Die Yarcca Ccaspi, das Säubern der Bewässerungskanäle, ist ein so alter peruanischer Brauch, dass sich heute keiner mehr erinnert, wo dessen Anfänge liegen. Als die Spanier das Land eroberten, feierten jedenfalls die Inkas schon über Jahrhunderte hinweg dieses Fest. Seitdem wird diese Tradition von Generation zu Generation weitergegeben – und dem jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Kontext angepasst.
In den altertümlichen Gesellschaften, die fast ausschließlich agrarisch geprägt waren, spielte der Zugang zu Wasser eine entscheidende Rolle. Auch in den peruanischen Anden wurden Bewässerungskanäle angelegt, die zum Teil Längen von 50 bis 60 Kilometern erreichten und sich weit verzweigten. Die herrschenden Klassen, hier speziell die Inka, wussten sehr gut um die strategische Bedeutung dieser Anlagen. Einmal im Jahr forderten sie daher die lokalen Bevölkerungsgruppen auf, die Kanäle zu säubern und gegebenenfalls zu reparieren. Im ayní, der klassischen Gemeinschaftsarbeit, verrichteten die Indígenas die Aufgaben.
Doch das Säubern der Bewässerungskanäle war nicht irgendeine kommunale Angelegenheit. Die Arbeit wurde mit Ritualen verknüpft: Sowohl die Götter des Himmels als auch die mächtigen apus, die Götter der Berge und Gletscher, mussten besänftigt, der Mutter Erde, der pacha mama, Opfergaben dargebracht werden. Die Yarcca Ccaspi entwickelte sich so zu einer der zentralen Zeremonien der indigenen Bevölkerung im Inka-Reich.
Mit dem Auftauchen der Spanier blieb die Tradition erhalten. Allerdings erfuhr sie – äußerlich – einige wichtige Modifikationen: Der Name des Festes wandelte sich zu „escarbo de acequia“, der spanischen Entsprechung zur Yarcca Ccaspi. Und auch die Katholische Kirche wollte so manches an dem Brauch ändern, konnte sie doch vor allem die heidnische Anbetung der Naturgötter nicht akzeptieren. Also setzte sie auf die höchsten Berge Kreuze, so dass die Verehrung der apus den Anschein haben konnte, als würde die Bevölkerung die christlichen Werte übernommen haben. Auf dem Weg hinauf zu den Quellregionen errichtete die Kirche kleine Kapellen, an denen der Zug der Arbeiter Andachten hielt. Nur das Opfer an die pacha mama blieb weiterhin unverändert bestehen.
In der Zeit der Republik scheint sich die Yarcca Ccaspi zunehmend zum Fest des Wassers gewandelt zu haben. Immer häufiger wurden die Arbeiten von Musikgruppen begleitet, die nicht mehr auf der Panflöte oder der qina (span: quena, traditionelle Kerbflöte) spielten, sondern mit Pauken und Trompeten das ganze Tal zum Klingen brachten. Mit laut explodierenden Dynamitböllern kündigte die Bevölkerung zudem das Fest für die gesamte Region an. Drei Tage feierten und arbeiteten die Menschen zusammen, wobei ein oder mehrere capitanos für die Ausrichtung des Festes zuständig waren. Das bedeutete, sie mussten für alle Gäste und Einwohner Speis und Trank zur Verfügung stellen, was bei etwa 300 Personen eine enorme materielle Belastung darstellte. Da jedoch Geld in den Gemeinschaften wegen deren Ausrichtung auf die Subsistenzversorgung keine Rolle spielte, wurde der Surplus oder das akkumulierte Kapital in Form von Vieh verfeiert. Die Gemeinschaften blieben infolgedessen relativ egalitär – und arm.
Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr das Wasserfest einen wichtigen internen Wandel. Denn der Zugang zum Markt brachte nun die Möglichkeit mit sich, minimale Austauschbeziehungen zu beginnen. Die traditionell dargereichte chicha, eine Art Bier aus vergorenem Mais, wurde ergänzt durch hochprozentigen Alkohol. Aus Kostengründen tranken die comuneros aber keinen gebrannten Schnaps, sondern 90-prozentiges Industrie-Ethanol, das sie mit Kräutern, Wasser und Zucker vermischten. Die Yarcca Ccaspi glich mehr und mehr einem Gelage. Zwar wurden die anderen Rituale beibehalten, doch vor allem am zweiten und dritten Tag des Wasserfestes blieb die Gemeinschaftsarbeit hinter dem Gemeinschaftsbesäufnis zurück. In der Tat lässt sich konstatieren, dass Alkoholismus neben Armut das größte Problem in den peruanischen Anden darstellt. Davon betroffen ist vor allem die männliche Bevölkerung. Allerdings stehen auch die (im Extremfall schwangeren oder stillenden) Frauen dieser nur unwesentlich nach.
Mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert scheint sich die Yarcca Ccaspi nun der Globalisierung anzupassen. Durch den hohen Grad der (ins Ausland, speziell in die USA) emigrierten lokalen Bevölkerung wird die capitanía, die Ausrichtung des Festes, zunehmend von den reichen Emigranten oder deren Nachkommen übernommen. Sie verabreichen nun neben der traditionellen chicha Red Label Whisky oder Marlboro-Zigaretten. Und alles läuft auf Geld-Basis. Das gemeinsame Säubern der Kanäle bleibt eine Pro-Forma-Angelegenheit. Die Gemeindeversammlung zur Besprechung wichtiger Themen tritt immer mehr hinter eine Biergartenatmosphäre zurück. Musik erschallt inzwischen auch aus einer riesigen Stereoanlage, die die Emigranten dem Dorf geschenkt haben. Der letzte Tag des Wasserfestes, an dem die meisten schon um 8 Uhr früh betrunken durch die Siedlung wanken, ist Zahltag. Jeder, der nur irgendeine minimale Aufgabe bei der Yarcca Ccaspi geleistet hat, sei es als “Kellner”, Fleischer, Köchin oder als Musiker, hält nun vor dem capitán die Hand auf. Die Yarcca Ccaspi, das altertümliche Wasserfest, verwässert immer mehr. Es ist wohl eine Frage der Zeit, bis diese Tradition ganz verschwindet.
Fotos: Quetzal-Redaktion, ssc