Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Sumak Kawsay: Der dritte Staat – Alternative zum Kapitalismus und Sozialismus [Excerpt]

Lesedauer: 15 Minuten

Nachdem ich im Zuge meiner Masterarbeit häufig auf in Zeitschriften veröffentlichte Essays von Atawallpa Oviedo Freire gestoßen war, wurde ich wenige Monate später angefragt, ob ich den Autoren nicht bei einer Veranstaltung dolmetschen könnte. Im Hinblick auf den Auftrag im Dezember 2022 setzte ich mich mit dessen Werken auseinander. Im Anschluss an die Konferenz besprachen der Autor, der Vorsitzende des bolivianisch-deutschen Vereins für Ressourcengerechtigkeit Ayni e. V. und ich das Vorhaben, eins der in Lateinamerika veröffentlichten Werke auch in die deutschen Buchläden zu bringen. Mit Sumak Kawsay: Der dritte Staat – Alternative zum Kapitalismus und Sozialismus kommen indigene Stimmen auch in Deutschland zu Wort. Hochaktuelle Themen wie Klimawandel, Umwelt -und Systemkrise sollten auch für das deute Publikum sehr interessant sein. Dieses sehr lohnenswerte Projekt sucht außerdem noch Unterstützung von (akademischen) Stiftungen, Organisationen, Individuen…, die ebenfalls ein Interesse daran haben, die Diskussion über globale Fragen interkulturell zu gestalten und am Laufen zu halten. An dieser Stelle zunächst ein Einblick in Vorwort und Einleitung des Buches, mit freundlicher Genehmigung von Atawallpa Oviedo Freire [Uta Hecker]

 

Wir sind die unsinnige Geschichte, die sich wiederholt, um sich nicht mehr zu wiederholen,

der Blick zurück, um vorangehen zu können.

Micaela Bastidas, Gefährtin des Tupak Amaru

 

Für meine geliebte Lebensgefährtin Paola

und unseren Sohn Inti Sumak Kapak,
mit denen ich in vereinter Harmonie auf dem Weg bin.

Und für die Traditionellen Völker,

fälschlicherweise als „isoliert” oder „unkontaktiert“ bezeichnet.

 

Vorwort

Bis 2006 standen in der ganzen Welt nur zwei mögliche Systeme für die Menschheit zur Debatte: Kapitalismus oder Sozialismus, Rechts oder Links, mit ihren vielfältigen Ausprägungen und Abstufungen untereinander. Doch gegenwärtig ist die Rede von einer weiteren Möglichkeit, von einem anderen System, das die Aufmerksamkeit vieler Menschen weltweit geweckt hat, vor allem in den Reihen der politischen Intellektuellen und Wissenschaftler an vielen Universitäten.

Die ausführliche Beschäftigung mit ebendiesem System begann zu dem Zeitpunkt, als diverse Prinzipien der Weltanschauung und der Lebensauffassung der Andenkulturen unter der Bezeichnung des „Guten Lebens“ (Vivir Bien oder Buen Vivir) Eingang in die politischen Verfassungen Boliviens und Ecuadors fanden – und sei es auch oberflächlich behandelt. Im Zuge dessen, wurden im Fall Ecuadors die Rechte der Natur mit aufgenommen, ein weltweit einzigartiges Phänomen, denn keine andere Verfassung geht über die Menschenrechte hinaus.

Überall auf der Welt sind Aktivisten daran interessiert zu erfahren, was dieses System ausmacht; es gibt sogar schon Gegenwind, aber Offenheit und Motivation überwiegen trotzdem. Entscheidend ist, dass dieses neu-alte System im wissenschaftlichen Gespräch und in der realpolitik vorkommt und aktiv diskutiert wird.

Dieses System, die uralte Lebensart der Andenvölker, lebt und überlebt auf unterschiedliche Weise innerhalb einiger Gemeinschaften und Völker, die wenig oder kaum von Zivilisation, Patriarchalismus, Kapitalismus, Moderne und Entwicklung beeinträchtigt wurden. Somit besteht es in manchen Gemeinschaften und Völkern hier und da fort, in anderen werden einige Elemente nur in bestimmten Familien beibehalten oder von Einzelpersonen gewahrt. Folglich existiert heutzutage kein ganzheitliches, vollständiges und allumfassendes Modell in den Anden, vielmehr sind es regional verstreute Bruchstücke davon. Betrachten wir jedoch das Gesamtbild, erkennen wir, dass sich das uralte Gemeinschaftssystem aufrechterhalten hat, geschwächt zwar, aber immer noch in der Lage aufzublühen. Deshalb werden wir uns hier um eine theoretische Systematisierung bemühen, auch unter dem Gesichtspunkt der 500 Jahre Kolonialismus, die Amerindia1 durchlebt hat. Der Kolonialgeschichte zum Trotz entwickelt sich dieses System nun zum Wegweiser und Vorbild all jener, die sich für eine neue und andere Welt als die jetzige einsetzen wollen. In jedem Fall wird dieser Lebensentwurf zu einem Fluchtweg und zu einem Mittel, um aus den anthropozentrischen Systemen Kapitalismus und Sozialismus auszubrechen und sich noch ein weiteres, reelles und mögliches System vorzustellen.

Dieses andine gemeinschaftsorientierte System trägt mittlerweile viele Namen, sowohl in den Andensprachen, als auch im Spanischen. In Kichwa heißt es Sumak Kawsay, in Aymara Suma Qamaña, im amtlichen Spanisch Vivir Bien (Bolivia) – Buen Vivir (Ecuador); doch für Andere ist es das Erfüllte Leben, das Zusammenleben in Harmonie, das Leben als Gleichgestellte, etc. Offensichtlich soll so etwas benannt werden, das dieses System ausmacht oder auf den Punkt bringt. Nichtsdestotrotz ist es eine aktuelle Tendenz die andine Lebensweise unter diesem Begriff zu definieren. Ganz Amerindia, (und überhaupt die Welt an sich), war von alters her in gemeinschaftlichen Systemen in ihren verschiedenen, spezifischen Versionen organisiert. Was die Anden betrifft, hat man sich inzwischen darauf geeinigt, dass Sumak Kawsay eine Bezeichnung ist, die den Kern der Sache trifft. Dieses Konzept wurde von indigenen und nicht-indigenen Gruppen ins Spanische übertragen. Der Name ist also noch jung, aber er steht für eine uralte Lebensweise. Das Wort Sumak Kawsay wird man historisch weder finden noch belegen können, wohl aber Hinweise auf den Lebensstil bzw. auf das Gesellschaftssystem und das ist letztlich das was zählt, worauf es ankommt. Ausgehend von geschichtlichen Anhaltspunkten und von dem, was heute an Strukturen übriggeblieben ist, soll der Versuch unternommen werden, diesem Gesellschaftsmodell Gestalt zu verleihen, sodass es heutigen Andenvölkern als Orientierung dient und auch auf globaler Ebene ein Bezug dazu hergestellt werden kann. Das „Gute Leben” ist der andine Beitrag zum weltweiten Dorf der gemeinschaftlichen Bewegung, in die auch andere Ströme mit einfließen, wie u. a. Postwachstum, Gemeingüter, direktdemokratische Partizipation, Soziokratie und Ökokratie.

Da es auf der Welt eine große Vielfalt an gemeinschaftlichen Systemen gegeben hat (und gibt), erschien es sinnvoll, der panandinen Lebenswelt einen bestimmten Namen zu geben. Obgleich im Inneren des andinen Amazonasgebiets noch einmal Unterschiede festzustellen sind, findet man doch eine allgemein geteilte, gemeinschaftsorientierte Auffassung bei allen Völkern, die rund um das südamerikanische Andengebirge leben und diese zeigt sich im Sumak Kawsay oder „Guten Leben“. Aus diesem Grund ist das „Gute Leben“ keine akademische Erfindung, wie manche Denker behaupten. Es war nicht so, dass irgendjemand sich das Wort ausgedacht und es durch dieses oder jenes allgemeine Konzept populär gemacht hätte, sondern man wandte sich an zahlreiche Großväter und Großmütter mit der Frage, wie sie die andine Lebensweise am ehesten bezeichnen würden. Die meisten stimmten für Sumak Kawsay, sowohl in Ecuador, als auch in Bolivien und Peru. Genauso empfanden es auch viele indigene Intellektuelle und Wissenschaftler unserer Zeit. Dies geht aus mehreren Schriften hervor, wie z. B. aus den Leitsätzen vieler indigener Institutionen, deren Gründung lange vor der offiziellen Aufnahme in die politischen Verfassungen Ecuadors und Boliviens erfolgt war.

Zudem wurde dieses Konzept auf verschiedene Weise eingeordnet: Im offiziellen Diskurs als ein weiteres Entwicklungsmodell, im entgegengesetzten Verständnis als eine Alternative zur Entwicklung. Für wieder andere ist es nicht nur ein System, dass über Entwicklung und Moderne hinausgeht, sondern sich auch fernab von Kapitalismus und Sozialismus abspielt; ja im Prinzip jenseits des Zivilisationswahns, der Hegemonie des Christentums, des Anthropozentrismus und all dessen, was wir als patriarchalischen Kapitalismus zusammenfassen. Das heißt, das uralte Andensystem ist nicht nur wirtschaftlich und/oder gesellschaftlich und/oder politisch zu deuten. Vor alledem handelt es sich um eine Lebensordnung, um eine Lebensweise, mit einer allumfassenden, systemischen Philosophie, die wir als „Spiralitätsphilosophie“ bezeichnen könnten, da sie auf einem ganzheitlichen, holistischen Ansatz der Vollständigkeit und des Zusammenspiels der Beziehungen beruht.

Das Spannende dabei ist – und das hat bisher niemand aus der Wissenschaft registriert – dass dieses System nicht durch Zufall oder aus einer Laune des Schicksals heraus in den Fokus der Weltöffentlichkeit getreten ist. Dieses Ereignis ist nicht einmal durch den Kampf der indigenen Völker der vergangenen Jahre herbeigeführt worden. Vielmehr war es schon seit mehr als 500 Jahren so vorgesehen, genau wie viele andere aktuelle und zukünftige Entwicklungen. Was gerade passiert, ist nichts mehr und nichts weniger als das Ergebnis eines fünfhundertjährigen Prozesses, der so gestaltet und geplant wurde, dass die alten Voraussagen heute für unsere Generation tatsächlich Wirklichkeit geworden sind.

Bekanntermaßen sind durch spanische Chronisten etliche Spuren überliefert worden, die darauf hinweisen, dass die ursprünglichen Völker Amerindias bereits wussten, dass Invasoren aus fernen Ländern kommen würden und dass ihnen binnen kurzen die Unterwerfung drohte. Denn gegen die mächtigen Waffen der Eindringlinge (Krankheiten, Kriegsmaschinerie, Habgier) würden sie sich unmöglich verteidigen können. Wenn sie sich, anders gesagt, dem Angreifer entgegengestellt hätten, wären sie physisch ausgelöscht worden und verschwunden. Auf diesem Hintergrund entwarfen sie eine Vielzahl an Strategien, um am Leben zu bleiben und später zurückzukehren – nach exakt 500 Jahren.

Nach dem Tod des Atawallpa, dem letzten Inka aus Kitu, (heute Ecuador), fingen die Menschen an, von Rückkehr zu sprechen. Sie redeten von der Rückkehr des Inkarri und Wirakocha. Und so war in ganz Amerindia dieselbe Botschaft in aller Munde: Die Rückkehr von Quetzalcóatl, Kukulkán, Komizahual, Bochika, Ibegorum, Mamá Grande, Pay Zumé etc.

Im Laufe dieser fünf Jahrhunderte erhoben sich Persönlichkeiten, die diese Botschaften öffentlich verkündeten und den roten Faden der Rückkehr weiter flochten und webten. So z.B. Túpak Amaru in Peru, der Wegbereiter der „kolonialen Unabhängigkeit von Spanien“ vor mehr als 200 Jahren, der vor seiner Ermordung durch den spanischen Vizekönig schrie: „Zu Tausenden und Abertausenden werden wir zurückkehren“. Ebenso Túpak Katari in Bolivien: „Ich werde zurückkehren, in der Gestalt von Millionen“. Dolores Cacuango in Ecuador, vor 50 Jahren: „Wir sind wie das Gras. Sie können uns tausendmal abschneiden, aber wir werden immer wieder geboren werden“.

Und das haben sie erfüllt. Nach 500 Jahren sind sie zurückgekommen; heute befinden sie sich wieder hier, als Bürgermeister, Abgeordnete, Fachkräfte, Künstler, Schriftsteller usw. Doch vor allem blühen ihre Erkenntnistheorien auf, ihre Philosophien, ihre vielgestaltige Spiritualität, ihre vielfältige Medizin – und all das findet sich zusammen in der Lebensordnung Sumak Kawsay. Dieses System konnte nun auch auf offizieller Ebene in Erscheinung treten – wenngleich bislang immer noch verstümmelt und ausgezehrt.

Es war keine Lüge, kein Irrtum. Sie sind zurückgekehrt zu der Zeit, die sie angekündigt hatten. Daher können wir behaupten, dass die „Prophezeiung“ so in Erfüllung gegangen ist wie vorausgesagt: „Das Licht wird inmitten der Nacht wiederkehren“.

Nur ein Volk mit Weisheit und tiefgründigem Bewusstsein war in der Lage, so sorgsam und sachte ein Vorhaben von derartiger Reichweite umsetzen. Das Ziel ist es, eine neue Welt mit Hilfe einer neuen Menschheit zu schaffen. Das ist der nächste Schritt. Jetzt, nach der Rückkehr, wird daran gearbeitet, dieses mit Verfallsdatum behaftete Weltsystem, von dem wir regiert werden, zu verändern; nicht nur für die Andenvölker, sondern für alle Völker der Mutter Erde. So wird auch in Erfüllung gehen, was „Prophezeiungen“ anderer Kulturen der Welt besagen, nämlich, dass bei diesem neuen Wiederaufleben der Menschheit indigene Völker Amerindias, besonders die Andenvölker, den Weg weisen würden.

Deshalb ist es überhaupt kein Zufall, dass der erste indigene Präsident in den Anden ins Amt kam, und dass zum ersten Mal weltweit, ein System der Vorfahren2 Eingang in eine Magna Carta fand. Ebenso wenig ist es zufällig, dass zum ersten Mal in der nationalen Gesetzgebung die „Rechte der Mutter Erde“ oder die Rechte der Natur anerkannt wurden – auch erstmalig weltweit.

All das sind für Wissenschaft und Intellektualität nur Mythen, Legenden, Volksglaube, Esoterik, Überlieferungen, usw. Wie lässt sich das alles erklären? Wie lässt sich hinter den indigenen Aufständen das große Ganze erkennen, der Plan, der in 500 Jahren Gestalt annahm? Wie wird es möglich sein, die Unternehmungen auf dem Weg zu erspüren, die bereits in aller Stille umgesetzt werden? Wie zeichnen sich die nächsten Schritte ab und welche Ergebnisse sollen wohl erreicht werden?

Dieses Buch stellt sich gegen extremistische, partielle, trennende oder ausgrenzende Positionen. Es soll alle in einer sich ergänzenden Weise mit einbeziehen, jedoch ohne illusionistischen, romantisierenden oder fundamentalistischen Vorstellungen zu verfallen. Es geht auch nicht darum, die goldene Mitte zu finden oder Mischformen zu vereinen, um Synkretismen zu kreieren. Es ist keine rückschrittliche „Zurück-in-die-Steinzeit“-Theorie und somit auch nicht gegenläufig zu zukunftsorientierten, vorandenkenden Theorien. Sie ist auch nicht nationalistisch, nicht chauvinistisch, weder lokal-noch regionalpatriotisch. Wir sind auch nicht gegen Europa oder Nordamerika oder die „Weißen“, wir sind gegen niemanden. Wir verstehen, dass im menschlichen Werdegang erst dieser traumatische Prozess von fünfhundert Jahren durchlaufen werden musste, um uns der Extreme bewusst zu werden, um dann mit Klugheit und bewusster Liebe wieder aufstehen zu können und wieder zu lernen, in Harmonie und Gleichgewicht zu leben. Das muss der hauptsächliche Antrieb des Menschen sein – egal aus welcher Zeit und an welchem Ort, im Antlitz der Mutter Erde oder Alma Mater.

Wir präsentieren das Buch im Bewusstsein, dass „das Subjekt Abya Yala3 ein kollektives, gemeinschaftliches Subjekt ist. Das Subjekt ist der anonyme und kollektive runa4 (ohne Autorenrechte), mit einem Jahrtausende alten Erbe des Lebens; der Denker, der Weise, der amawta5; wenn er spricht und überlegt und Fragen in den Raum stellt, ist er nichts anderes als das ,Sprachrohr‘ und ,der Geburtshelfer‘ dieser kollektiven Gemeinschaft“ (22). In diesem Sinne leistet jede/r Einzelne seinen Teil und übernimmt Mitverantwortung; und dieses Buch ist unser Beitrag, um die uralte Weisheit der Welt, insbesondere die der Andengegend, zu verstehen und uns gleichzeitig der holistischen, modernen Wissenschaft zu öffnen.

Einleitung

Da die Außenwelt uns immer ein Stück unbekannt bleiben wird, fühlen wir uns rastlos und wehrlos. Das bringt uns dazu zu sagen: „Ich werde die Welt verändern”, so wie man das heute zu hören pflegt. Ich habe nicht vor, sie zu ändern, sondern im Einklang mit ihr zu sein und das setzt ein Leben voraus, das wie ein Fluss verläuft. Ein Fluss eilt übermütig den Berg hinab, dann staut er sich und kommt schließlich an einen Punkt, wie gerade ich, wo er zu Ende geht. Ich wünsche mir, so wie ein Fluss zu sterben; ich schmecke schon das Salz. Man stelle sich das Schöne an einem solchen Tod vor. Der Fluss ist Süßwasser und erfährt, wie er sich verändert. Aber er akzeptiert es und stirbt glücklich, denn er merkt, dass er schon Meer ist. Das ist ein Trost. Ich brauche nicht die Hoffnung darauf, dass mich eine Menschengestalt aufnimmt.

José Luis Sampedro, spanischer Schriftsteller, im Alter von 94 Jahren

 

In der ganzen Menschheitsgeschichte treffen sich die verschiedenen Völker der Welt in einem Punkt, nämlich in ihrer polarisierenden Sicht auf das Leben: Hitze-Kälte, Mann-Frau, Tag-Nacht, Körper-Geist, berührbar-unberührbar, endlich-unendlich, überirdisch-irdisch, allgemein-spezifisch, ewig-vergänglich, Leben-Tod… Angesichts dessen gibt es zwei Grundpositionen: Entweder, diese Zweiheit als sich gegeneinander ausspielende Gegenteile zu betrachten, wobei eins sich über das andere erhebt. Das bedeutet, eine Ablehnung des Verschiedenen (das Eine ohne das Andere). Oder, den Gegensatz und die Verschiedenheit zu wertschätzen, ohne dahin zu kommen zu denken, dass sie sich gegenseitig aufheben würden. Vielmehr vervollkommnen sie sich und können in einer miteinander verbundenen Inklusion koexistieren (das Eine mit dem Anderen). Also nicht als ein voneinander abgewandter Gegensatz zwischen widersprüchlichen Elementen, sondern als ein sich ergänzendes Gefüge der Unterschiedlichkeiten. Soll heißen, es gibt zwei grundsätzliche Prinzipien bzw. Haltungen, um das Leben als Gesamtbild zu betrachten. Daraus folgen zwei Lebenseinstellungen oder Existenzformen: Der Kampf der Gegensätze (monotheistisch) oder die Harmonie der Gegensätze (harmonistisch). Diesen ausschließlichen und unausgeglichenen Widerspruch nennen wir „Zäsur”, um die Grenze deutlich zu machen zwischen dem reduktionistischen Paradigma der Zivilisation (contra natura) und dem alle Kulturen umspannenden Archetypen (physiozentristisch). Dies sind die zwei Arten, „Realität“ wahrzunehmen. Daher: Zwei Erkenntnistheorien, zwei Philosophien, zwei System-Welten…

Die Natur ist so beschaffen, dass sie sich fließend zwischen gegensätzlichen, unterschiedlichen, aber gleichwertigen Elementen bewegt. Sie könnte ohne diese Voraussetzung, die auf intelligentem Leben (Autopoiesis) beruht, weder funktionieren, noch sich vermehren oder überdauern. Die Menschheit hingegen, hat im Laufe ihrer Existenz auf diesem Planeten zwei verschiedene und sich gegenseitig ausschließende Systemwelten kreiert: Die eine, verwoben mit dem Kontinuum der Natur, war in der Menschheitsgeschichte nahezu immer lebendig (Physiozentrismus). Die andere, in gestörter und abgebrochener Beziehung mit dem natürlichen Leben, existiert gerade mal rund 5000 Jahre (Anthropozentrismus). In der Wirklichkeit der Natur und in der Natur der Wirklichkeit (d. h. des Lebens) ist jeglicher Widerspruch komplementär. Das „Nicht-komplementäre“ kommt nur in den Vorstellungen, Theorien, Philosophien und Gesellschaftssystemen vor, die durch den rationalistischen und reduktionistischen Menschen erschaffen werden. Da sie im Kopf entstehen bzw. eine Illusion sind, handelt es sich nicht um eine natürliche Vermehrung dieser auf menschlicher Ebene. In anderen Worten: Es gibt eine natürliche Gegensätzlichkeit, die im Einklang mit der Schöpfung ist und eine erdachte Gegensätzlichkeit, die dieser natürlichen Entfaltung widerspricht und sie verfremdet. Die Menschheitsgeschichte hat sich bisher in zwei Etappen abgespielt. Erstens, Völker respektieren diese dem Leben innewohnende Gegensätzlichkeit und sehen sich als Teil von ihr und zweitens, manche Völker entfernen sich von dieser ökosystemischen, uralten Vision.

 

—————————————-

Übersetzung aus dem Spanisch: Uta Hecker

Anmerkung der Übersetzerin: Aufgrund der Verwendung des generischen Maskulinums im Original wurden im Deutschen bei dieser Probeübersetzung noch keine genderinklusiven Formen verwendet. Da der Autor aber eine feministische Sichtweise vertritt, ist die Rücksprache zwischen Autor und Übersetzerin zwecks Verwendung genderinklusiver Formen in der Übersetzung vorgesehen.

Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, soleb; [2] Quetzal-Redaktion, gc

 

1 indigenes Amerika

2 gemeint ist das alte indigene System

3 Vorkolonialer Name für den Kontinent Amerika

4 Quechua: Mensch

5 Aymara: Weiser, Wegweisender

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert