und Marginalisierten sowie der außenpolitische Tabubruch gegenüber der US-amerikanischen Hegemonialmacht. Im konkreten Fall von Hugo Chávez kommen noch zwei wichtige Faktoren hinzu: die Spielräume, die sich aus den oben genannten außenpolitischen Synergien ergeben, und die Beispielwirkung der Reform-Revolution, die damit verbunden ist. Ein letzter Punkt, auf den hier näher eingegangen werden soll, ist die Frage nach dem revolutionär erschlossenen „Neuland“.
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Bildquelle: [1] Bernardo Londoy; [2] Public Domain; [3] Public Domain
Teil 1 des Artikels finden Sie hier. Teil 3 finden Sie hier.