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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Amexica – Grenzwelten: Eine Dokumentation über die Menschen und Landschaften zwischen den USA und Mexiko

Laura Wägerle | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Mexiko: Verlauf der Grenze zu den USA - Foto: Snapshot

„Amexica – Grenzwelten“ ist eine vielstimmige Dokumentation der französischen Fotografin und Regisseurin Marie Baronnet die sich über eine Zeitspanne von zehn Jahren den Menschen und den von ihnen bewohnten, durchkreuzten und (neu) besiedelten Räumen widmet. Baronnet sammelte das Material während ihrer Aufenthalte im Süden der USA sowie dem Norden Mexikos in Tijuana, San Diego, Ciudad Juarez, Houston und Calexico, so entstand eine Erzählung wie eine Perlenschnur entlang der US-mexikanischen Grenze, genauer, dem Teil des Verlaufs, der überland von Tijuana/San Diego an der Westküste bis zum Schnittpunkt mit dem Rio Grande verläuft, von wo aus selbiger als Grenzfluss fungiert.

 

Drei Gesichter

Beginn ist in Mexiko. Ein weißhaariger Siedler in der Wüste von Sonora lebt von Gelegenheitsarbeiten als Maurer, sammelt Dosen und Feuerholz und behaust eine kleine Hütte zusammen mit seinem Hund. Wenn Migranten an seiner Hütte vorbeikommen, unterstützt er sie mit Essen und Trinken. Mit den Schleppern, die hier aktiv sind, seitdem die Grenze schärfer bewacht wird, will er nichts zu tun haben. Aber er helfe einfach gerne, ohne Gegenleistung.

Ein großer, blonder Mann mit Baseballcap spielt in der nächsten Szene am Klavier eine Symphonie von Rachmaninow. Er sitzt in einem hellbeleuchteten Raum, und seine Beschäftigung im Allgemeinen ist es, an der Grenze unterwegs zu sein, um Migranten aufzuspüren, oder genauer: „We use the camera to catch people“. Die Kamera, von der er spricht, ist die größte Wärmebildkamera, die es auf dem Markt zu haben gibt. Er zeigt sie mit Stolz … der Kamera. Mit einem irgendwie unpassenden Hang, sich in philosophischen Gedanken zu ergehen, mutmaßt er dann: „Rachmaninow passt irgendwie zur Grenze. Wenn ich mit dem Hubschrauber über den Teil der Grenze fliege, wo sie noch offen ist, gibt mir das ein besonderes Gefühl. Die Grenze löst Gefühle aus. Für manche sind das romantische Gefühle. Für manche … eben andere.“ Aber genauer wird er nicht. Weshalb die Menschen sich so aufregen, dass die Grenze geschlossen sei, ist ihm unverständlich. Es gebe doch schließlich noch ein großes Stück, das unversperrt ist.

Und dann lernen wir eine ehemalige Schlepperin kennen, die diesen Broterwerb aufgegeben hat und stattdessen die Autos der US-Amerikaner säubert, die von der anderen Seiten kommen und für einen Dollar ihr Auto säubern lassen. Ihr Mann und die kleine Tochter arbeiten mit, und während sie von ihrer früheren Arbeit erzählt, wird ihre Stimme manchmal nachdenklich und leise. „Wir haben 5000 Dollar pro Person verlangt. Wenn wir das Geld hatten, nahmen wir ihnen auch noch auf die eine oder andere Weise ihre restlichen Wertsachen – Handys, Ladekabel, Portmonees – ab. Und dann haben wir sie an einer Stelle in der Wüste abgesetzt und ihnen erzählt, dass sie von nun an nur noch zwei oder drei Stunden laufen müssten bis zur Grenze. In Wahrheit waren es aber zwei oder drei Tage.“ Die Arbeit mit den Autos ist harte körperliche Arbeit, das sieht man. Die junge Frau bedauert: „Es ist traurig. Die Menschen kommen hier her, und sterben oder werden krank auf ihrem Weg, und werden aber von den Coyotes so ausgenommen. Mir geht es jetzt besser, seitdem ich die Arbeit nicht mehr mache. Mit mir selbst und Gott.“

 

Familien an der Grenze

Dies sind die ersten drei Stimmen dieses vielstimmigen Dialogs. Es folgen die Geschichten von US-amerikanischen Landbesitzern des Schlages von Trump-Anhängern in der Region, die eine Protestkundgebung gegen (nur illegale?) Migration organisiert haben. Man habe sich die eigene Staatsbürgerschaft erarbeitet, liest sich auf einem Plakat, auf einem anderen: „Ich bin legal hierhergekommen“. Man habe Jobs an Migranten verloren. Man empört sich. Dann die tragische Geschichte einer zentralamerikanischen Familie, die in den USA Asyl beantragen möchte. Sie sind gerade in Tijuana angekommen und wollen ein paar Tage warten, ob sie legal einreisen dürfen. Falls nicht, sind sie auch zum illegalen Übertritt bereit. Die zwei Kinder sind noch nicht richtig groß, vielleicht zehn und sieben. Die Familie übernachtet in einem Camp in einer Halle. Eine Frau von ebenfalls zwei Kindern leidet um ihres Mannes Willen, der in einem Internierungslager eingesperrt ist. Er habe wiederholt versucht, die Grenze zu übertreten, und wird nun festgehalten. Die Insassen des Wüstengefängnisses müssen Sträflingskleidung tragen wie anno 1925, schwarz-weiß-gestreift. Der Mann entscheidet sich  dafür, sich ausweisen zu lassen, und unterschreibt die notwendigen Papiere. Das Paar ist sich einig, dass dies der bessere Weg ist, weil er so zumindest nicht mehr eingesperrt ist. Aber die Sorge, dass sie selbst auch ausgewiesen werden könnte, liegt ihr schwer auf den Schultern – wegen der Kinder.

Ein weiterer Schnitt in eine US-amerikanische Perspektive: Die Gefängnisleitung sitzt um einen großen Holztisch und schäkert. Man schenkt sich rosa Spaß-Boxershorts, erklärt, dass man den Insassen nun verboten habe, Briefe zu schreiben, und posiert schließlich zum Foto mit Mariachi-Sombrero. Ein  Kommentar erübrigt sich.

 

Vielfältige Lebenswelten

Migrant_Innen aus Haiti, aus Kuba, aus Kamerun. Feldarbeiter in den USA, Migrant_Innen, die ihre Arbeitsbedingungen als Sklavenarbeit bezeichnen, von der Arbeit zerschnittene Hände haben, fortgeschrittenen Alters. Ein Protestzug von mittelamerikanischen und mexikanischen Migranten, die skandieren: „Wir Migranten sind keine Verbrecher, sondern internationale Arbeiter“. Die Angehörigen des nordamerikanischen Stammes der O’Odham, die in ihrem Reservat, das mitten in der Grenzregion liegt, ihre Brunnen mit hochgehissten blauen Flaggen markieren, um auf sich aufmerksam zu machen. Ciudad Juárez: eine Grenzstadt, die mit den Menschenmassen wächst, die hier ankommen. Hier eröffnen Migranten Schönheitssalons, Nagelstudios, Bars und so weiter. Sie boomt.

Am Ende ist die Familie aus Zentralamerika komplett in die USA gelangt. Sie kletterten über einen Zaun in San Diego. Der Vater muss sich vor Gericht erklären, und bis über seinen Fall entschieden ist, wird er eine elektronische Fußfessel tragen müssen. Die Kinder können schon ein wenig Englisch.

Und schließlich fällt den Landschaften eine „tragende Rolle“ zu. Die Dokumentation zeigt die urbanen Räume, in denen die Migranten ankommen, sich eine Bleibe suchen, Kontakte miteinander knüpfen, um dann anschließend wieder weiterzuziehen. Ebenso die Weiten der Wüste, oft menschenleer, die noch vereinzelte Überbleibsel der Durchquerenden bergen, in bunten Farben: Wäschestücke, Rucksäcke. Ein mit Plastikblumen geschmückter anonymer Friedhof.

So entsteht eine wachsame, sensible Erzählung in Bildern über das Leben und Überleben in der Grenzregion, auch über die, die es nicht geschafft haben. Ein differenzierter Blick wie dieser bringt die Lebensrealität der Menschen in der Region näher, und es ist gut, zu wissen, dass es neben dem harten Lebensalltag auch Menschlichkeit auf beiden Seiten der Grenze gibt.

 

Bildquelle: Snapshot

 

Amexica: Grenzwelten

Mexiko/USA/Frankreich 2020

Regie: Marie Baronnet

Dauer: 92 min

Der Film ist noch bis zum 7.7.2021 in der arte-Mediathek vorhanden. Ausstrahlung auf arte am 6.4.2021, 22:55 Uhr

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