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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Ein Septembertag auf einem Markt in der gewaltigen Megalopolis

Laura R. Carro-K. | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

In Mexiko-Stadt zu sein und nicht über seine tianguis, seine traditionellen ambulanten Märkte zu gehen, heißt die Stadt nicht kennenzulernen. Im September, dem Monat des Vaterlands (wegen der politischen Unabhängigkeit von Spanien) färben sich die Märkte und die ganze Stadt grün, weiß und rot: grün für die Hoffnung (trotz der Krise zu überleben), weiß für den Frieden (auf nationaler Ebene und auch in allen Ecken des Landes und besonders in den Konfliktgebieten wie Chiapas, Guerrero, Tlaxcala, …) und rot für das vergossene Blut (zuletzt sowohl in gewaltsamen Guerrilla Aktionen, die im Namen der sozialen Gerechtigkeit geführt werden, in blutigen Zusammmenstößen mit den Ordnungskräften).

Nun – wenn man die Stadt mit der Metro durchquert, wird man sich eines Phänomens bewußt, das sich in den letzten Jahren mit der Verschärfung der wirtschaftlichen Krise besonders verstärkt hat: Mit der wachsenden Arbeitslosigkeit werden die Massen auf die Straße gespült, um sich dort ihr Brot zu verdienen, wie Gott es befiehlt, d.h. im Schweiße ihres Angesichts, und da sind sie, verwandelt in ambulante Verkäufer alltäglicher Waren: Bleistifte, Kugelschreiber, Kalender, Kaugummi, Bonbons, Schokolade, usw. Wir sehen, wie sie sich mit Mühe durch die vollen Abteile kämpfen, um ihren potentiellen Markt in einer Minute abzudecken, genau die Zeit, die die Metro von einer Station zur nächsten braucht. Danach wechseln sie den Wagen, um den Zug förmlich zu durchkämmen, um somit ihre Bemühungen zu optimieren. Sie schaffen sich Platz zwischen den Fahrgästen jeden Alters, jeden Gewichts, jeder Statur und jeden sozialen Statusses, die gekleidet sind für Büro oder Schule, als Hausfrau oder Angestellte …, im allgemeinen gut gekämmt und zurechtgemacht für den Tag. Die fliegenden Händler beginnen ihren eintönigen Vers, manchmal kaum verständlich, weil er den ganzen Tag über wiederholt wird, ohne Pause.

Uns fällt auf, daß, im Gegensatz zu den Jahren vor dem berühmten Freihandelsvertrag zwischen Mexiko, den USA und Kanada, die Importwaren nicht nur den nationalen Markt überschwemmt haben, sondern daß sie den einheimischen Waren außerdem unlautere Konkurrenz auf der Grundlage schlechter Qualität und niedriger Preise machen. Der Konsument ist in seinen Kaufgewohnheiten vom überquellenden Angebot der Produkte „Made in USA“ überrumpelt worden, wobei er nicht weiß, daß nur wenige Bestandteile tatsächlich US-amerikanischer Herkunft sind, einerseits wegen der maquiladoras an der mexikanischen Grenze und andererseits wegen der Billigproduktketten in der Dritten Welt. Der Köder der prestigeträchtigen Herkunft erfüllt seinen Zweck, obwohl die Leute nach und nach den Betrug erkennen und zu ihren gewohnten einheimischen Waren zurückkehren.

Nach dem Umsteigen zusammen mit einer Unmenge von Fahrgästen auf einer der vielen Stationen, die Knotenpunkt sind für zwei oder mehr Metrolinien, durchlaufen wir lange Gänge, deren Wände mit indianischen Motiven, mit Kacheln, die vielfarbige griechische Máander bilden oder mit kleinen Werken moderner Künstler verziert sind. Auf der Station Pino Suarez stoßen wir auf eine kleine Pyramide, die wunderbarerweise bei den Ausschachtungen für den Bau der Metro davor gerettet wurde, ausradiert zu werden und somit ein kulturelles Erbe bezeugt, welches sich in dieser kleinen, eigenen Welt der unterirdischen Verbindungslinien verliert. Um nicht noch einmal die Metro benutzen zu müssen, machen wir uns auf den unterirdischen Weg zum Zócalo, ins historische Zentrum. Vorbei an kleinen Händlern, die Zeitungen, Fotoartikel, Lotterielose und ähnliches feilbieten, beginnen wir den langen Weg durch den Tunnel, der gelegentlich auch Heimstatt für die Messe des hauptstädtischen Buches ist.

Zwischen den Massen die Metro am Zocalo zu verlassen und auf dem Weg zum Templo Mayor beinahe mit den Händlern und Spendensammlern zusammenzustoßen, ist ein Abenteuer für sich: Man sieht kleine Scheren, Kämme, Spangen oder Nadeln; Verkäuferinnen in bescheidener Kleidung bieten traditionelle Süßigkeiten (palanquetas, pepitorias, alegrias), andere schreien „Kaufen Sie, Importwaren!“ und versuchen damit Käufer zu gewinnen. Der Schulanfang ist nicht weit, wie wir dem Angebot an Schulartikeln – neuerdings der Marke Scribe – an jeder Ecke entnehmen können. Ich erinnere mich, in meiner Kindheit noch viele Schulhefte mexikanischer Marken gekauft zu haben, als noch ein Markt mit freiem Wettbewerb unter kleinen einheimischen Papierfabriken exisitierte, bevor das transnationale Monopol sie schluckte oder vernichtete.

Gehen wir 201 den Märkten der Lagunilla, wo man alles haben kann: von einem Cocktailkleid oder einem Kleid für die 15. (in Mexiko besonders festlich begangene) Geburtstagsfeier bis zur Tracht einer jeden Region des Landes, handbestickt; von Schuhen und Kleidung der neuesten Mode bis zu Essen in unzähligen Restaurants. Auf dem Weg dorthin durchquert man den barrio Tepito bekannt durch die Filme von Urdimalas, in denen Pedro Infante die Hauptrolle spielte und die ein dummes Klischee über die Sprache der Hauptstadt hervorbrachten, die sich aber nur auf diesen barrio reduzierte. Der Markt von Tepito ,ist nicht mehr der Ort der fayuca, also der Schmuggelware, jetzt breitet er sich wie ein Krake über die Fußgängerzonen aus und bietet eine überraschende Mischung von Importwaren: Überraschend weil man – über solche vermeintlich nützlichen Haushaltsgeräte wie Haartrockner, elektrische Messer und Zahnbürsten hinaus -jetzt über Videorekorder ständig alle Arten von Videos, Nintendospielen, bis zu Pornofilmen gezeigt bekommt.

Diese unterschiedslose Vermischung der verschiedensten Artikel bemerkt man auch an den Ständen, auf denen sich über einem improvisierten Tisch kosmetische Produkte (Lockenwickler, Perrücken, Cremes, Parfüms u.s.w.) unbekannter Marken zusammen mit Waren ausbreiten, die in fortschrittlichen und liberalen Ländern wie Holland und Deutschland noch immer ausschließlich in Sexshops angeboten werden. Solche Waren stellt man dort wie Spielzeug ohne jegliche Zurückhaltung aus, und sind somit in Reichweite von Käufern jeden Alters! Es scheint so, daß der Freihandel in alle möglichen Richtungen des Wortes ausgelegt wird, und wir bemerken traurig und empört, daß Pornographie und Gewalt noch immer die Mechanismen des US-amerikanischen Neokolonialismus sind, mit denen er bei uns eindringt und ideologische Entfremdung hervorbringt. Die ausgepackten Pistolen (Spielzeug oder dazu da, Leute aufgrund ihres Aussehens zu erschrecken) auf dem Ladentisch zu sehen, ebenso wie alle möglichen Hilfsmittel für den intimen sexuellen Gebrauch, ist nicht nur ein Anschlag auf ahnungslose Kinder oder katholische Erwachsene; es ist eine Aufforderung, ein Verhalten nachzuahmen, das unserer Kultur fremd ist und welches sich negativ auf das Individuum auswirken kann, wenn man bedenkt, daß ein großer Teil der Großstadtbevölkerung ungebildet und christlich ist und immer mehr verarmt. Ganz zu schweigen vom Mangel an Hygiene, mit dem man diejenigen Dinge behandelt, die in Kontakt mit dem menschlichen Körper kommen sollen: Nahrungsmittel, Münzen, sexuelle Hilfsmittel. Für den Verkäufer ist alles dasselbe – nur eine Ware.

Was soll man über die nicht vorhandene öffentliche und staatliche Zensur sagen – mit Sicherheit sind es wirtschaftliche Motive, die sie verhindern, um das Handelsabkommen zu erfüllen und bestimmten Handelsbewegungen Raum zu geben und vielleicht auch daraus Vorteile zu ziehen. Sogar in den Zeitschriften der nationalen Fluggesellschaften präsentiert man vor unseren Augen Fotos und Beschreibungen jeder Art von Waffen, die sehr nützlich seien, um sich auf der Straße gegen potentielle Angreifer zu verteidigen, indem man sie lahmt und sie sogar für Minuten bewußtlos macht, um sie dann der Gnade … der Polizei (?!) zu überlassen. Sich die potentielle Gefahr der Waffen, die heutzutage für jedermann zur Verteidigung erhältlich sind, vorzustellen bedeutet, einen ungeheuren Anstieg der städtischen Gewalt nach amerikanischem Muster innerhalb kurzer Zeit vorauszusehen. Man erkennt die Unfähigkeit der Regierung, zu verhindern, daß diese Produkte aus den Mexikanern Gefangene machen und das offizielle Willkommen für den Gringo-Neokolonialismus auf allen Ebenen.

Wir entfernen uns zwischen geschrieenen Offerten und englischen Dialogen aus den Lautsprechern von diesem Durcheinander, kehren zurück zwischen unzähligen Pfaden, vollgestopft mit Ständen; wir gehen am Templo Mayor vorbei, oder besser an den Resten dessen, was bei der Ankunft der Spanier für das aztekische Reich der Haupttempel war. Wir beobachten eine Gruppe von Tänzern: Sie vollführen Schritte und Drehungen im Rhythmus des Teponaztle (einer indianischen Pauke) und der Chirimia (einer Rohrflöte); in den Gewändern der einstigen Bewohner Tenochtitlans beschwören sie die Vergangenheit, laden dazu ein, noch lebendige indianische Kulturen kennenzulernen und verkaufen Broschüren zu diesem Thema. Sie teilen sich den großen Platz mit wirklichen Indianern, die sich mit traurigen Blicken und leeren Mägen nicht wagen, um Geld zu bitten; ihre Stimme hört man nur, wenn sie sich für eine Spende bedanken.

Dann gibt es die, die mit sozialökonomischen Forderungen in die Hauptstadt kamen, und die sich nun die Beine in den Bauch stehen vor dem Palacio National, dem Regierungssitz, um auf eine Antwort des Präsidenten zu warten; andere bitten für ihre Sache mit einer Büchse um staatsbürgerliche Unterstützung, schlecht bekleidet und still. Andere, im Hungerstreik, scheinen doppelt – physisch und moralisch – ungehört, unrespektiert zu sein, um früher oder später durch die Kräfte der öffentlichen Ordnung vom „Platz des Volkes“ geworfen zu werden.

Wir bewundern die Ökotaxifahrer, selbstmörderische Radfahrer, die sich dem urbanen Verkehr und der extremen Umweltverschmutzung entgegenstellen, um zwei oder drei Passagiere auf dem Rücksitz zu befördern. Sie warten geduldig auf ihren Parkplätzen, während sich neben ihnen die Wellen von Händlern drängen, die Vorübergehenden dabei mitreißend.

Ein Moment der Spannung, ohne zu wissen, was vor sich geht; ein Polizeiwagen bremst plötzlich, und junge Männer in Zivil steigen hastig aus. Einige fliegende Händler raffen ihr Zeug vom Boden oder von den Knien, wo auch immer sie ihre Waren anbieten, und flüchten. Ein Wasserverkäufer, der mit Sicherheit wie die anderen Fliehenden keine von den Behörden ausgestellte und gestempelte Erlaubnis hat, läßt bei seiner Flucht sein mit Wasserkanistern beladenes Fahrrad stehen. Die jungen Polizisten laden in aller Eile die Waren, einschließlich des Fahrrads, auf, und einen Moment später ist die Aufregung vorüber, nichts erinnert mehr an die soeben stattgefundene Kontrolle der Händler. Die Polizisten haben in einer Einmündung gewendet und kontrollieren jetzt eine andere Straße.

Wieder in der Metro sehen wir ein paar Wachmänner in Zivil einen ambulanten Händler beschimpfen und ergreifen, und ihn dann zwingen, mit ihnen auszusteigen. Etwas später sind es Jungen und Mädchen, die den Wagen in Beschlag nehmen und in klagendem Ton Süßigkeiten an alle Mitfahrenden verteilen. Ihre Händchen bewegen sich schnell, während die Ausruferin Hilfe erbittet, um die marginalisierten Kinder zu integrieren, gefolgt von anderen, die die Süßigkeiten oder das dafür gegebene Geld einsammeln. Es sind Blicke, die nicht betteln, die mit der Festigkeit der frühreifen Erwachsenen hoffen, die herausfordern, auch um nicht mitleidig auszusehen, sondern um auf ein Recht zu bestehen, das jeder Mensch haben sollte: ein würdiges Leben.

Wir steigen an der Station Bellas Artes aus und der Lärm eines anderen tianguis läßt uns den Blick wenden. Seine Waren sind chicker und versnobbter: modische Kleidung aus Guatemala, Schmuck und Handwerkskunst aus Silber, Kupfer, Messing, Stroh oder Plastik; Korbwaren, Kunstgewerbe, Krüge aus Ton oder Keramik, regionale Speisen und Büromaterial. Es fehlen auch nicht die kleinen Boote aus Büchsenblech, die wie früher in einem Trog fahren, und auch nicht die importierten Neuheiten anderer Märkte, wie der Namenszug auf einem Reiskorn, auf der Rückseite ein arabisches Motiv. Das Licht des Tages verlöscht langsam und neue Händler kommen, um die anderen in ihrem kommerziellen Eifer zu überbieten. Wir folgen ihnen, nähern uns und erkennen die Septembertradition: die dreifarbigen Fähnchen und Wimpel, die rehiletes, große Hüte, die 16. September genannt werden mit der Aufschrift: !Es lebe Mexiko, ihr Arschlöcher!

Übersetzung: Anka Schmoll; Alexander Maas; Daniela Trujillo

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