Lateinamerikanische Guerrilla zwischen Revolution und Demokratisierung
Guerilla breitete sich in Lateinamerika fast immer an Orten und zu Zeiten der Schwäche der traditionellen Linken aus. Die Implikationen des Browderismus und die verhängnisvollen Schatten der Komintern bzw. Moskaus auf Lateinamerika mögen als Beispiel dafür genügen. Die Zapatistas in Mexiko sind auch ein Ausdruck dieser – in Mexiko chronischen – Schwäche linker Parteien. Guerilla mußte per definitionem als Focus beginnen, weil sie immer eine Implementationsphase der sobreviviencia benötigt. Es ist jedoch ein Trugschluß, vom Focus-Beginn linear auf den foquistischen Charakter von Guerilla zu schließen: Der kubanische M-26 vermochte es, im Dezember 1956 acht Männer mit sieben Gewehren in die Sierra Maestra und durch mehrere Niederlagen „durchzubringen“, und daraus erwuchs später eine Revolution. Der bolivianische ELN begann hingegen seine Aktion mit 51 Kämpfern und ging in seinen ersten Gefechten als Sieger hervor, um dann nahezu total zerschlagen zu werden. Bezeichnend dafür ist der Dialog, der sich zwischen Raul Castro und Che ergab, als sich letzterer nach Bolivien aufmachte: „Che, dies ist das Abenteuer des Jahrhunderts! -Nein, nein, das Abenteuer des Jahrhunderts war die Granma!“ [1] Die argentinischen Montoneros begannen mit 12 Mann, um später hunderttausende auf die Beine zu bringen. Die Tupamaros verstanden sich ausdrücklich als Gegenentwurf zum „Foquismus“ des Che Guevara. Doch auch diese beiden Organisationen verschwanden nach langen Wirren von der politischen Landkarte, ohne sie entscheidend geändert zu haben.
Die chiapanekischen Zapatistas, die jede politische Avantgarderolle ablehnen, gelten im allgemeinen Verständnis als der Gegenentwurf zum Foquismus schlechthin. Doch auch sie hatten 1983 (und nicht erst 1994) mit 12 Mann irgendwo an der Grenze zwischen Chiapas und Guatemala begonnen, um dann (nach offiziellen Angaben) mit bis zu 5.000 Mann an die Öffentlichkeit zu treten. All dies verweist auf die Notwendigkeit, Guerilla nicht aus sich selbst, sondern aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext heraus zu erklären.
Guerilla und Revolution -eine Periodisierung
Guerillakampf in Lateinamerika hat Wurzeln, die bis in die Unabhängigkeitskriege zurückreichen. Die erste Welle der Ausbreitung von Guerilla in Lateinamerika im XX. Jahrhundert begann im Zuge der mexikanischen Revolution, deren Held Pancho Villa zur Inkarnation der Triade „Soldat -Politiker-Bandolero“ wurde. In den 20er und 30er Jahren standen die „Kolonne Prestes“ in Brasilien und das Befreiungsheer des Augusto Cesar Sandino in Nikaragua für einen Guerillerismus einer neuen Generation. In Kolumbien bildeten sich im Gefolge des Bürgerkrieges 1948 liberale Bauern-Guerillas, die zu dieser Zeit in besonderem Maße dem bandolerismo verhaftet waren, und aus denen sich mit den FARC später die älteste, bis heute noch operierende Guerilla Lateinamerikas entwickeln sollte.
Für die zweite Welle gab die kubanische Revolution, beginnend mit der Landung der Granma 1956, den Impuls. Es war die Zeit des romantisierenden Guerillaverständnisses durch die Linken und der Ausbreitung des Phänomens über den gesamten Subkontinent, verbunden mit der Illusion einer „kontinentalen Revolution“. Mit dem Scheitern des ELN in Bolivien und dem Tod Che Guevaras fand sie ihren symbolischen Niedergang. Die Stadtguerilla – darunter vor allem die Tupamaros in Uruguay und die Montoneros in Argentinien – signalisierten den Niedergang dieser Welle auf die ihnen und ihren (stark verstädterten) Ursprungsländern eigene Weise.
Die dritte Welle, gemeinhin als die mittelamerikanische Welle bezeichnet, wurde nicht – wie in der Literatur häufig dargestellt – erst durch die Signalwirkung der sandinistischen Revolution ausgelöst. Vielmehr fiel die Gründung der FSLN selbst und der guatemaltekischen FAR in die frühen 60er und die Bildung aller weiteren guatemaltekischen und der fünf salvadorianischen Guerillaverbände in die 70er Jahre, also in das Vorfeld der nikaraguanischen Revolution. Nur für Honduras trifft möglicherweise der „Nikaragua-Effekt“ tatsächlich zu. Spätestens mit dem Frieden von El Salvador fand diese dritte Welle 1992 ihr Ende. Danach schien es zunächst, daß auch in Guatemala und Kolumbien der Frieden nur eine Frage der Zeit sei. In Peru zog sich der Sendero Luminoso in seine letzten Bastionen in Ayacucho und San Martin zurück, spaltete sich in zwei Tendenzen, von denen sich die eine, Guzmán-hörige, mit einem „Frieden ohne Sieger und Besiegte“ zufrieden geben wollte, aber de facto kapitulierte.
Als jedoch zum fast gleichen Zeitpunkt in Chiapas – zumindest für Außenstehende völlig unerwartet – der EZLN, aus dem Lacandonischen Urwald kommend, innerhalb weniger Tage vier südmexikanische Ortschaften einnahm, war man schnell dabei, den Beginn einer vierten Welle anzunehmen und Fragen von sehr grundsätzlicher Art zu stellen. Diese betrafen erstens die Verortung der Guerilla im nationalen Revolutionszyklus: Tragen die Zapatistas die mexikanische Revolution von 1910 – 1917, von deren Hauptprotagonisten sie sich den Namen geliehen haben, nun auch in jene, von der Revolution bis dahin „vergessene“ Region Chiapas? Handelt es sich somit um die Zuendeführung der klassischen mexikanischen Revolution? Und wenn ja, geht es dabei nur um eine regionale „Komplementierung“ oder um die Wiederaufnahme des Impetus der von Zapata und Villa geführten Volksbewegung, deren Intentionen bislang nie Erfüllung fanden? Kann der „neue zapatismo“ die Schwächen des alten dahingehend überwinden, daß er Regionales und Nationales besser zu verbinden weiß, als es einst sein Vorbild Zapata in Morelos vermocht hatte? Zweitens wurde auch recht oder gar zu schnell die Frage nach dem weltgeschichtlichen oder zumindest dem lateinamerikanischen Ort der heutigen zapatistischen Bewegung aufgeworfen: War dies tatsächlich eine „postmoderne“ Revolution, und was berechtigt zu dieser Stilisierung? Ist es gar die erste Revolution des XXI. Jahrhunderts? Ist Chiapas nun ein regionales, mexikanisches oder lateinamerikanisches „Ereignis“? Ist die Granma, die einst von Mexiko aus Kurs auf Kuba genommen hatte, gewissermaßen an ihren Ursprungsort zurückgekehrt, und schließt sich damit der alte, mit Kuba begonnene lateinamerikanische Guerillazyklus? Beginnt gar ein neuer lateinamerikanischer Guerillazyklus, von dessen indigenem Charakter gerade die Tatsache zeugt, daß (außer in Kolumbien) Guerilla gerade in den stark indigen geprägten Ländern Peru, Mexiko und Guatemala fortbesteht? Oder sind das alles nur Zeichen eines letzten Aufflackerns einer längst vergangenen Epoche?
Guerilla und Demokratisierung -neue Fragen
Wenn die nun schon über zehn Jahre andauernde Demokratisierungsdiskussion ihr empirisches Material überwiegend aus den drei klassischen Fällen Argentinien, Brasilien und Chile ableitet, in denen Guerilla im Demokratisierungsprozeß keine oder eine sehr untergeordnete Rolle spielte, so wird klar, daß Guerilla für den traditionellen Demokratisierungsrahmen als dysfunktional und vernachlässigbar gelten mußte. Dann schien es wohl, daß den „Rest“ die Weltenwende von 1989 schnell besorgen und das „Ende der Geschichte“ auch das Ende der Guerilla einschließen würde. Doch zumindest in vier Ländern (Guatemala, Kolumbien, Peru und zunächst auch in El Salvador) überdauerte eine besonders persistente und machtpolitisch ernstzunehmende Guerilla selbst diesen weltgeschichtlichen Bruch. Damit stellten sich einige Fragen neu: Wie ist der Zusammenhang von Regimetyp und Langlebigkeit von Guerilla zu erklären? Selbst wenn es richtig ist, daß – wie in Kuba und Nikaragua – nur der patrimoniale Autoritarismus eines Batista oder Somoza den Sieg von Guerilla wahrscheinlich macht, wie ist dann die Korrelation von Regime-Hybriden in den obengenannten Ländern, die als weder demokratisch noch autoritär einzustufen sind, und der besonderen Persistenz der Guerilla zu erklären? Ist die Guerilla einfach ein Anachronismus oder haben diese „Dinosaurier“ lateinamerikanischer Politik Wurzeln, die gerade deshalb schwer zu kappen sind, weil sie vor allem jenen Bereich von Gesellschaft durchziehen, in dem formaldemokratische Ordnungsmuster nicht greifen – die Zivilgesellschaft? Zumindest vor der friedlichen Akzeptanz der eigenen Wahlniederlage durch die Sandinisten und dem Friedensschluß von Chapultepec für El Salvador galt Guerilla per se als unversöhnlicher hardliner, mit dem ein Pakt zu schließen schlechthin unmöglich ist, weil er nicht demokratiefähig sei. Die Möglichkeit, daß sich Guerilla vom hardliner zum softliner wandeln kann bzw. daß sie angesichts langjähriger Friedensverhandlungen auch zuvor softliner-Tendenzen besessen haben muß, wurde nicht avisiert. Die Wahlniederlage der Sandinisten, die Aufgabe ihres revolutionären Maximalanspruches durch die salvadorianische FMLN, die „Dekadenz“ zumindest von Teilen der kolumbianischen Guerilla, die Gefangennahme von Abimael Guzman, des Kopfes des peruanischen Sendero Luminoso, der ökonomische Überlebenskampf Kubas – und dies alles gesehen vor dem Hintergrund des Zusammenbruches des europäischen Sozialismus – schienen auch für Lateinamerika den Ausbruch eines neuen Zeitalters zu bedeuten, in dem selbst die Utopie der Linken nur noch unbewaffnet, als „utopia unarmed“ [2] vorstellbar war.
Erst als zu Beginn des Jahres 1994 die chiapanekischen Zapatistas in Mexiko in kürzester Zeit eine enorme Mobilisierung erreichten, bis zu 38 Munizipien kontrollierten und die Regierung in einem Zeitraum zu Verhandlungen herausforderten, dessen Kürze von 58 Tagen in Lateinamerika bis dahin keinen Vergleich kannte, legitimierte dies auch eine ausgewogenere Sicht auf die lateinamerikanische Guerilla insgesamt, einschließlich ihrer Präsenz nach der lateinamerikanischen und globalen „Wende“ am Übergang zu den 90er Jahren. Nicht nur, daß dieser Guerilla-Aufbruch in einem autoritären Regime sui generis stattfand, das gerade erste, sehr zaghafte Demokratisierungsschritte aufzuweisen hatte, brachte die Frage nach dem Zusammenhang von Guerilla und Demokratisierung(sbedarf) unmittelbar auf die Tagesordnung. Es war auch die Prioritätensetzung der Zapatistas selbst, die in Lateinamerika erstmals so stark zugunsten von Demokratisierung vorgenommen und gleichzeitig so wenig mit der Eroberung der staatlichen Zentralgewalt verknüpft wurde. Von der Aufmerksamkeit, die den Zapatistas zuteil wurde, weitete sich der Blick auch zugunsten der anderen noch aktiven Guerillas. Bei näherer Betrachtung wird dabei deutlich: Hat Guerilla mit der Ausnahme von Costa Rica zu verschiedenen Zeiten seit der kubanischen Revolution in allen lateinamerikanischen Ländern einen mehr (Mittelamerika, Kolumbien, Argentinien, Uruguay, Venezuela, Peru) oder weniger (Paraguay, Ekuador, Bolivien, Chile) großen Stellenwert besessen, so ist sie gegenwärtig zumindest in Guatemala, Kolumbien, Peru, Mexiko und in El Salvador (dort wegen seiner unmittelbaren politischen Nachwirkungen) ein politisches Problem von gesamtnationaler Dimension. Der in den genannten Ländern bestehende Zusammenhang zwischen einer langdauernden und nie vollendeten Transition zur Demokratie und der Persistenz von Guerilla als Langzeit-Phänomen und einer damit verbundenen besonderen Eigendynamik dieses Phänomens ist offensichtlich.
Um diesen Zusammenhang reflektieren zu können, sollte als Minimalkonsens zunächst vorausgesetzt werden, daß Guerilla ein normaler politischer Akteur ist und in den genannten Ländern – selbst solange sie als hardliner auftritt – einen wichtigen Stellenwert im Demokratisierungsprozeß besitzt. Zum einen kann gefragt werden, warum denn diese – vor dem Hintergrund der klassischen Militärdiktaturen – vergleichsweise formal-demokratischen Regime-Hybride der Guerilla mit demokratischen Integrationsangeboten nicht beizukommen vermögen, zum anderen, ob es nicht im Gegenteil gerade der Guerilla historisch „zufällt“, als einer der Akteure und durch eigene Paktfähigkeit letztlich Demokratisierung zu befördern, selbst wenn sie subjektiv andere bzw. weiterreichende Ziele verficht. Zugespitzt formuliert, geht es um die Entscheidung, ob Guerilla ein Anachronismus einer vergangenen Epoche und überkommener oligarchischer Strukturen ist, oder ob, wo und unter welchen Bedingungen sie auch im Zeitalter globaler Modernisierung (so wie eine „Neue Rechte“ auch) als konsensfähige „Neue Linke“ in der Lage ist, die Weltenwende „auszubalancieren“ und einen Demokratieschub mit in Gang zu setzen, der einem lang währenden, chronisch defizitären Demokratisierungsprozeß dazu verhilft, den „toten Punkt“ zu überwinden.
Guerilla – Definition eines Akteurs
Will man sich einer Antwort auf diese Fragen annähern, so ist zunächst von ideologiegeleiteter Verzerrung des politischen Phänomens Guerilla Abstand zu nehmen. Es gibt in Lateinamerika wahrscheinlich keinen politischen Akteur, dessen Einschätzung stets so von vorauseilenden Werturteilen geprägt war, wie die Guerilla. In der Mehrzahl der Fälle wurde ihr der Status eines „normalen“ und nüchtern zu betrachtenden politischen Akteurs aberkannt. Entweder wurde der Guerrillero a priori zum hombre nuevo, zum „Gewissen der Gesellschaft“ verklärt oder zum Terroristen, ja Faschisten, abgestempelt. Streng genommen, nähern sich beide Ansätze der Guerilla als einem Phänomen der coyuntura bzw. als Störfaktor, der zu vermeiden, zu vernichten sei und mit dem man sich nicht arrangieren muß.
„Heiligsprechung“ des Guerillero ist genauso wie „Kriminalisierung“ nüchterner politischer Analyse abträglich. „Entkriminalisierung“ und „Entzauberung“ der Kombattanten sollte dagegen bestimmend sein. Der Guerillero befindet sich gewissermaßen im Spannungsfeld zwischen Soldat, Politiker (darunter Diplomat) und (Sozial)Bandit. In seiner Attitüde kann er in jede der drei Richtungen „kippen“. Dieses Spannungsverhältnis zwischen den drei Optionen wird ganz entscheidend von der entsprechenden Widerstandskultur im Land geprägt. Es ist – wie bereits angedeutet – ein entscheidender Unterschied, ob Guerilla als Aufstandsprojekt (El Salvador) oder als ein Instrument zur Verteidigung des Bauern vor einem permanenten Terror dient, und der „Beruf“ des Guerillero ergriffen wird wie der eines Anwaltes oder Schuhmachers (Kolumbien). Guerilla widerspiegelt in einem „Mikrokosmos“ viele der üblichen zivilgesellschaftlichen Relationen Lateinamerikas: Klientelismus, Caudillismus, machismo, Bürokratismus, aber auch jene autochthonen indigenen Demokratie-Praktiken, die statt des Individuums die comunidad, statt Mehrheitsentscheidungen den Konsens und statt verfestigtem leadership das Rotationsprinzip in den Mittelpunkt stellen. Das Verständnis von Guerilla als einem zivilgesellschaftlichen Mikrokosmos ist sowohl der Entkriminalisierung als auch der Entzauberung des Guerillero dienlich.
Guerilla und politische Kultur
Fragen der politischen Kultur innerhalb der Guerilla treten vor allem dann an das Licht der Öffentlichkeit, wenn es um den Wiedereintritt des ehemaligen Guerillero ins Zivilleben geht. Zu diesen Fragen gehören: Auf welche Weise kann sich ein ehemaliger Guerillero vom Paternalismus der Guerilla lösen, um nun ein individuell freibestimmtes Leben zu führen? Unter welchen Bedingungen wird er die Schwierigkeiten einer Arbeitssuche oder des Nachholens von Bildung vorziehen gegenüber dem leichteren Weg des Banditentum? Wie schnell kann diese Neigung für politische Zwecke mißbraucht werden? Wie ist es psychologisch zu bewältigen, daß man sich in dieselben politischen Institutionen, die man einst bekämpft hat, nun integrieren soll oder darf? Wird die Relevanz solcher Probleme geleugnet, so bleibt ein wichtiger Nährboden für politische Gewalt nach einem Friedensschluß unbelichtet und euphemistische Einschätzungen von Demokratisierungsprozessen liegen dann auf der Hand. El Salvador mit seiner Sombra Negra, den Maras und dem Wiederaufleben der Todesschwadrone ist dafür zur Zeit das aussagekräftigste Beispiel.
Das Verhältnis einer Guerilla zur (übrigen) Zivilgesellschaft und ihrer Demokratisierung ist entscheidend für ihre Legitimität. Während sich viele Guerillaorganisationen der Vergangenheit gegenüber diesem Problem relativ indifferent verhalten haben, so bietet jüngere Vergangenheit zwei Extrembeispiele: Der Sendero Luminoso betrieb eine Vietnamisierung der Gesellschaft, mit der Zivilgesellschaft systematisch vernichtet wurde (30.000 Tote). Zunächst aber hatte der Sendero auch zivil-gesellschaftliche Strukturen genutzt, um sich selbst zu legitimieren. Dies geschah vornehmlich durch den Mechanismus des gamonalismo, bei dem der gamonal – und nun der Sendero – einem strengen Vater gleicht, der beschützen, aber auch bestrafen darf und im Gegensatz zum Staat präsent und leicht verfügbar ist.
Ganz anders dagegen ist die Attitüde der Zapatistas zu bewerten, die regionale Forderungen immer an gesamtnationale Demokratisierung und Demokratisierung der Zivilgesellschaft banden. Die chiapanekischen Zapatistas sind somit das Gegenbeispiel par excellence zum Sendero Luminoso: Die folgende Sentenz des Subcomandante Marcos mag dafür als schöne Metapher gelten: „Si quieren saber que rostro hay tras elpasamontanas, es muy sencillo: tomen un espejo y veanlo.“ [3] (1) So ist es nur folgerichtig, daß sich der EZLN im Unterschied auch zu anderen lateinamerikanischen Guerillabewegungen, zur „Zivilgesellschaft in Waffen“, und nicht zur Avantgarde, erklärt. Dies verstand sich in Verbindung mit der im August 1994 gebildeten Convención Nacional Democrática, die auch als „Parlament der mexikanischen Zivilgesellschaft“ angesehen wurde. Das Referendum vom August 1995, mit dem die Zivilbevölkerung u.a. nach ihrer Meinung zur politischen Perspektive des EZLN befragt wurde, ist beispiellos in der Guerilla-Geschichte Lateinamerikas.
In Guatemala hatte die Guerilla lange Zeit ein so asketisches Verhalten [4] an den Tag gelegt, daß der Zugang zur Tagtäglichkeit der Zivilgesellschaft erschwert wurde. Dann – so meint Shetemul [5] -habe sich ein neuer Comandante-Typ durchgesetzt, ein caballero im Smoking, der über die Champs Elysees wandelt und im UNO-Sitz in Genf seinen Kaffee trinkt und der mit dem Mythos des hungrigen und idealistischen barbudo nicht mehr viel gemein hat. Was hier damit gesagt sein soll, ist der generelle Verweis auf die Tendenz zum neuen Guerillero-Typus, dem Diplomaten, der vor allem in jenen Ländern den Kontakt der Guerilla zur übrigen Zivilgesellschaft erschwert, wo einerseits das diplomatische Parkett der Friedensverhandlungen die Selva verdrängt und wo andererseits die Comandancia General über lange Jahre im Ausland wirkt.
Guerilla – eine Perspektive?
Jorge Castaneda, der zweifellos dem mexikanischen PRD und dem brasilianischen PT seine größten politischen Sympathien entgegenbringt, hat seinem jüngst vieldiskutierten Buch den bedeutsamen Titel „Utopia Unarmed“ gegeben. Pablo Monsanto von den guatemaltekischen FAR meinte hingegen noch 1992: „Die Guerilla ist kein Druckmittel, sondern die Hauptachse der revolutionären Strategie.“ Beide Aussagen kennzeichnen nicht nur die Breite des strategischen Spektrums der lateinamerikanischen Linken, sie bezeichnen auch sehr deutlich das heutige und hier beschriebene Dilemma: Die Guerilla in den analysierten Ländern hat weder triumphiert noch wurde sie besiegt. War es der nikaraguanischen FSLN einst gelungen, den Regimewechsel als Machteroberung zu vollziehen, wovon am Ende – etwas vereinfacht gesagt – „nur“ der Regimewechsel geblieben ist, haben die mexikanischen Zapatistas eine Machteroberung nicht einmal auf ihre Fahnen geschrieben. Beide Beispiele zeigen: Regimewechsel muß(te) in diesen Ländern auch – allerdings nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie – revolutionär herausgefordert werden, um nicht im procedere einer Fassadendemokratie zu versanden. Andererseits hat keine Guerilla nach Kuba ihren revolutionären Anspruch dauerhaft verwirklichen können.
Emiliano Zapata soll einst in resignierender Verwunderung gesagt haben: „Yo, como no soy politico, no entiendo de esos triunfos a medias, triunfos en que los derrotados son los que ganan. „(2) Nicht erst seit der mexikanischen Revolution, deren Protagonist Zapata war, sind es wohl diese „halben“ und ambivalenten Triumphe der Subalternen, die geblieben sind, und die deren „heroischer Illusion“ nie entsprochen haben. Gleichwohl kann es auch Verdienst einer Guerilla sein, dieses „Quentchen“ mehr Emanzipation herausgefordert zu haben. Das Schicksal und die Zukunft der Guerillaverbände, die hier zur Diskussion standen, wird wohl nicht die Revolution, sondern der Pakt zur Demokratisierung sein. Die Fragen, die sich daraus ergeben, sind somit vornehmlich die folgenden: Widerspiegelt die Instabilität der neuen Demokratien und die Persistenz der Regime-Hybride gerade die Tatsache, daß oligarchische Hegemonie verloren, subalterne jedoch nie gewonnen worden ist? Und wird in Lateinamerika Guerilla eben deshalb nun immer in genau diesem „Graben“ kämpfen, zu schwach, in einem endemischen Krieg zu siegen, und zu stark, um in ihm besiegt zu werden? Guerilla-Analysen allein können und sollen diese Fragen selbstverständlich nicht beantworten. Die Demokratisierungsforschung muß sich aber, will sie glaubhaft sein, auch den Marginalfällen der großen „Demokratisierungswelle“ zuwenden. Doch die Marginalfälle werfen gerade diese Fragen mit besonderer Vehemenz auf. Und sie sind noch alle geprägt – von einer Guerilla.
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Bemerkungen:
bandolerismo = Banditentum
Wie eng politische Kultur und politischer Anspruch zusammenhängen, wird auch dann deutlich, wenn Guerilla – wie im Falle des Sendero Luminoso oder tendenziell auch der kolumbianischen FARC – statt sich zur legalen Hegemonie „hinaufarbeiten“ zu können, in die ökonomische Sphäre des Drogenhandels und der Schattenwirtschaft „zurücksinken“. Dabei ist der Guerillero natürlich immer auch ein homo economicus, der zumindest seine eigene ökonomische Subsistenz sichern muß, ob nun nur in den befreiten Zonen oder als Teilhaber des big business. Er kann dies aufgrund seines eigenen illegalen Status nur in der Schattenwirtschqft. Das Drogengeschäft wird auch deshalb zum Hauptbetätigungsfeld, weil damit – angesichts der prekären Lage der cocaleros – rurale Verwurzelung und Unterstützung sowie eine daraus abgeleitete Selbstlegitimierung auch tatsächlich befördert werden kann. Paradoxerweise kann Guerilla selbst auch Konfliktschlichterfunktionen wahrnehmen, beispielsweise zwischen cocalero und Zwischenhändler.
Hinweise:
(1) „Wenn Sie wissen möchten, welches Gesicht sich unter der Skimütze verbirgt, ist es sehr einfach: Nehmen Sie einen Spiegel und schauen Sie es an.“
(2) „Ich, der ich kein Politiker bin, verstehe diese halben Triumphe nicht, Triumphe, in denen die, die geschlagen worden sind, die sind, die gewonnen haben.“
[1]. Zitiert in: R. Castro: „Che, es Granma vamos „. In: America Latina, (1988) 2, S. 4.
[2]. Vgl. J. G. Castaneda: Utopia Unarmed. The Latin American Left after the Cold War. New York 1994.
[3]. M. Duran de Huerta (Hrsg.:) Yo Marcos. Mexico D. F. 1994, S. 49
[4]. Vgl. C. Macias: De las armas a la mesa de negociacion. In: Tierra Nuestra, (1994) 3, p. 3.
[5]. Vgl. H. Shetemul: Metamorfosis de la Guerilla. In: Tierra Nuestra, (1994) 3, S. 6
[6]. Gespräch mit Comandante Pablo Monsanto. In: A. Sterr: Guatemala: lautloser Aufstand im Land der Maya: Interviews, Analysen, Reportagen. Köln 1994, S. 113.
[7]. Zitiert in: A. Aubrey: El Movimiento Zapatista en el continuum de la historia de Chiapas. In: S. Soriano Hernandez (Hrsg.): A proposito de la insurgencia en Chiapas. Mexico D. F., S. 49.