Der Nationale Gesundheitsrat Mexikos (Consejo Nacional de Salud) führte 2015 erstmals eine landesweite Prüfung des Rettungssystems durch, in deren Rahmen alle Rettungswagen kontrolliert wurden. Ein Vertreter des Gesundheitsrates stellte gegenüber der Zeitung El Universal fest, es gebe sehr viele Ambulanzen, die der Norm 034 nicht entsprechen1 und die deshalb stillgelegt werden müssten. In Mexiko-Stadt zählte man damals 1.515 Rettungswagen, von denen nur ein Bruchteil zu den öffentlichen Ambulanzen gehörte. Drei Jahre später nannte Telediario die Zahl von 60 öffentlichen Rettungswagen in der mexikanischen Hauptstadt, von denen allerdings nur 40 einsatzbereit waren2. Im Durchschnitt bräuchten diese Wagen 41 Minuten bis zum Patienten.
Soweit einige grundlegende Informationen zum Rettungswesen in Mexiko-Stadt, die man braucht, um Notfall Mexico City (Originaltitel: Familia de medianoche) wenigstens einigermaßen zu verstehen. Im Film wird lediglich mitgeteilt, dass in der mexikanischen Hauptstadt weniger als 45 Rettungswagen im Einsatz seien. Einen der eineinhalbtausend privaten Krankenwagen, die in diese Lücke stoßen, betreibt die Familie Ochoa, die die Stadt Nacht für Nacht in der Hoffnung auf einen Einsatz durchstreift. Der preisgekrönte Film Notfall Mexico City beobachtet die Familie bei ihren nächtlichen Streifzügen und enthält sich jeglichen Kommentars. Und das ist, so denke ich, sein Problem, denn es braucht zumindest ein Basiswissen über das mexikanische Gesundheitssystem, um das Gezeigte wirklich zu verstehen.
Die Dokumentation lässt uns teilhaben am allnächtlichen Kampf der Ochoas ums Überleben, ihr eigenes und das ihrer Patienten. Wir beobachten z.B. immer wieder einen durch die Stadt rasenden Rettungswagen, der sich mit anderen Rettungswagen Rennen liefert, um als erster bei dem Hilfsbedürftigen zu sein. Oder auch, wie Polizisten bestochen werden; die einen, weil sie die Arbeit der Familie behindern und die anderen, damit sie Informationen über Unfälle und andere Katastrophen liefern und den Protagonisten so Kunden beschaffen. Dass die Ochoas ihre Patienten bevorzugt in private Krankenhäuser fahren, überrascht sehr bald nicht mehr, vermutlich zahlen nur diese „Kopfprämien“ für eingelieferte Patienten. Aber die Familie ist auf dieses Geld angewiesen, es ist ebenso ihr Verdienst wie die Bezahlung durch die Patienten. Aber dieser Verdienst ist unsicher; nicht nur, weil nicht jede Nacht einen Einsatz garantiert, sondern auch, weil die Patienten nicht bezahlen müssen. Und das oft auch genug nicht tun, und nicht immer deshalb, weil sie sich das einfach nicht leisten können.
Spätestens hier dürften alle Nichtmexikaner etwas ratlos sein. Da der Film nichts erklärt, teilt er uns auch nicht mit, dass das kleine Familienunternehmen einen nicht regulierten und vermutlich auch nicht registrierten Rettungswagen betreibt. Das macht es nicht nur korrupten Polizisten leicht, die Ochoas zu schikanieren, es erlaubt diesen auch nicht, eine reguläre Bezahlung für ihre Dienstleistung zu verlangen.
Ihr alter Rettungswagen dürfte zudem bei einer erneuten Kontrolle des Consejo Nacional umgehend aus dem Verkehr gezogen werden, weil er definitiv zu den sehr vielen Ambulanzen gehört, die nicht den Vorschriften entsprechen. Und dabei schließe ich die Arbeit der Besatzung ausdrücklich mit ein. Zeitweise bekam ich geradezu Gänsehaut wegen der hygienischen Zustände in diesem Rettungswagen angesichts eines Mitarbeiters, der sich neben dem Wagen auf der Trage ausruht oder eines Halbwüchsigen, der offensichtlich permanent im Rettungswagen mitfährt und sich dort einen Platz zum Schlafen sucht.
Der Chef des Familienunternehmens ist der 17-jährige Sohn, der vor der Kamera einmal lächelnd darüber philosophiert, dass ihm Unfälle und Schusswunden gefallen würden. Das sollte er vielleicht nicht sagen, aber schließlich lebe er davon. In Mexiko braucht ein Sanitäter übrigens einen Bachelor-Abschluss und muss mindestens 18 Jahre alt sein. Welche Qualifikation haben der 17-jährige Juan und seine Mitstreiter eigentlich? Der Film schweigt sich darüber aus. Bis zum Schluss habe ich nicht herausbekommen, wer nun eigentlich genau zur Familie gehört, zumal der Wagen mitunter von vier Personen besetzt zu sein schien. Und da ist der übergewichtige Schulschwänzer nicht mitgezählt.
Der Film zeigt in erschreckender Weise die katastrophale Situation der medizinischen Notfallversorgung in einer Stadt, in der es wiederholt passierte, das Patienten starben, weil der Rettungswagen zu spät kam. Und er zeigt das auf durchaus attraktive Weise, wenn man denn minutenlange rasante Fahrten durch eine nächtliche Großstadt und Schauplätze sowie Opfer echter Unfälle und Auseinandersetzungen mag. Das dürfte zu seinem Erfolg, zumal in Mexiko, beigetragen haben. In der deutschen Fassung macht das schreckliche Voiceover allerdings manches von dieser Wirkung zunichte.
Mexico City zeigt aber auch, und ich weiß nicht, ob das so beabsichtigt war, die nicht minder erschreckende Folge dieser Misere: private Ambulanzen, wie sie z.B. von der Familie Ochoa betrieben werden. Deren Arbeit scheint mir genauso gefährlich zu sein wie der eklatante Mangel an zugelassenen und den Auflagen des mexikanischen Gesundheitsministeriums entsprechenden Rettungswagen. Beides gefährdet das Wohl der Patienten.
Notfall Mexico City
Regie: Luke Lorentzen. 58 Min.
Mexiko/USA 2019
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1 Rodríguez, Ruth: Bajo la lupa, ambulancias públicas y privadas. https://www.eluniversal.com.mx/articulo/nacion/sociedad/2016/01/3/bajo-la-lupa-ambulancias-publicas-y-privadas.
2 Esta es la cantidad de ambulancias que tiene cada alcaldía en la CDMX. https://www.telediario.mx/metr%C3%B3poli/esta-es-la-cantidad-de-ambulancias-que-tiene-cada-alcaldia-en-la-cdmx
Bildquellen: [1,2] Snapshots