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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Testfall Nicaragua: Volksaufstand oder Regime Change?

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

Der 18. April 2018 und die nachfolgenden Ereignisse stellen eine tiefe Zäsur in der nachrevolutionären Entwicklung Nicaraguas dar. Seitdem ist nicht nur die Gesellschaft des zentralamerikanischen Landes gespalten, sondern auch die Linke. „Die Krise in Nicaragua erwischt die Linke im schlechtesten Moment“ – mit diesen Worten bringt Raúl Zibechi die Probleme auf den Punkt. Für die einen stellen die von großer Gewalt begleiteten Proteste einen Volksaufstand gegen ein diktatorisches Regime dar, für die anderen ist es der Versuch, eine linksorientierte Regierung mittels Regime Change zu Fall zu bringen. Der Verlauf der Ereignisse weist zudem in zahlreichen Punkten Ähnlichkeiten zu Syrien 2011 und zur Ukraine vom November 2013 bis Februar 2014 auf. Mit Blick auf Lateinamerika sind die Parallelen zu Venezuela unübersehbar. In allen diesen Fällen standen berechtigte soziale und politische Proteste am Beginn, die dann rasch eskalierten und im – teilweise erfolgreichem – Versuch des Regime Change mündeten. Im Falle Syrien führten die Auseinandersetzungen sogar zu einem bis heute andauernden Stellvertreterkrieg, an dem sowohl verfeindete Regionalmächte als auch konkurrierende Großmächte beteiligt sind. Eine weitere Gemeinsamkeit zeigt sich der medialen und diskursiven Schlacht um die „richtige Interpretation“ der Konflikte. Drittens verweisen die genannten Fälle auf ein grundsätzliches Problem, das besonders für linke Politik eine große Herausforderung darstellt: die Verschränkung emanzipatorischer Kämpfe mit geopolitischen Auseinandersetzungen. Nach dem ersten Überraschungsmoment und den damit verbundenen Unsicherheiten hat sich im Falle Nicaraguas das Bild inzwischen soweit geklärt, dass eine erste Positionsbestimmung möglich ist (siehe Literatur). Dabei stehen drei Problemfelder im Vordergrund:

– erstens der Charakter und die Grundlagen des politischen Systems;

– zweitens die Akteure der Auseinandersetzungen sowie deren mediale Darstellung;

– drittens die geopolitischen Implikationen der nicaraguanischen Krise.

 

Für oder gegen Daniel Ortega – eine vermeidbare Konfrontation?

Nachdem die sandinistische Volksrevolution im Juli 1979 die langjährige Familiendiktatur der Somozas gestürzt hatte, war Daniel Ortega von 1984 bis 1990 gewählter Präsident Nicaraguas. Nach der Wahlniederlage der Sandinisten dauerte es 16 Jahre, ehe er dieses Amt erneut ausüben konnte. Die Rückkehr an die Macht in Zeiten der neoliberalen Globalisierung hatte jedoch ihren Preis. Nachdem bei den Wahlen von 1996 und 2001 klar geworden war, dass das Wählerpotential der Sandinisten deutlich unter 50 Prozent lag, sah sich Ortega veranlasst, zum traditionellen Mittel des Elitepaktes zu greifen, zusätzlich abgesichert durch ein Bündnis mit dem hohen Klerus.

 

Tabelle 1: Anteil der FSLN bei den Präsidentschaftswahlen in Nicaragua (1984-2016)

1984

1990

1996

2001

2006

2011

2016

66,97

40,82

37,83

42,28

38,07

62,46

72,44

 

 

 

 

(Quelle: Eigene Zusammenstellung)

 

Auf dieser Basis war zwar die Regierungsübernahme möglich, nicht jedoch die Abkehr vom Neoliberalismus. Ortegas Strategie des Machterhalts bestand darin, dessen schlimmste Auswüchse zu beschneiden oder zu mindern, um auf diesem Wege seine Wählerbasis zu verbreitern. Dabei kamen ihm zwei wichtige Faktoren entgegen: das strukturelle Erbe der sandinistischen Agrarreform und die anti-imperialistische Außenpolitik Venezuelas. Nicaragua trat 2007 dem linken Integrationsbündnis ALBA und dem Energieverbund Petrocaribe bei. Unter Ortega holte das Land, das lange Zeit nach Haiti das zweitärmste der westlichen Hemisphäre gewesen war, wirtschaftlich rasch auf. Die Entwicklungshilfe aus Venezuela tat ein Übriges. Im Zeitraum von 2010 bis 2017 erreichte Nicaragua ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 5,2 Prozent. Beim Pro-Kopf-Einkommen liegt es inzwischen vor Honduras. Auf dieser Welle des ökonomischen Erfolgs stieg wie zu erwarten auch die politische Zustimmung, was durch die Ergebnisse der Urnengänge von 2011 und 2016 anschaulich belegt wird (Tabelle 1).

Nicaragua_Bildquelle_Sven_Hansen_CCLange Zeit galt Nicaragua in Zentralamerika trotz der immer noch niedrigen BIP-Werte als eine Insel der Stabilität und des Aufschwungs. Unter Daniel Ortega wurde die Armut reduziert. Bildungs-, Gesundheits- und Sozialprogramme trugen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen bei. Die Mordrate liegt deutlich unter den Werten im nördlichen Dreieck und gehört zu den niedrigsten in der Region. Die Handelsbeziehungen zu Venezuela wurden nach 2007 enger. Nicaragua exportierte in großem Umfang Lebensmittel und bekam dafür billiges Erdöl. Während mit Russland die militärische Zusammenarbeit intensiviert wurde, nutzt Nicaragua die ökonomischen Vorteile, die die Kooperation mit der Volksrepublik China bietet, ohne deshalb die diplomatischen Beziehungen mit Taiwan abzubrechen. Der lang gehegte Traum eines eigenen inter-ozeanischen Kanals scheint sich nun dank chinesischer Investoren endlich zu erfüllen.

Diese positive Bilanz steht jedoch auf einem brüchigen Fundament, das zwei strukturell bedingte Schwachpunkte aufweist (vgl. Baumeister/ Martí i Puig 2018). Dies betrifft erstens die traditionelle politische Kultur Nicaraguas, die – wie in anderen Ländern der Region auch – durch Caudillismo, informelle Pakte innerhalb der Elite, Korruption und Klientelismus geprägt ist. Wenn man diese Eigenschaften – zu recht – auch Daniel Ortega anlastet, dann sollte man zweierlei im Auge behalten. Zum einen handelt es sich um ein historisches Erbe, das tief in der Gesellschaft verwurzelt ist und das das Land wahrscheinlich noch in den nächsten Generationen belasten wird. Zum anderen ist Daniel Ortega der Vorwurf zu machen, dass er den Weg des geringsten Widerstandes gegangen ist. Statt die genannten Übel zu bekämpfen, nutzt er sie, im seine Macht zu zementieren. Indem er dann auch noch seine Politik unter Berufung auf Sandino und die Revolution zu legitimieren versucht, beschädigt er sowohl das kollektive historische Erbe des Sandinismus als auch sein eigenes Image als nicaraguanischer Revolutionär in nicht wieder gut zu machender Weise.

Der zweite Schwachpunkt des Projektes von Daniel Ortega liegt darin, dass er nicht ernsthaft mit der Logik des Neoliberalismus zu brechen versucht. Auch hier gilt es, zwei Seiten zu beachten. Zum einen sind seine Spielräume doppelt begrenzt: durch die Vormachtstellung der USA und durch die abhängige und periphere Stellung Nicaraguas innerhalb des globalisierten Kapitalismus. Zum anderen ist Daniel Ortega – wie anderen linken Politikern in Lateinamerika auch – vorzuwerfen, dass er kaum etwas gegen die besonders zerstörerischen Praktiken des Neoliberalismus in seinem Land unternimmt. Linke Politik – das haben ebenfalls die lateinamerikanischen Erfahrungen gelehrt – ist nicht mit Hilfe des Extraktivismus, sondern nur gegen ihn umsetzbar und glaubwürdig. Alles andere führt in die Sackgasse und schlägt schwer auf die Linke zurück. Das Moratorium und später das Verbot des Bergbaus in El Salvador ist ein Beispiel dafür, dass linke Regierungen erfolgreich gegen den Extraktivismus vorgehen können – wenn sie denn nur wollen. Natürlich bedarf es dazu einer intelligenten Wirtschaftspolitik, die Alternativen fördert, sowie potenter Bündnispartner.

Stattdessen hat Daniel Ortega ein Dilemma befördert, in dem Nicaragua „zwischen substanzarmem Sandinismus und Regime Change“ zerrieben wird (siehe Beitrag von Frederico Füllgraf). Der Kern des Problems besteht nach Meinung des honduranische Sozialforschers Tomás Andino Mencia darin, dass nunmehr Widersprüche aufbrechen, die sich über Jahre während der „Inkubation eines gewissen nicaraguanischen Kapitalismus“ angesammelt haben. Aus dieser zutreffenden Perspektive ist es tatsächlich fraglich, ob man Daniel Ortega immer noch als Identifikationsfigur einer linken Politik bezeichnen kann.

 

Der Konflikt und sein mediales Echo

Beim Ausbruch der Proteste und ihrer Eskalation, die 269 Menschenleben forderte, kamen mehrere Faktoren zusammen. Anlass war eine Rentenreform, die von der Regierung am 16. April 2018 verkündet worden war. Vorgesehen war eine geringfügige Steigerung der Rentenbeiträge von 6,25 auf 7,0 Prozent für die Versicherten. Die Beiträge, die die Unternehmer zu zahlen hatten, sollten von 19 Prozent auf 22,5 Prozent angehoben werden. Ziel der Maßnahmen war es, die angehäuften Defizite des Nicaraguanischen Instituts für soziale Sicherheit (INSS) auszugleichen. Nachdem der Unternehmerverband die Verhandlungen über die Reform aufgekündigt hatte, begannen am 18. April Proteste, die vor allem von Studenten getragen wurden. Bereit am nächsten Tag gab es die ersten Toten. Die daraufhin einsetzende Welle der Gewalt hatten in erster Linie die staatlichen Sicherheitskräfte zu verantworten. Da der Staat Träger des Gewaltmonopols ist, trägt er bei solchen Ereignissen zunächst auch die Hauptverantwortung. Es kommt hinzu, dass drei der Comandantes (Humberto Ortega, Bayardo Arce und Jaime Wheelock), die zusammen mit Daniel Ortega und fünf weiteren Sandinisten während der Revolution die kollektive Führung der FSLN gebildet hatten, sich gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei ausgesprochen haben (vgl. Schindler, Nicaragua und die Linke …, S. 13/14).

Während es zu Beginn noch um legitime Forderungen nach mehr Demokratie und Bekämpfung der wuchernden Korruption ging, wird inzwischen der Rücktritt der Regierung verlangt. Um diese Entwicklung verstehen zu können, ist es zunächst erforderlich, zwischen den heterogenen Kräften des Oppositionslagers zu unterscheiden. Neben den Studenten nehmen auch enttäuschte Sandinisten und lokale Widerstände, die sich im Kampf gegen Extraktivismus (Bergbau) und Megaprojekte (Kanalbau) organisiert haben, an den Protesten teil. Zugleich haben sich der Unternehmerverband und inzwischen auch der hohe Klerus, die bislang an der Seite Ortegas standen, ins Lager der Opposition geschlagen.

In den Medien dominierte anfangs fast uneingeschränkt das Narrativ des „Volksaufstandes gegen die Diktatur“ (vgl. dazu auch das Interview mit Mónica Baltodano). Inzwischen muss diese Darstellung in drei wichtigen Punkten revidiert werden: erstens was das Ausmaß und die Akteure der Gewalt betrifft, zweitens die Selbstdarstellung der Opposition sowie drittens die Interessen und die Rolle externer Akteure. Zum ersten Punkt: Die Eskalation der Gewalt wurde ab einem relativ frühen Zeitpunkt maßgeblich von der Opposition vorangetrieben, weshalb die Zuweisung der alleinigen Schuld an die Regierung an der Realität vorbeigeht. So war das erste Todesopfer ein Polizist und bei der Zahl der während der Unruhen Ermordeten ist zu bedenken, dass sie sich zu etwa gleichen Teilen auf beide Seiten – Regierungsanhänger und -gegner – verteilt (Dieter Drüssel in: Correos …, S. 4 und 5).

Bedenklich stimmt, dass die Opposition an ihrer einseitigen Darstellung festhält, obwohl es zahlreiche Videoaufzeichnungen, Zeugenaussagen, Opferberichte etc. gibt, die grausame Gewaltakte gegen Sandinisten, Polizisten und selbst Fernfahrer belegen (vgl. Correos, S. 10-11). Zweitens ist das Argument falsch, dass es sich um einen Aufstand „des“ Volkes gegen „die“ Diktatur handelt. Dieses von der Opposition verbreitete und medial beliebte Bild ist aus drei Gründen unzutreffend. Zum einen unterstützt ein großer Teil der Nicaraguaner nach wie vor die Regierung, wie unter anderem die Manifestationen zum Jahrestag der Revolution, an denen etwa eine halbe Millionen Menschen teilgenommen haben, zeigt. Zum anderen gehören dem Protestlager auch die Amtskirche, der Unternehmerverband COSEP und oligarchische Familienclans an (vgl. Zeese/ McCun). Pikanterweise handelt es sich dabei exakt um jene Kreise, die bislang auf der Seite von Daniel Ortega standen und von dessen Politik jahrelang profitiert haben. Wenn linke Kräfte innerhalb der Opposition darauf angesprochen werden, verteidigen sie sich mit dem Argument, dass sie „sich aus taktischen Gründen mit dem Bürgertum verbünden“ (vgl. Interview mit Mónica Baltodano). Damit tun sie aber genau das, was sie vorher Ortega vorgeworfen hatten. Wenn man die Ukraine und Syrien in die Überlegungen einbezieht, dann besteht die große Gefahr, dass auch die Protestbewegung in Nicaragua von Kräften „gekapert“ wird, die ganz anderes im Sinne haben, als den Protestierenden vorschwebt. Desweiteren spricht vieles dafür, dass Gewaltakteure wie Drogenhändler und Plünderer oder externe Kräfte die Situation nutzen, um ihr eigenes Süppchen zu kochen (Correos …, S. 14-15).

 

Gegen Ortega …. mit den USA?

Bei der Suche nach einer Erklärung für den Seitenwechsel des Unternehmerlagers vom Pakt mit Ortega zur Opposition kommt man nicht an den USA vorbei. Im September 2016 hatten Ileana Ros Lehtinen (Republikanerin) und Albio Sires (Demokrat) einen Gesetzesentwurf eingebracht, der am 3. Oktober 2017 vom Repräsentantenhaus als Nicaraguan Investment Conditionality Act (kurz: NICA Act) verabschiedet wurde. Auf dessen Grundlage können die USA durch ihr Veto verhindern, dass Nicaragua neue multilaterale Kredite bekommt (vgl. dazu im Internet unter: https://www.congress.gov/bill/115th-congress/house-bill/1918; Abruf vom 5.9.2018). Derartige Maßnahmen hätten schwerwiegende Folgen für die nicaraguanische Wirtschaft. Weltbank und Inter-Amerikanische Entwicklungsbank (BID) haben in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt immerhin ein Viertel der öffentlichen Investitionen finanziert (vgl. www.laprensa.com.ni/2016/09/25/economia/2105883-funides-advierte-nica-act-danaria-inversiones; Abruf vom 5. Sep. 2018).

Diese Aussichten sowie die Absicht der Regierung, die Unternehmer bei der Finanzierung der Renten stärker zur Kassen zu bitten, gaben wohl den Ausschlag für den Seitenwechsel. Diejenigen, die bisher vom Neoliberalismus profitiert haben, der auch unter der Regierung von Daniel Ortega die Spielregeln vorgibt, setzen nun lieber auf ein anderes Pferd, von dem sie hoffen, dass es auch in Nicaragua das Rennen macht – den von der Opposition geforderten und von Washington beförderten Regime Change. Zu einem solchen Szenario passt es, dass eine Delegation der protestierenden Studenten im Juni die US-Hauptstadt besucht und sich dort mit extrem rechten Vertretern der Republikanischen Partei – der Abgeordneten Ileana Ros Lehtinen und den Senatoren Marco Rubio und Ted Cruz – getroffen hat (vgl. https://amerika21.de/blog/2018/07/206003/us-regierung-nicaragua-aufstand; Abruf vom 5.9.2018).

Nicaragua2_Bildquelle_steedm_CCBei aller Kritik an Ortega: Was hat die Opposition zu bieten? Außer der Forderung „Ortega muss weg!“ eint sie nichts. Es steht zu befürchten, dass die Oligarchie und ihre Vertrauensleute die Führung über die Protestbewegung übernehmen und sie im Sinne ihrer Interessen kanalisieren werden. Der Regimewechsel wäre dann der Auftakt für eine Wirtschaftspolitik ohne Armutsbekämpfung, Sozialprogramme und Gegenkräfte. Jede Rücksicht auf die Marginalisierten und die Natur würde fallen gelassen. Repression gegen sandinistischen und anderen Widerstand wäre mehr als wahrscheinlich, wie die Entwicklung im Nachbarland Honduras seit dem Putsch von 2009 zeigt.

Nach dem Abflauen der Proteste scheint sich die Lage etwas stabilisiert zu haben, so dass ein Regimewechsel vorerst weniger wahrscheinlich ist. Die Proteste werden lediglich von einem Teil der Bevölkerung getragen, der andere fürchtet Chaos und Instabilität oder/ und unterstützt die Regierung. Dieser Teil der Nicaraguaner ist sich dessen bewusst, was für die „kleinen Leute“ auf dem Spiel steht, wenn es zum Regimewechsel kommt. In diesem Fall wäre auch ein Bürgerkrieg nicht mehr auszuschließen. Wie der wirtschaftliche Einbruch und die zerstörte Infrastruktur zeigen, geht die Konfrontation bereits jetzt zu Lasten der einfachen Nicaraguaner, die dadurch nichts zu gewinnen und viel – auch ihr Leben – zu verlieren haben.

Außerdem muss Nicaragua unbedingt im lateinamerikanischen Kontext diskutiert werden. Nach dem Tod von Hugo Chávez findet in Südamerika ein Rollback der Linkswende statt. Inzwischen werden Argentinien, Brasilien und Chile von rechten Präsidenten regiert, Ecuador vollzieht unter dem Nachfolger von Rafael Correa gerade einen Rechtsschwenk und Venezuela steckt in einer tiefen Krise. Honduras 2009 und Brasilien 2016 haben gezeigt, dass an die Stelle offener Militärputsche eine andere Variante des Regiemewechsels getreten ist, die man als eine Verschwörung der staatlichen Institutionen gegen linke oder progressive Präsidenten bezeichnen kann. In beiden Fällen haben die traditionell herrschenden Eliten (Oligarchie) die Gewaltenteilung aufgehoben, um die gebündelte Macht der Institutionen zur Entmachtung missliebiger linker Regierungen einzusetzen.

In Mittelamerika gestaltet sich die Situation für die USA und ihre rechten Verbündeten etwas komplizierter. In Mexiko hat der Linkspolitiker Andrés Manuel López Obrador (AMLO) im Juli 2018 die Präsidentschaftswahlen gewonnen und wird im Dezember das höchste Staatsamt übernehmen. In Zentralamerika bereiten zwei kleine Länder, die von ehemaligen „marxistischen Guerilleros“ regiert werden, dem Weißen Haus Kopfzerbrechen, während Honduras nicht zur Ruhe kommt. Ortega ist Washington vor allem aus geopolitischen Gründen ein Dorn im Auge. Im Falle eines Regimewechsels in Nicaragua und der damit verbundenen Risiken bestünde die ernste Gefahr, dass Nicaragua ins Chaos abrutschen könnte. Das würde die Instabilität in der gesamten Region immens steigern und daran scheint selbst Donald Trump derzeit kein Interesse zu haben (Trucchi, Nicaragua steht vor der Gefahr …). In dieser Konstellation zeigt sich die ganze „Ironie“ des zentralamerikanischen Dilemmas der USA: Ortega soll – wie Maduro in Venezuela – eigentlich weg, was aber mit so großen Risiken behaftet ist, dass Washington bislang vor der letzten Konsequenz zurückschreckt.

Sollten sich die Umstände aus der Sicht Trumps jedoch günstig gestalten, kann es aber immer noch zum Eklat des Regimewechsels kommen. In dieser Situation sollte zweierlei Maßstab für linke Politik sein: Trotz aller Kritik an Daniel Ortega sollte die Verhinderung eines Regime Change à la USA die oberste Priorität haben. Auch wenn das häufig beschworene Bild von einer „imperialistischen Verschwörung“ so nicht zutrifft, besteht dennoch die große Gefahr, dass rechte Kräfte in und außerhalb Nicaraguas die Gelegenheit nunmehr als günstig erachten, einen Regime Change herbeizuführen. Alle Linken müssen sich fragen lassen, ob sie mit ihrem Vorgehen zu einem solchen worst case beitragen oder nicht. Der zweite Ansatzpunkt muss darin bestehen, die Defizite der bisherigen Politik Ortegas als entscheidende Ursache der Konfrontation anzuerkennen und auf ihre Überwindung hinzuarbeiten. Dies ist angesichts der gegenwärtigen Polarisierung extrem schwierig, sollte aber dennoch Ziel sein. Nur auf diesem Weise lassen sich die Spielräume austesten und ggf. erweitern, die die gegenwärtige globale Umbruchsituation für linke Politik bietet. In dieser Hinsicht ist Nicaragua ein Testfall, dessen Bedeutung weit über seine Grenzen hinaus reicht.

 

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Literatur:

Baltodano, Mónica: „Das kann zum Bürgerkrieg führen“ (Interview), in: Neues Deutschland vom 18. Oktober 2018, S. 7.

Baumeister, Eduardo/ Martí i Puig, Salvador: Nicaragua: De la revolución estatista a la profundización agroexportadora, in: Kay, Cristóbal/ Vergara-Camus, Leandro (Hrsg.): La cuestión agraria y los gobiernos de izquierda en América Latina. CLACSO, Buenos Aires 2018, S. 287-314.

Füllgraf, Frederico: Nicaragua – Zwischen substanzarmem Sandinismus und Regime Change. Bericht vom 10.5.2018 (Abruf vom 5.9.2018 unter: https://www.nachdenkseiten.de/?p=43875&pdf=43875)

Gabriel, Leo: Nicaragua nach – und vor? – der Schlacht, in Lateinamerika anders, 2/ 2018, S. 23. Reinke, Heinz: Wieso Nicaragua in Flammen steht, in: Nicaragua Aktuell, Juli 2018, S. 4-12.

Schindler, Matthias: Nicaragua und die Linke: Unterdrückung, Kritik, Sozialismus und Demokratie. Artikel vom 24. Juli 2018 unter:

Tinoco González, Ximena/ Tinoco González, Daniella: Seguridad alimentaria y nutricional en Centroamérica. Quinto Informe Estado de la Región. San José 2015.

Trucchi, Giorgio: ,,Nicaragua steht vor der Gefahr einer Verschärfung der Gewalt“, Interview mit re:volt-Redakteur Jan Schwab vom 8. Juli 2018 (Abruf vom 29.8.2018 unter: https://revoltmag.org/articles/nicaragua-steht-vor-der-gefahr-einer-versch%C3%A4rfung-der-gewalt/).

Zeese, Kevin/ McCun, Nils: Korrektur der „offiziellen“ Daten: Was geschieht gerade wirklich in Nicaragua?, Linke Zeitung vom 3. September 2018 (unter: https://linkezeitung.de/2018/09/03/korrektur-der-offiziellen-daten-was-geschieht-gerade-wirklich-in-nicaragua/).

Zentralamerika-Sekretariat (Hrsg.): Schwerpunkt Nicaragua, in: Correos de las Americas, Nr. 191, 22. August 2018, S. 1-16.

Zibechi, Raul: La izquierda después de Nicaragua. Gara, 5. August 2018 (Abruf vom 28.8.2018 unter: www.pensamientocritico.org/wp-content/…/Zibechi-ag-2018/pdf (dt. Übersetzung in: Neues Deutschland, Wochendendbeilage vom 25./26. August 2018, S. 21).

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