Das Schicksal Nicaragua, mit 120.000 km² der Fläche nach das größte Land Zentralamerikas, ist in besonderem Maße durch seine geopolitische Lage und den daraus resultierenden Begehrlichkeiten der USA bestimmt worden. Seine Lage zwischen Atlantischem und Pazifischem Ozean prädestiniert das Land in Verbindung mit seinen großen Seen und schiffbaren Wasserläufen für einen interozeanischen Kanal. Obwohl der Bau eines solchen wegen der Entscheidung der USA zugunsten Panamas nie zustande gekommen ist, reichte schon eine solche Möglichkeit, um Nicaragua zur Zielscheibe von äußeren Interventionen zu machen. Dies wurde durch die faktische Zweiteilung des Landes in Pazifik- und Atlantikzone noch zusätzlich begünstigt.
Seit der Kolonialzeit konzentrieren sich Bevölkerung, Wirtschaft und politische Machtzentren auf der Pazifikseite, während die nur dünn besiedelte Atlantikküste von den Spaniern nie wirklich erschlossen werden konnte. Dies nutzten die Engländer, um sich mit den dort leben-den indigenen und afroamerikanischen Ethnien zu verbünden und in Gestalt der Miskitoküste ein von ihnen abhängiges „Königreich“ zu etablieren. Erst Ende des 19. Jahrhunderts konnte die Atlantikküste endgültig in das nicaraguanische Staatsgebiet eingegliedert werden. Seine ethnisch-kulturellen Besonderheiten blieben jedoch erhalten und bildeten die Grundlage für eine weitreichende Autonomie, die sich die lokale Bevölkerung nach schweren politischen und militärischen Auseinandersetzungen während der sandinistischen Revolution erkämpfte.
Die territorial-kulturelle Bruchlinie ist jedoch nur eine von vielen, die die Geschichte des Landes bestimmt haben. Die in die Kolonialzeit zurückreichende Rivalität der beiden Städte León und Granada, die sich später mit der politischen Rivalität zwischen Liberalen und Konservativen verband, ist eine weitere. Im Zuge der Volksrevolution von 1979 kam noch die Konfrontation zwischen Sandinisten und Antisandinisten hinzu. Sie ließen das Land nicht zur Ruhe kommen und boten den USA, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Erbe der Briten angetreten hatten, willkommene und nur zu gern genutzte Gelegenheiten zur Einmischung.
Dies begann mit der Invasion des Südstaatlers William Walker und seiner Filibuster, die erst 1860 durch gemeinsame Anstrengungen aller zentralamerikanischen Staaten abgewehrt werden konnte, und fand zwischen 1910 und 1933 seine Fortsetzung in der Errichtung eines de facto – Protektorats der USA. Mit seiner mehrfachen militärischen Intervention hat Washington nicht nur den Versuch des liberalen Präsidenten Zelaya, einen starken Nationalstaat zu schaffen, zunichte gemacht, sondern eigenhändig dafür gesorgt, daß nach dem Abzug seiner Truppen die Familiendiktatur der Somozas Nicaragua 45 Jahre lang beherrschen und ausplündern konnte.
Die ständigen Einmischungen der USA hatten jedoch zur Folge, daß sich in Nicaragua eine lange, nie abreißende Kontinuität des Widerstandes herausgebildet hat. Dieser erwies sich immerhin als stark genug, den US-Marines nach siebenjährigem Guerillakrieg 1933 eine empfindliche militärische Niederlage zu bereiten und 1979 die verhaßte Somoza-Diktatur zu stürzen. Der Name Sandinos symbolisiert diesen doppelten Sieg über die USA und die von ihnen bis zuletzt unterstützte Diktatur. Obwohl er 1934 von seinem Widersacher Somoza feige ermordet worden war, lebt sein Andenken im nicaraguanischen Volk weiter und diente den Guerilleros der 1961 gegründeten und nach ihm benannten Befreiungsfront (FSLN) als Inspiration. Als diese unter dem Jubel der Bevölkerung am 19. Juli 1979 siegreich in der Hauptstadt Managua einzogen, war das für die meisten Nicaraguaner die Erfüllung ihrer Hoffnungen und Träume.
Der Honigmond des revolutionären Sieges währte jedoch nicht lange. War man sich bei der Enteignung des Somoza-Clans und seiner Anhänger noch einig, kam es über den weiteren Kurs der Revolution schon bald zu politischen Auseinandersetzungen. Ronald Reagan, der 1981 das Amt des US-Präsidenten angetreten hatte, formierte im Nachbarland Honduras aus ehemaligen Anhängern der Diktatur, zu denen später Gruppen stießen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen mit der Politik der Sandinisten unzufrieden waren, eine konterrevolutionäre Streitmacht – die Contras. Im Schatten des ihr aufgezwungen Krieges fuhr sich die Revolution immer mehr fest. Als sich im Februar 1990 die Sandinisten zum zweiten Mal zur Wahl stellten, erlitten sie eine unerwartete Niederlage, die sie – für manche vielleicht ebenso unerwartet – auch akzeptierten.
Eine Revolution, die die Armut bezwingen wollte, endete auf dieses Weise zwar demo-kratisch, jedoch um den Preis der Zunahme jenes Grundübels, das zu beseitigen sie zwölf Jahre zuvor angetreten war. Nicaragua, inzwischen das ärmste Land Zentralamerikas, leidet bis heute daran, dass die Revolution ihre sozialen Versprechen nicht dauerhaft einlösen konnte. Zur Armut gesellen sich inzwischen Resignation, Zynismus und Opportunismus, eine Mischung, der auch der Sandinismus nicht zu entkommen vermochte. Eines stimmt jedoch hoffnungsvoll: Trotz der ganzen Misere zeigen sich die Nicas weit weniger gewalttätig als ihre zentralamerikanischen Nachbarn. Dies mag viele Gründe haben – zwei gehören aber auf alle Fälle dazu: das unabgegoltene, aber dennoch fortwirkende revolutionäre Erbe und der ungebrochene Überlebenswille der karibisch-optimistischen Nicaraguaner.
ich weiß nicht
ob ihr
mit den wenigen Pfennigen eurer Armut
die riesige Energie des Elends
gegen die Dummheit des Reichtums
aufrechterhalten könnt …
(Heinrich Böll 1985 in einem Brief an den nicaraguanischen Dichter Ernesto Cardenal)