Vor 30 Jahren, am 19. Juli 1979, marschierten die siegreichen Sandinisten in Managua ein und wurden von der hauptstädtischen Bevölkerung stürmisch gefeiert. Dieser Tag markierte das endgültige Ende der Bereicherungsdiktatur des Somoza-Clans, der Nicaragua mehr als 40 Jahre beherrscht und ausgeplündert hatte. Der Sturz der Diktatur war der vorläufige Höhepunkt eines jahrzehntelangen Kampfes, in dem Sandino zuerst Protagonist, dann – nach seiner Ermordung durch Anastasio Somoza am 21. Februar 1934 – bleibendes Symbol war. Die Gründung der nach ihm benannten Nationalen Befreiungsfront (FSLN) im Jahr 1961 eröffnete eine neue Etappe des Widerstandes, die schließlich in der bewaffneten Volkserhebung und der endgültigen Vertreibung der Familie Somoza gipfelte.
Für elf Jahre, bis zu ihrer Abwahl im Februar 1990, übernahmen die Sandinisten die Macht mit dem hohen Anspruch, die ungerechten Strukturen, unter denen das nicaraguanische Volk trotz des Endes der spanischen Kolonialherrschaft (1821) zu leiden hatte, aufzubrechen und zu überwinden. Besonders in den Anfangsjahren der Revolution erfuhren die Sandinisten im In- und Ausland breite Unterstützung und Solidarität. Aber bereits 1981 begannen die USA unter ihrem neugewählten Präsidenten Ronald Reagan einen unerklärten, aber nichtsdestotrotz erbarmungslosen und blutigen Krieg gegen die Sandinisten. Unter der Last des Krieges militarisierte sich die noch junge Revolution zunehmend und fand immer weniger Kraft, ihr radikales Reformprogramm umzusetzen. Obwohl sich die Sandinisten selbst als Linke verstanden und in ihren politischen Zielen an der kubanischen Revolution orientierten, war der von ihnen geführte Transformationsprozess keineswegs ein sozialistischer. Ungeachtet der Nationalisierung des Eigentums der Somozas und ihrer Anhänger sowie der Durchführung einer umfassenden Agrarreform blieb die nicaraguanische Wirtschaft eine gemischte: Neben dem Staatseigentum, das zu keinem Zeitpunkt dominierte, existierten genossenschaftliches und Privateigentum. Die Erarbeitung und Verabschiedung der neuen Verfassung fand auf breiter, demokratischer Grundlage statt. Demokratisch waren nicht nur die Wahlen von 1984 und 1990, auch neue Formen der Partizipation und der hohe Stellenwert der neu entstandenen sozialen Bewegungen belegen trotz anderslautender Behauptungen Washingtons den demokratischen Charakter der Revolution. Anders ist sonst auch nicht zu erklären, dass die Sandinisten ihre für alle überraschende Wahlniederlage im Februar 1990 akzeptierten und die Macht friedlich an ihre ideologisch-politischen Gegner abtraten.
Was bleibt?
Während das demokratische Erbe der sandinistischen Revolution unter ihren damaligen Protagonisten und Anhängern weitgehend unbestritten und als ein bleibendes anerkannt ist, gehen die Meinungen darüber, was sonst noch von der Revolution geblieben und wie die erneute Wahl Daniel Ortegas zum Präsidenten zu bewerten ist, weit auseinander.
Sieht man sich die ökonomische und soziale Lage der Nicaraguaner an, so ist man zunächst geneigt, Sergio Ramírez, Vizepräsident von 1984 bis 1990 und wohl prominentester Kritiker Daniel Ortegas, zuzustimmen. In einem Interview, das die Deutsche Welle am 16. Juni 2009 mit ihm führte, antwortete er auf die Frage, was er in Hinblick auf den 30. Jahrestag der sandinistischen Revolution empfinde, mit folgenden Worten: „Frustration. Das Land sollte an einem ganz anderen Punkt sein. Es sollte starke demokratische Institutionen haben. Doch der Stein rollt wieder auf den Abgrund zu. Man müsste ihn wieder auf den Berg hochschieben.“
Die Fakten scheinen ihm recht zu geben: 30 Jahre nach der Revolution ist Nicaragua (nach Haiti) das ärmste Land Lateinamerikas, hochverschuldet und von ausländischer Hilfe mehr denn je abhängig; traditionelle Gebrechen wie Caudillismus, Klientelismus, Korruption und Amtsmissbrauch treiben immer neue Blüten; mehr als eine Million Nicaraguaner versuchen ihr Glück in den USA oder in Costa Rica und die nicaraguanischen Lehrer sind die am schlechtesten bezahlten in ganz Zentralamerika. Ist die Revolution damit zur Farce verkommen, wie Ralf Leonhard, einer der besten Kenner Nicaraguas, in einem Beitrag im „Neuen Deutschland“ argumentiert (Neues Deutschland, 17. Juli 2009, S. 14).
Ihm dienen – wie vielen anderen Kritikern, die früher die Sandinisten solidarisch unterstützt und verteidigt hatten – nicht allein die bereits konstatierten Fakten als Begründung. Vielmehr verweist er auf die Politik und Person Daniel Ortegas, der sich in den letzten 20 Jahren unter ständiger Beschwörung Sandinos und der sandinistischen Revolution vom Revolutionsführer zum prinzipienlosen und machtbesessenen Caudillo gewandelt habe.
Auch hier scheinen die Fakten eine eindeutige Sprache zu sprechen: Der Sündenfall des nachrevolutionären Sandinismus begann 1990 mit der „piñata“, einer unmittelbar nach der Wahlniederlage beschlossenen und von der neuen Regierung anerkannten Übertragung von zahlreichen Eigentumsrechten an sandinistische Funktionäre. Im Rückblick war diese Aneignung von Häusern, Landbesitz, Unternehmen und Guthaben eine Art „ursprüngliche Akkumulation“, die zur Etablierung einer neuen „revolutionären“ Unternehmergruppe führte. Dies fand 1998 seine Fortsetzung in einem Pakt, den Ortega mit seinem ehemaligen Erzfeind Arnoldo Alemán schloß. Alemán war als Chef der PLC (Partido Liberal Constitucionalista) nicht nur bekennender Anhänger Somozas, sondern auch rechtskräftig wegen Korruption verurteilt. Im Tausch gegen politische und juristische Zugeständnisse sicherte er Ortega einen solchen Machtzuwachs, dass es diesem Ende 2006 schließlich möglich war, mit Hilfe eines maßgeschneiderten Wahlgesetzes endlich wieder ins Präsidentenamt zurückzukehren. Die Krönung politischer Prinzipienlosigkeit Ortegas stellte die Zustimmung der sandinistischen Parlamentsfraktion zur Verschärfung des von der katholischen Kirchenführung gewünschten Abtreibungsverbots im unmittelbaren Vorfeld der Wahlen dar. In Zusammenhang mit den Kommunalwahlen vom November 2008 wird gegen Ortega auch der Vorwurf der Wahlfälschung erhoben. Institutionalisierung der Korruption, Fehlen von innerparteilicher Demokratie und Ein-Personen-Herrschaft komplettieren die Liste der Anschuldigungen.
Phase Zwei der Revolution?
Was seine Gegner als „institutionelle Diktatur“, „Regierung mit diktatorischen Tendenzen“ oder „autoritären Populismus“ (envio Nr. 238, Juli 2009) bezeichnen, ist für den so Beschuldigten hingegen „Phase Zwei“ der Revolution. Immerhin können Ortega und seine Anhänger auf zahlreiche Verbesserungen der sozialen Situation seit 2007 verweisen: die beiden Sozialprogramme „Null Hunger“ und „Null Wucher“, die Wiedereinführung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, kostenloser Schulbesuch und Schulspeisung – alles Maßnahmen, die der Bekämpfung der enorm gewachsenen Armut dienen. Möglich ist dies vor allem dank der venezolanischen Erdöl-Millionen (nach envio Nr. 238, Juli 2009 handelt es sich um 457 Millionen US-Dollar), auf die Ortega dank der ALBA-Mitgliedschaft seines Landes zurückgreifen kann. Da dies aber an den staatlichen Institutionen vorbei und intransparent abläuft, stellen sich viele die Frage, was davon in den dunklen Kanälen der Korruption versickert.
Die ihm vorgeworfenen demokratischen Defizite kontert Ortega mit dem griffigen Argument: „Zuerst soziale Gerechtigkeit, dann Demokratie“. Dem hält sein ehemaliger Kampfgefährte Sergio Ramírez wiederum entgegen: „Soziale Gerechtigkeit ist mir wichtig, aber sie darf nicht wichtiger werden als die Demokratie.“ Wenn soziale Gerechtigkeit und Demokratie aber wie die beiden Flügel eines Vogels nur zusammen das Fliegen ermöglichen – was auch Ramírez meint, dann stellt dies spezifische Anforderungen an Demokratie. Diese hat nur dann Bestand und Möglichkeiten zu ihrer Vertiefung, wenn sie soziale Gerechtigkeit durchsetzen und befördern hilft. Geht man von der Revolution 1979 aus, dann kann man in den folgenden 30 Jahren verschiedene Konstellationen ausmachen, denen bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam ist, dass es zum Fliegen nicht bzw. nicht dauerhaft gereicht hat:
1. Die sandinistische Revolution 1979-1990
Wohl hatte die Revolution den Anspruch, soziale Gerechtigkeit durch Eigentumsveränderungen zu bewirken, und suchte auch ihren spezifischen Weg zur Demokratisierung der nicaraguanischen Gesellschaft, fand aber nicht die Kraft, beides dauerhaft miteinander zu verbinden. Kurzfristig und in der unmittelbaren Wirkung ausschlaggebend hat der von außen aufgezwungene Krieg dies verhindert. Hinzu kommen zweifellos subjektive Fehler, die zur Verbreiterung der sozialen Basis der Konterrevolution geführt haben. Langfristig wäre die dauerhafte Zusammenführung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit nur möglich gewesen, wenn Nicaragua einen Weg zu nachhaltiger Entwicklung gefunden hätte. Nachhaltige Entwicklung müsste dabei folgende Bedingungen erfüllen bzw. schaffen: Unter Nutzung eigener und arbeitsteilig bedingter äußerer Ressourcen eine Wirtschaft entwickeln, die auf der Grundlage entsprechender Produktivität in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen, ohne dass die Zukunftsfähigkeit dieses Entwicklungspfades substantiell beeinträchtigt wird. Unter den damaligen Bedingungen hätte dies zweierlei erfordert: zum einen die Loslösung vom traditionellen Entwicklungsmodell sowohl realsozialistische wie auch realkapitalistischer Prägung und zum anderen eine entsprechende regionale Einbindung. Beides wäre damals wohl (noch) nicht realisierbar gewesen.
2. Die neoliberale Gegenrevolution 1990-2007
Mit der Abwahl der Sandinisten, die in erster Linie der zunehmenden Kriegsmüdigkeit der nicaraguanischen Bevölkerung geschuldet war, entstand eine grundsätzlich neue Situation. Da jene Kräfte, die der Revolution grundsätzlich feindlich gesinnt waren, auf demokratischem Weg an die Macht gekommen waren, standen nun die Errungenschaften der Revolution (Agrarreform, Genossenschaften, Formen partizipativer Demokratie, starke soziale Bewegungen) zur Disposition. Die Sandinisten waren zunächst nicht in der Lage, später dann auch nicht mehr Willens, diesem Rollback den erforderlichen Widerstand entgegenzusetzen. Die gegenrevolutionäre Wende war zudem in den Gesamtzusammenhang der Durchsetzung des Neoliberalismus (Washington Consensus) eingebunden. Summa summarum hatte diese Situation für das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie folgende Konsequenzen: Zum einen fiel die Orientierung auf soziale Gerechtigkeit der neoliberalen Gegenreform zum Opfer und ihre (potentiellen) Protagonisten (soziale Bewegungen) wurden nachhaltig geschwächt oder gar zerstört. Zum anderen blieb Demokratie auf die Ebene der Wahlen beschränkt und muss in ihrer Qualität als „defekte Demokratie“ charakterisiert werden. Die Negativwirkungen beider Entwicklungen verstärkten sich dabei gegenseitig.
3. Die Pattsituation seit 2007
Der Wahlsieg Ortegas Ende 2006 war in erster Linie auf drei Faktoren zurückzuführen: erstens der politische Verschleiß der neoliberalen Kräfte, zweitens der Pakt zwischen Ortega und Alemán sowie drittens die Diskreditierung bzw. die Verhinderung einer dritten Kraft (im Ergebnis dieses Paktes). Dies verweist zugleich auf die entscheidenden politischen Schwächen der Regierung Ortega. In den fast zwanzig Jahren ungezügelten Neoliberalismus hatten sich in Nicaragua Strukturen und Kräfteverhältnisse herausgebildet, die nur aufzubrechen gewesen wären, wenn es ein Zusammenwirken von starken sozialen Bewegungen und einer starken politischen Kraft mit anti-neoliberalem Profil gegeben hätte. Beides ist gegenwärtig nicht in Sicht. Die sozialen Bewegungen der Revolutionsära waren dem Zangengriff aus neoliberalem Angriff und der Vereinnahmung durch Ortega mehr oder weniger zum Opfer gefallen, während der Sandinismus als (einzige) potentielle politische Kraft, die dem Neoliberalismus hätte Paroli bieten können, gespalten, diskreditiert und paralysiert war. Im sandinistischen Mainstream hatte unter Ortega eine weitgehende Entpolitisierung und Entmachtung der Basis stattgefunden. Die Hinnahme und Akzeptanz neoliberaler Politik, die inzwischen zur offiziellen Parteilinie geworden war, wurde – z. T. erfolgreich – durch eine radikale, antiimperialistische Rhetorik kaschiert. Obwohl an der Regierung, hat Ortega bisher keinen ernsthaften Versuch unternommen, die neoliberale Gegenreform seinerseits rückgängig zu machen. Die von außen alimentierten Sozialprogramme mögen löblich sein, ersetzen aber keineswegs strukturelle Veränderungen.
Revolution neuen Typs wäre notwendig
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, was nun von der Revolution nach 30 Jahren geblieben ist, so geben deren ehemaligen Protagonisten und Unterstützer zumeist pessimistische Antworten: eine gewisse, der weiteren Demokratisierung zwar förderliche, aber nunmehr gefährdete Institutionalität; der immer noch vergleichsweise hohe Politisierungsgrad der nicaraguanischen Bevölkerung; die aus der Revolution entstandene (Volks-)Kultur; oder doch nur die antiimperialistische Rhetorik eines alternden Caudillo.
Diese Wertungen verweisen allesamt auf ein grundsätzliches Problem: Was vermögen Revolutionen und warum scheitern sie letztlich an der Umsetzung ihrer eigenen Forderungen? Sergio Ramírez verweist zurecht darauf, dass Revolutionen nicht geplant werden können, sondern von Idealismus und Improvisationsgeist leben, weshalb auch Fehler unvermeidlich sind. Ohne einen gewissen Utopie-Überschuss (vom Leipziger Revolutionshistoriker Manfred Kossok auch als „heroische Illusion“ bezeichnet) gäbe es gar keine Revolution. Insofern ist Ernesto Ché Guevaras Bonmot zutreffend: „Seien wir realistisch – versuchen wir das Unmögliche.“ Revolutionen sind in aller Regel eine Reaktion auf zuvor gescheiterte oder zu spät begonnene Reformen, enttäuschte Hoffnungen oder Notsituationen (z.B. im Ergebnis von Krisen, Katastrophen oder verlorenen Kriegen) und in diesem Sinne auch ein „Griff nach der Notbremse“ (W. Benjamin). Zugleich entwickeln sie ihre transformatorische Kraft und Sogwirkung vor allem aus der unverhofften Möglichkeit, (bisher) Unmögliches zu erreichen. Damit ist jedoch Enttäuschung – auch der Revolutionäre selbst – vorprogrammiert. Denn keine Revolution kann ihre eigene Utopie vollständig umsetzen. Selbst die erfolgreichste Revolution bleibt – gemessen an dieser Utopie – Stückwerk. Hinzu kommen der Widerstand all jener, die durch die Revolution etwas zu verlieren haben oder zu verlieren glauben, innere Fraktionskämpfe (wer ist der wahre Revolutionär!?), Radikalisierungs- und Beschleunigungsprozesse, die aus der Eigendynamik der Revolution bzw. der Wechselwirkung zwischen Revolution und Konterrevolution resultieren, die jeder Revolution inhärenten Momente der Gewalt sowie die Unmöglichkeit, den Ausnahmezustand der Revolution zu perpetuieren.
Legt man diese allgemeinen, jeder Revolution mehr oder weniger eigenen Charakteristika zugrunde, dann erweist sich auch die sandinistische Revolution bei allen historischen Besonderheiten als revolutionärer „Normalfall“.
Ein zweites, nicht minder komplexes Problemfeld bei der Bewertung von Revolutionen ist das Beharrungsvermögen der historisch gewachsenen Tiefenstrukturen einer Gesellschaft. Zum einen sind Revolutionen und Revolutionäre immer auch Kinder ihrer Zeit – selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Revolutionen die Tür zur Zukunft öffnen und als „Lokomotiven der Geschichte“ (K. Marx) fungieren (können). Diese „Historizität“ von Revolutionen zeigt sich sowohl in dem Umstand, dass sie aus Fehlentwicklungen der Vergangenheit resultieren, die zu korrigieren sie beanspruchen, als auch in der Gegenwartsbezogenheit ihrer Programmatik (Revolution hier und jetzt) bzw. in der Dringlichkeit der Umsetzung ihrer Forderungen.
Zum anderen stellt sich die Frage, inwiefern jahrhundertealte Mentalitäten, informelle Regelwerke oder auch geographisch-klimatische Besonderheiten dauerhaft durchbrochen werden können. In Nicaragua zeigt sich diese Problematik darin, dass Caudillismus, Klientelismus, Religiosität, Korruption, Machtmissbrauch, Realitätsverlust der Regierenden etc. als „historische Konstanten“ wahrgenommen werden, weshalb es scheint, dass sich trotz der Revolution mit all ihren Opfern, ihren Entbehrungen und ihrem Enthusiasmus nichts geändert hat: die „Ortega-Diktatur“ erscheint als Widergänger der Somoza-Diktatur.
Diese (verständliche) Perspektive lässt jedoch zweierlei außer Acht: Zum einen kennt die Geschichte Momente von Strukturbrüchen und „tektonischen“ Verschiebungen, die den „Zwang zur sozialen Innovation“ beinhalten. In dieselbe Richtung wirkt zum anderen auch der gegenwärtige Globalisierungsschub, der aus „Bruchzonen der Globalisierung“ erwächst und solche auch hervorbringt. Wendet man dies auf die sandinistische Revolution von 1979 an, so ist sie in ihrer historischen Verortung eher ein später Ausläufer eines „alten“ Revolutionszyklus, der sich aus den tiefen Quellen der Bauernrevolutionen des 20. Jahrhunderts (E. Wolf) speist, für die Mexiko 1910, Russland 1917 und China 1949 als die paradigmatische Fälle stehen. Da diese zugleich in der Tradition des Antiimperialismus und Antikolonialismus stehen, ergeben sich für die nicaraguanische Revolution von 1979 sowohl zur eigenen Geschichte (Sandino) als auch zur kontinentalen Wirkung der kubanischen Revolution von 1959 entsprechende Verbindungslinien. Diese zeigen sich sowohl im Selbstverständnis der Revolutionäre als Avantgarde als auch in der (realsozialistischen) Zielprojektion, in die sie „ihre“ Revolution einzuordnen versuchten. Ähnliches gilt übrigens – unter umgekehrten Vorzeichen – für die Konterrevolution. So interpretierte US-Präsident Reagan die sandinistische Revolution als Teil des Ost-West-Konflikts, während er deren Nord-Süd-Dimension ignorierte.
20 Jahre nach dem „tektonischen Bruch“ von 1990 mit seinen zahlreichen „Neuerungen“ stellt sich auch die Frage der Revolution neu. Zum einen ordnen sich künftige Revolutionen in ein völlig verändertes Koordinatensystem ein, das im Spannungsfeld von Zerfall des sowjetischen (Gegen-)Imperiums, technologischen Revolutionen, ökonomischer Globalisierung, Ringen der USA um die Aufrechterhaltung ihrer globalen Hegemonie und globalen Problemen wie Klimawandel, Energie- und Nahrungsmittelkrise etc. erst noch im Entstehen begriffen ist. Zweitens verbinden sich „alte“, ungelöste Probleme der Vergangenheit auf zum Teil unerwartete Art und Weise mit den neuen Problemen der Globalisierung. Daraus erwächst eine neue Dynamik des Ausbruchs, des Verlaufs und der Akteure von Revolutionen. Dafür bietet gerade die jüngste Entwicklung in Lateinamerika zahlreiche Beispiele. Mit Blick auf Nicaragua ist allerdings zu vermuten, dass das Land im Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren nicht im Epizentrum revolutionärer Umbrüche stehen wird, sondern eher zu den „Nutznießern“ benachbarter Epizentren (Mexiko, Venezuela) gehören könnte. Aber dies ist nur eine Möglichkeit. Ob, wann und inwieweit daraus Wirklichkeit wird, bleiben Fragen an die Zukunft. Jedenfalls sind heute tiefgreifende Veränderungen zur Überwindung der Sackgasse, in der die „postsandinistische Bananenrepublik“ Nicaragua (G. Gottwald) trotz (oder: wegen?) der Politik von Daniel Ortega steckt, genauso dringend wie vor 30 Jahren.
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Quellen:
- http://www.neues-deutschland.de/artikel/152337.solidaritaet-aus-prinzip.html
- http://www.neues-deutschland.de/artikel/152336.revolution-als-farce.html
- http://www.envio.org.ni/articulo/4018
- envio Nr. 328, Juli 2009
- Nicaragua: 30 años después por el túnel del tiempo
- http://www.schattenblick.de/infopool/politik/ausland/pala1016.html
- LATEINAMERIKA/1016: Sandinos Ideen leben fort (UZ)
- UZ – Unsere Zeit, Nr. 12 vom 20. März 2009
- Sozialistische Wochenzeitung – Zeitung der DKP
- INKOTA Brief 147 – März 2009
- Nicaragua – 30 Jahre danach: Irrwege einer Revolution
- Klaus Heß: Was von der Revolution noch übrig ist
- http://www.inkota.de/material/inkota-webshop/inkota-brief/147/klaus-hess/
- Gaby Gottwald: Postsandinistische Bananenrepublik
- http://www.inkota.de/material/inkota-webshop/inkota-brief/147/gaby-gottwald/
- Luis Bravo: Junge NicaraguanerInnen und die Politik
- http://www.inkota.de/material/inkota-webshop/inkota-brief/147/luis-bravo
Bildquellen: Quetzal-Redaktion, gt
Siehe zu diesem Thema auch die Al Jazeera-Dokumentation „Nicaragua: An unfinished revolution“ (in englisch).