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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Chiapas

Carlos Martínez Suárez | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Ich arbeite seit achtzehn Jahren im Staate Chiapas, Mexiko, wo ich ein alternatives Kommunikationsprojekt fördere und das Leben indigener Gemeinschaften der Selva und der Hochebenen von Chiapas filme, fotografiere und auf Video aufnehme. Während der Jahre, in denen ich mit den Maya-Völkern im Süden Mexikos arbeite, durfte ich außergewöhnliche Menschen kennen lernen. Sie haben mir ihr Wort anvertraut, damit ich der Gesellschaft von den Werten und Konzepten, welche die ältesten Siedler dieses Stückchens Erde vom Leben haben, berichte.

Anfang der achtziger Jahre gründete ich ein experimentelles Videoatelier, um die Dokumentations- und Verbreitungsarbeit zwischen den indigenen Gemeinschaften zu fördern, und an dem wir jungen Enthusiasten, die wir mit der Idee nach Chiapas gekommen waren, gemeinsam mit den Gemeinschaften zu arbeiten, mitwirkten.

Im Rahmen des Projekts tun sich Fotografen, Bildende Künstler, Schriftsteller, indigene Übersetzer, Journalisten und Anthropologen zusammen, um einen durch meinen kleinen Betrieb „Video Trópico Sur“ produzierten Dokumentarfilm oder eine Reportage zu realisieren. Wenn nötig, appellieren wir an die Solidarität kreativer Freunde, um auf Video produzierte Arbeiten zum Abschluss zu bringen und zu bereichern.

Das traditionelle Wissen und das gemeinschaftliche rituelle Leben sind ein äußerst wichtiger Teil der Arbeiten, die ich mit den Gemeinschaften durchführe. Diese selbst ersuchen um die Anwesenheit unserer Kameras, um Feste und Zeremonien aufzuzeichnen, an welchen Obrigkeiten und traditionelle Musiker teilnehmen. Das videografische Kulturgut, das in diesen Jahren geschaffen wurde, ist von großem dokumentarischen Reichtum. Es bietet die Möglichkeit, verschiedene Aspekte des gemeinschaftlichen Lebens zu durchleuchten. Die Aufnahmen realisieren wir unter dem Kriterium der visuellen Anthropologie und dem eigenen Interesse der Gemeinschaft, die uns einlädt, ihre Rituale und Zeremonien zu filmen. Gezeigt werden Musik und Tänze, Gesänge und Gebete, Gewänder und zeremonielle Gegenstände.

In den Neunziger Jahren verschärfte die Aussichtslosigkeit der am wenigsten geschützten Bevölkerung die sozialen Spannungen, auf die staatliche Repressionen als systematische Antwort erfolgten. Auf diese Weise wurden die Bedingungen dafür geschaffen, dass die konspirative Aktivität der „Zapatistischen Armee der nationalen Befreiung“ in Mexiko beträchtliche Ausmaße annahm, bis schließlich im Januar 1994 die indigene Stimme das nationale Bewusstsein mit seinem Ruf „ya basta“ durchbrach.

Seit jenem Aufstand hat sich die Dokumentations- und Verbreitungsarbeit von „Video Trópico Sur“ intensiviert, um der Kampagne der Desinformation nachdrücklich Einhalt zu gebieten, die der Staat gegen die Ureinwohner, die nicht länger bereit sind, seit Jahrhunderten bestehende Ungerechtigkeiten zu ertragen, angefacht hat.

Die mexikanische Gesellschaft erbat von den Konfliktparteien einen Waffenstillstand, der den „Diálogo por la paz“ ermöglichte. In diesen vier Jahren fiel die Verantwortung, den Friedensprozess in Chiapas aufzuzeichnen, auf Bitten der „Comisión Nacional de Intermediación“, CONAI, „Video Trópico Sur“ zu. Die CONAI weiß, wie wichtig es ist, eine auf Video aufgezeichnete Chronologie der dramatischen Augenblicke zu schaffen, die dieser bewaffnete Konflikt durchschritt.

Heute verfügen wir über die vollständigste und wichtigste Bank von Bildern über die chipanekische Realität und besonders den Herzschlag der indigenen Gemeinschaften, die in den letzten Jahren Hauptdarsteller von Heldentaten und dramatischen Episoden waren. Wir sehen ein Volk in Lumpen, Erbe eine Jahrtausendkultur, wie es sich barfuss den Panzern und Kriegsgeräten entgegenstellt, mit denen die Bundesregierung den Schrei Tausender armer Mexikaner nach Freiheit und Gerechtigkeit zu ersticken versucht, die zwischen Misere und Erniedrigung darüber debattieren, missachtet zu werden, weil sie Indios sind. Die Verbreitung unserer Dokumentationen und Reportagen war in den letzten Jahren sowohl innerhalb der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften als auch auf nationaler und internationaler Ebene von großer Bedeutung. Neben der Mitarbeit an Produktionen von wichtigen Filmemachern und Fernsehsendern in aller Welt wurden wir in verschiedene Museen und zu Kinofestivals in Amerika, Afrika und Europa eingeladen, um unsere Filme vorzuführen. Wir schufen ein Forum für die traditionellen Werte der indigenen Völker und ihr heroisches Festhalten an ihrem Rückübertragungsanspruch und für Würde und Gerechtigkeit aller in diesem Land Vergessenen.

In diesen achtzehn Jahren war das Wichtigste an unserem alternativen Kommunikationsprojekt, den indigenen Gemeinschaften Video und Fotografie näher zu bringen. Für die Indios und Campesinos, die durch Isolierung und Ausgrenzung nicht am Nationalprojekt beteiligt wurden und zu technischem Rückstand, Unterernährung und dem unausweichlichen Schicksal, billige Arbeitskraft zu sein, verdammt wurden, ergab sich eine Möglichkeit zur Reflexion.

Mit den Videoreportagen und Dokumentarfilmen, welche die Dimension des Krieges zeigen, den die Campesinos in den autonomen Regionen erleiden, laden wir auch die Gesellschaft zum Nachdenken ein, damit sie eine aktivere Position hinsichtlich der Verteidigung der indigenen Bevölkerung einnimmt, die heute ernsthaft durch die Militärmaschinerie bedroht wird, die ihre Gewehre gegen ein barfüßiges Volk richtet. Die Videos werden in alternativen Kreisen (Buchläden, Straßenstände, kulturelle Ereignisse, etc.) und von Hand zu Hand verbreitet. Wir informieren die Bevölkerung auf diese Weise über die verschiedenen Kapitel des schmutzigen Krieges, dem die Indios ausgesetzt sind, die sich auf der Basis einer Volksbefragung und –abstimmung dafür entschieden haben, Merkmale ihrer eigentlichen Kultur in die Form des Zusammenlebens und der Selbstverwaltung zu integrieren.

Wir führen die Videos auf öffentlichen Plätzen vor, auf Märkten, vor Arbeitergruppen, Studenten und Campesinos und versuchen damit, die durch die Regierung errichtete Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Diese kauft Journalisten oder zwingt sie zur Unterdrückung und Manipulation von Informationen über Dinge, die sich in isolierten und kaum zugänglichen Gebieten abspielen. Dort leidet man am meisten unter der Quälerei und Aggression der weißen Garden und Paramilitärs, die ungestraft unter dem Schutz von Beamten, die dem Militär, der Polizei und der Regierung angehören, agieren.

Diese Situation erschwert die Möglichkeit, das aktuelle Vorgehen der mexikanischen Regierung gegen die indigenen Gemeinschaften bekanntzumachen und anzuklagen. Diese habe sich dazu entschlossen, ihre Stimme gegen die Misere und das Vergessen zu erheben und das nationale Bewusstsein herauszufordern, damit begriffen wird, dass für die autochthonen Gemeinschaften Würde und Gerechtigkeit noch immer in weiter Feme liegen, und dass man hinsichtlich der gravierenden sozialen Rückständigkeit, unter denen Tausende von Mexikanern in extremer Armut leiden, durch öffentliche oder militärischer Gewalt keine Fortschritte erzielt werden.

Vier Jahre konstanter Zermürbung und kontinuierlicher Episoden liegen hinter uns, in denen der fragile Waffenstillstand mehrfach auseinanderzubrechen drohte. Die permanente Krise spitzte sich zu, als im August 1996 der „Dialog von San Andrés“ suspendiert wurde. Wir leisteten viel Arbeit, um die verschiedenen Provokationen aufzuzeichnen, die mit dem Ziel durchgeführt wurden, den Waffenstillstand zu brechen. Die Anwesenheit einer Videokamera war bei verschiedenen Anlässen ein wichtiger Zeuge, der von dem gewaltsamen Versuch, Gewehre einzusetzen, die begierig ihren Todesdonner erschallen lassen und das Feuer eröffnen wollten, abhalten konnte.

Dies sind einige Gründe dafür, warum ich heute humanitäre Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, Gruppierungen aus der Bevölkerung und Menschen mit gutem Willen dazu aufrufe, dass wir gemeinsam mit der Arbeit der Videoaufnahmen und der Reportagen und Dokumentarfilmen fortfahren, die nicht nur anzuklagen, sondern auch die kulturellen Werte der originären Völker dieses von Unruhen erschütterten Gebietes in Amerika verbreiten wollen. Wir möchten die Distanz zwischen Regierenden und Regierten verringern, um den Weg einer harmonischeren, gerechteren und menschlicheren Entwicklung zu beschreiten.

Übers. a. d. Spanischen: Anja Jaramillo

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