1. Anlaß meiner Meinungsäußerung ist die seit Februar unter Linken geführte Debatte über das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten der Linkspartei im EU-Parlament bezüglich der Menschenrechtspolitik der kubanischen Regierung. Als parteipolitisch nicht gebundener Linker bewegen mich sowohl Inhalt als auch Form der Diskussion, in der es um drei grundsätzliche Werte und Politikinhalte geht, die mir alle am Herzen liegen: Menschenrechte, Solidarität und Glaubwürdigkeit. Die Diskussion darüber halte ich für wichtig und höchst zeitgemäß, da m.E. in allen drei Punkten dringender Klärungsbedarf besteht. Die von mir vertretenen Argumente widerspiegeln natürlich eine ganz persönliche und damit auch subjektive Meinung, speisen sich jedoch aus Erfahrungen und Kenntnissen, die ich als politisch denkender und handelnder Mensch in der DDR, im gesamtdeutschen Staat und in Lateinamerika, darunter auch Kuba, sammeln konnte. Darüber hinaus stütze ich mich auf den Text der entsprechenden Entschließung des Europäischen Parlaments, die gemeinsame Stellungnahmen von fünf Abgeordneten der Linkspartei, die gesonderte Stellungnahme von André Brie, das jw-Interview von Tobias Pflüger, die Entschließung des Parteivorstandes der Linkspartei sowie etliche der in Presse und Internet zugänglichen Beiträge zur genannten Debatte.
2. Daß diese Debatte einen wunden Punkt trifft, machen die Heftigkeit und Emotionalität der meisten Meinungsäußerungen deutlich. Die Debatte halte ich in der Sache für sehr wichtig, in der Form jedoch für kontraproduktiv. Zugespitzt prallen zwei unterschiedliche, polarisierte Standpunkte aufeinander, ohne sachlich aufeinander einzugehen: Menschenrechte first gegen Kuba first. Die Entschließung des Parteivorstandes der Linkspartei versucht die Wogen zu glätten, tendiert aber eher zum Kuba-Pol. Von beiden Polen wird „ideologisiert“, was ich im Interesse der Diskussionskultur unter Linken für wenig hilfreich halte: die „Kubaner“ werfen ihren Kontrahenten „Verrat an der Revolution“, „mangelnde Solidarität“ und „reaktionäres Verhalten“ vor, die Gegenseite kontert mit dem Stalinismusvorwurf, „Rückkehr zu SED-Zeiten“, „Dogmatismus“ etc. Beides halte ich in dieser Schärfe für übertrieben und unangebracht. Da ich wenig Lust habe, mich an diesem unproduktiven Spiel zu beteiligen, konzentriere ich mich im folgenden auf die inhaltlichen Kernpunkte, die hinter beiden Polen stehen und bemühe mich dabei um einen möglichst sachlichen Ton.
3. Zum Menschenrechtsargument: Der Verweis auf die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte ist nicht nur richtig und legitim, sondern für die Glaubwürdigkeit linker Politik auch von zentraler Bedeutung. Aus diesem Blickwinkel kann ich das Anliegen, das hinter der Zustimmung zur jüngsten Kuba-Resolution des Europäischen Parlaments und dem aktuellen Vorstoß, zum Thema „Menschenrechte“ einen bestätigenden Parteitagsbeschluß zu erreichen, nachvollziehen. Die persönliche Erfahrung mit undemokratischen Praktiken zu DDR-Zeiten, die André Brie anführt, als zusätzliches Motiv zu nennen, kann ihm keiner verwehren oder gar vorwerfen, im Gegenteil. Auch, daß die Abgeordneten ihren Überzeugungen und ihrem Gewissen folgen, ist ihr gutes Recht. All das sollte Konsens unter Linken sein. Auf dieser Basis kann man dann den sachlich orientierten Meinungsstreit führen – hart in der Sache, aber ohne persönliche Unterstellungen.
Meine Einwände beziehen sich nicht auf das Anliegen, welches ich teile, sondern auf die konkreten politischen Schlußfolgerungen, wie sie sich im Abstimmungsverhalten der drei Abgeordneten zeigen. Im einzelnen geht es mir dabei um folgende Argumente:
a) Die Unteilbarkeit und Universalität der Menschenrechte sind ein erstrebenswertes Ideal, für das sich alle Linken einsetzen sollten, das aber in keinem Land der Erde vollständig erreicht wird. Grad und Qualität der Durchsetzung von Menschenrechten können in den einzelnen Ländern und Regionen stark differieren, wobei sich in vereinfachender Regel feststellen läßt, daß in den westlichen Industrienationen vor allem soziale Menschenrechte, in den damaligen sozialistischen Ländern vor allem bürgerliche Freiheitsrechte und im globalen Süden zumeist beide verletzt werden (bzw. wurden). Für die jeweils Betroffenen hat sicher jenes Menschenrecht, welches ihnen im konkreten Fall vorenthalten wird oder welches für sie von existentieller Natur ist, Priorität: Für die „Damen in Weiß“, auf die sich die Resolution des Europäischen Parlaments bezieht, ist folglich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Reisefreiheit zentral, für einen Arbeitslosen hingegen das Recht auf Arbeit und für einen Bürgerkriegsflüchtling das Recht auf (Über-)Leben.
b) Die für die Debatte inhaltlich interessante und relevante Frage ist, ob das Prioritätenargument über die individuelle Ebene hinaus Gültigkeit beanspruchen kann. Ich würde diese Frage bejahen, und zwar aus drei allgemeingültigen Gründen:
Erstens gibt es wie gesagt überall Defizite bei der Umsetzung von Menschenrechten. Die geforderte Universalität ist derzeit nirgendwo Realität, sondern bestenfalls eine hehrer Anspruch. Es ist deshalb notwendig, den konkreten Realisierungsstand von Menschenrechten zu analysieren: Was ist davon umgesetzt und was ist warum nicht umgesetzt.
Zweitens gibt es eine „ob jektiv“ begründete Hierarchie der Menschenrechte. Ich würde dabei allerdings nicht nach dem herkömmlichen Muster unterscheiden (politische, soziale, ökonomische Menschenrechte etc.), sondern nach ihrem Beitrag und Stellenwert, den sie für das übergreifende und universelle Ziel, der Wahrung bzw. Herstellung der Würde des Menschen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, haben. Mein Vorschlag ist, zwischen existentiellen Menschenrechte, d. h. dem Recht auf Leben und Lebensunterhalt, funktionalen Menschenrechten, die Demokratie, Organisationsfreiheit, Redefreiheit, Recht auf umfassende Bildung etc. beinhalten, und ausgestaltenden Menschenrechten, zu denen ich Reisefreiheit zählen würde, zu unterscheiden. Allen gemeinsam ist, daß sie einen Beitrag zur Durchsetzung und Wahrung der Würde aller Menschen leisten, wobei dieser Beitrag in der Wertigkeit (Qualität) für die Umsetzung dieses Zieles objektiv unterschiedlich ist. Angelehnt an Marx heißt dies, daß erst, wenn das grundlegende Menschenrecht auf Leben und ausreichenden Lebensunterhalt gesichert ist, der Mensch in der Lage ist, alle anderen Rechte (voll) wahrzunehmen. Allerdings kommt den funktionalen Menschenrechten dabei die wichtige Aufgabe zu, die entscheidenden Möglichkeiten zur Erreichung dieses Zieles zu schaffen.
Drittens gibt es gerade in der Menschenrechtsfrage kulturell, ideologisch und politisch bedingte Präferenzen derjenigen, die sich für die Universalität der Menschenrechte einsetzten (subjektive Ebene). Diese subjektiv geprägte Prioritätensetzung betrifft Umfang, Stellenwert und Reihenfolge der Umsetzung von Menschenrechten. Gerade weil Menschenrechte nicht mit einem Schlag universell durchsetzbar sind, ist jede politische Kraft gezwungen (ob sie will oder nicht), diese Prioritäten entsprechend ihrer Werte und Interessen für sich zu bestimmen.
An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, daß derzeit das westliche Verständnis von Menschenrechten dominiert. Ungeachtet allen Fortschritts, der diesem Verständnis gerade in puncto Menschenrechte innewohnt und der auch für Linke nicht hintergehbar ist, bleibt die westliche Sicht auf Menschenrechte zugleich eine eingeschränkte Sicht. Sie wird bestimmt durch spezifische geschichtliche Erfahrungen, die für die nichtwestliche Welt so nicht wiederholbar sind, durch politische Interessen, durch Ausblendung sozialer Unterschiede und durch einen globalen Machtvorsprung des Westens, den dieser nicht preiszugeben bereit ist. Westlich definierter Universalismus ist ein Widerspruch in sich – dies gilt auch und gerade für den Anspruch des Westens, die Universalität von Menschenrechten zu verkörpern oder gar verwirklicht zu haben.
c) Was bedeutet dies nun für linke Politik? Für erstrangig und zentral halte ich die Bekräftigung des über das linke Spektrum hinausgehenden Standpunktes, daß die Herstellung und Wahrung der Würde aller Menschen oberstes Ziel von Menschenrechtspolitik ist und daß die sich daraus ableitenden Menschenrechte ihrem grundsätzlichen Anspruch nach universell und unteilbar sind. Ausgehend davon besteht die Aufgabe linker Politik darin, die grundsätzlichen und konkreten Hindernisse für die Erreichung dieses Ziels zu benennen sowie Strategien vorzuschlagen, wie diese Hindernisse zu beseitigen oder zu überwinden sind. Spezifisch linkes Anliegen sollten dabei folgende Punkte sein:
Erstens den umfassenden, über das derzeit dominierende westliche Verständnis hinausgehenden Charakter der Menschenrechte immer wieder zu betonen, d.h. zum Kanon der Menschenrechte gehören politische Menschenrechte genauso wie soziale und ökonomische.
Zweitens die grundsätzlichen, systemimmanenten Hindernisse konkret zu benennen, die aus dem Kapitalismus resultieren und die verhindern, daß sich Menschenrechte universell, unteilbar und umfassend durchsetzen lassen. Würde und Selbstbestimmung für alle sind mit kapitalistisch bedingter Ausbeutung, Ausgrenzung und Fremdbestimmung prinzipiell unvereinbar.
Drittens im Ringen um die Durchsetzung der Menschenrechte im Kapitalismus eigene Prioritäten zu setzen, wobei existentielle Menschenrechte an oberster Stelle stehen sollten. Wenn im linken Selbstverständnis Menschenwürde und Selbstbestimmung Zielpunkt von Menschenrechtspolitik sind, dann impliziert dies natürlich, daß Bürger- und Freiheitsrechte unverzichtbarer Bestandteil dieser Politik sind. Die genannten Rechte sind in Ausübung und Umsetzung jedoch nicht abstrakt (kein Wert an sich), sondern darauf gerichtet, einen optimalen Beitrag zur Realisierung des obersten Ziels (Würde, Selbstbestimmung) und der obersten Priorität (Recht auf Leben) zu leisten.
Viertens sollte linker Menschenrechtspolitik immer die konkrete Analyse von Interessen, Kräfteverhältnissen, sozialer Lage und Wirkung zugrunde liegen.
In der politischen Praxis sind diese Prinzipien natürlich nicht eins zu eins umsetzbar, sie sollten aber ungeachtet dessen Richtschnur sein. Wie dies im konkreten Fall der EU-Resolution zu Kuba aussehen könnte, möchte ich deshalb im folgenden zu skizzieren versuchen.
4. Zu Kuba: Am Anfang sollte hier die Feststellung der nicht zu leugnende Tatsache stehen, daß auch in Kuba Menschenrechte verletzt werden. Die für Linke entscheidende Frage ist jedoch, wie man diese bewertet und welche politischen Konsequenzen man daraus ableitet. Aus meiner Sicht sind dabei folgende Fragen zu beantworten:
a) Wie ordnet sich Kuba auf der Weltkarte der Menschenrechte ein? Für diese Einordnung sind vier Vergleichskoordinaten relevant:
Erstens der Vergleich innerhalb des globalen Südens im allgemeinen und innerhalb Lateinamerikas im speziellen. Gemessen an seinen ökonomischen Möglichkeiten und seinen politischen Spielräumen steht Kuba bei der Durchsetzung sozialer und kultureller Menschenrechte (Recht auf Arbeit, Gesundheit und Bildung) an vorderster Stelle und leistet darüber hinaus durch die Entsendung von Ärzten, die kostenlose Ausbildung von Studenten aus anderen Ländern des Südens und durch unentgeltliche Katastrophenhilfe einen wichtigen Beitrag zu Verbesserung der Menschenrechte in anderen Ländern. Gewalt und Armut, die besonders in Lateinamerika die wichtigste Quelle von Menschenrechtsverletzungen darstellen, sind in Kuba weitgehend ausgetrocknet.
Zweitens der Vergleich mit der kubanischen Vergangenheit. In diesem Punkt gibt es weitgehend Konsens, daß die Menschenrechtssituation nach der Revolution eine wesentlich bessere ist als unter der Batistadiktatur. Zwar gab es vor 1959 auch temporäre Demokratisierungsversuche, die aber alle an der neokolonialen Realität scheiterten, wofür die USA den Hauptteil der Schuld trugen.
Drittens der Vergleich mit dem kapitalistischen Westen. Geht man davon aus, daß der Westen über weitaus bessere materielle Möglichkeiten verfügt und aus einer Reihe von Gründen die Prioritäten bei der Umsetzung von Menschenrechten anders als Kuba setzt, kann im direkten Vergleich durchaus von einer gleichrangigen Umsetzung der Menschenrechte ausgegangen werden. In beiden Fällen sind deutliche Defizite zu erkennen, die allerdings auf unterschiedlichen Feldern liegen und je nach politischer Präferenz oder Interessenlage unterschiedlich bewertet und gewichtet werden. In beiden Fällen sind die existentiellen Menschenrechte im wesentlichen gesichert, bei den funktionalen Menschenrechte legt der Westen den Schwerpunkt auf die individuellen Freiheitsrechte, die jedoch im Zuge der Terrorismusbekämpfung zunehmend eingeschränkt werden, während Kuba bei den sozialen Menschenrechten vorn liegt. Die Defizite bei den ausgestaltenden Menschenrechten sind wohl bei Kuba größer, was jedoch bei Einbeziehung der Menschenrechte von Langzeitarbeitslosen, Migranten und anderen „Randgruppen“ im Westen stark zu Gunsten Kubas relativiert wird.
Viertens der Vergleich zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Von linker Seite können hinsichtlich des Maßstabs zur Bewertung der Menschenrechtsituation in Kuba zwei „Ideale“ geltend gemacht werden, die eigentlich zusammenfallen sollten, in der historischen Realität aber in einem manchmal extremen (Stalinismus) Spannungsverhältnis gestanden haben: Sozialismus und Demokratie. Beide „Ideale“ sind m.E. bestenfalls bedingt als Maßstab für die aktuelle Situation in Kuba geeignet: Kuba versteht sich zwar als sozialistisches Land, kann diesen Anspruch aber derzeit aus einer Reihe von Gründen, die im nächsten Punkt erläutert werden, nicht oder nur sehr begrenzt einlösen; in der Frage der Demokratie hängt die Einschätzung von der Definition und Kriterien von Demokratie ab. Legt man die Maßstäbe westlicher Demokratie an, dann gibt es in Kuba sicherlich ein erhebliches Demokratiedefizit, man kann ein solches Herangehen jedoch von drei Seiten in Frage stellen:
– Jene Länder, die mit Kuba am ehesten vergleichbar sind, d.h. die Länder Lateinamerikas, gelten im westlichen Verständnis gemeinhin als demokratisch. Eine realistische, nach wissenschaftlichen Kriterien vorgenommene Analyse zeigt jedoch, daß es sich dabei bestenfalls um „defekte“ Demokratien oder Regimehybride handelt, in denen der Rechtsstaat inexistent ist, autoritäre Enklaven existieren, sich Demokratie größtenteils auf den Wahlakt reduziert und das Wahlrecht von einem großen Teil der Bevölkerung nicht wahrgenommen werden kann.
– Selbst die westlichen Demokratien, die für sich beanspruchen, den universell gültigen Maßstab für Demokratie zu verkörpern, werden infolge der neoliberalen Globalisierung ausgehöhlt, ausgehebelt und unterlaufen, so daß auch dort in zunehmendem Maße Demokratiedefizite zu verzeichnen sind.
– Kuba selbst nimmt für sich das Recht in Anspruch, einen alternativen Typus von Demokratie zu institutionalisieren, die partizipative Demokratie. Geht man davon aus, daß Demokratie in erster Linie dazu dient, Gestaltungsmacht und Teilhabe für die bisher Subalternen zu ermöglichen, dann kommt die kubanische Variante von Demokratie der Verbindung dieser beiden Prinzipien näher als die westliche Demokratie.
Summa summarum nimmt Kuba auf der Weltkarte der Menschenrechte einen vorderen Platz ein, der nur dadurch geschmälert wird, daß bei der Durchsetzung der individuellen Freiheitsrechte deutliche Einschränkungen bestehen.
b) Durch welche Spielräume und Prioritäten wird die kubanische Menschenrechtspolitik bestimmt? Die Spielräume Kubas werden durch folgende Faktoren in gravierendem Maße eingeschränkt:
Erstens versucht Kuba, eine alternative Gesellschaft, den Sozialismus, aufzubauen, wobei schon der Anspruch, dies in einem Land realisieren zu wollen, ein Widerspruch in sich ist. Aufgrund seiner historischen Erfahrungen und der durch die Revolution von 1959 gefällten Grundsatzentscheidung stehen dabei die sozialen Menschenrechte und die sich von westlichen Vorgaben abgrenzende partizipative Demokratie im Mittelpunkt.
Zweitens ist Kuba gezwungen, dies in einem extrem feindlichen Umfeld, mit geringen Ressourcen und einem hohen Maß an Verwundbarkeit zu versuchen. Im einzelnen wirkt sich das Zusammenwirken von US-Blockade, permanenter Invasionsgefahr, ökonomischer Verwundbarkeit (Zuckerrohr als anfällige Monokultur, Ölabhängigkeit, Insellage), von Instrumentalisierung der Menschenrechtsfrage durch die westlichen Industrieländer, Dritte-Welt-Status und Nähe zu den USA äußerst ungünstig auf die Realisierung der Menschenrechte aus.
Drittens steht die Regierung beim Umgang mit der Opposition vor einem schwerwiegenden Dilemma, was aber zugleich auch umgekehrt gilt. Das Dilemma beider Seiten liegt darin begründet, daß sich das Land de facto im Ausnahme- und Belagerungszustand befindet und sich jeder Oppositionsversuch der Gefahr einer Instrumentalisierung durch die USA ausgesetzt sieht. Die Opposition hat in dieser Situation schwerwiegende Legitimierungsprobleme und muß sich glaubwürdig von den USA und dem Exil in Miami abgrenzen, was ihr aber angesichts der objektiv sehr großen Instrumentalisierungsgefahr nur selten gelingt. Umgekehrt liegt für die Regierung genau in der jederzeit drohenden Instrumentalisierung ein unkalkulierbares Risiko, dem sie zumeist durch präventive Verbotsmaßnahmen und Festnahmen zu begegnen sucht. Massives Mißtrauen auf beiden Seiten, Schwankungen in der Haltung der Regierung gegenüber der Opposition und ernsthafte Glaubwürdigkeitsprobleme seitens der Opposition sind die unvermeidliche Folge. Verschärft wird die Situation noch durch die intransigente Haltung des Exils in Miami, das unverhohlen mit Revanche und Restauration droht, und durch die Verschärfung der Anti-Kuba-Politik der USA, die schon unter Clinton begonnen hatte und von Bush II weiter forciert wird. Nicht zuletzt der Verlauf der Rekapitalisierung in Osteuropa bestätigt die schlimmsten Befürchtungen der kubanischen Führung.
Alle beteiligten Akteure – die kubanische Regierung, das kubanische Volk, die kubanische Opposition, die Linken außerhalb Kubas, aber auch die äußeren Feinde der kubanischen Revolution – stehen vor jeweils anderen Dilemmata, die sie nur durch eine Kosten-Risiko-Nutzen-Abwägung zur Bestimmung des kleineren Übels für sich auflösen können. Dabei steht jeder dieser Akteure in Bezug auf die anderen und für sich vor der Aufgabe, die Prioritäten richtig zu setzen. Bevor wir dies für die Linke zu klären versuchen, ist es erforderlich, die grundsätzliche Bedeutung Kubas für linke Politik zu umreißen.
c) Welche Bedeutung hat Kuba für linke Politik? Für die Kubaner selbst ist von zentraler Bedeutung, daß die Revolution ein originärer Akt der Selbstbestimmung war und ist, der ihre Würde als Nation und als ehemals Subalterne hergestellt hat. Die kubanische Revolution stellt die größte Errungenschaft in der Geschichte des kubanischen Volkes dar und verleiht dem politischen System Kubas seine Legitimität. Dies sollte für alle, die linke Politik machen wollen, nichthintergehbare Ausgangsbasis bei der Bestimmung ihrer Prioritäten sein.
Die Bedeutung Kubas kann man darüber hinaus zeitlich und inhaltlich wie folgt umreißen:
Erstens stellt Kuba aus historischer Sicht einen Restposten des sozialistischen Lagers dar, der trotz extrem ungünstiger Bedingungen überlebt und an seiner antikapitalistischen Orientierung festgehalten hat. Kuba belegt, daß die Implosion des Sozialismus nicht zwangsläufig war.
Zweitens besteht die aktuelle Bedeutung Kubas darin, daß es schon allein durch seine Existenz den Spielraum für alternative Entwicklung in Lateinamerika erweitert.
Drittens besteht seine in die Zukunft reichende Bedeutung darin, daß es zwar nicht mehr Modell ist, aber dennoch den wichtigsten Aktivposten im Kampf gegen die neoliberale Globalisierung darstellt. Kuba ist der lebendige Beweis, daß Alternativen selbst im „Hinterhof“ trotz neoliberaler Hegemonie und imperialer Politik seitens der einzigen Weltmacht USA möglich sind. Auf der Suche nach antikapitalistischen Alternativen ist Kuba in gesellschaftlicher Hinsicht bisher am weitesten vorangekommen. Das kann sich zwar ändern, trotzdem bleibt der Erfahrungsschatz der kubanischen Revolution, Fehler eingeschlossen, der vielleicht wichtigste Beitrag für die Realisierung weitergehender Schritte.
d) Welche Argumente führen die Resolutionsbefürworter an? Die Hauptargumente lauten politische Glaubwürdigkeit und Abwendung größeren Schadens von Kuba. Beides sind wichtige, ernstzunehmende und nachvollziehbare Argumente. Auf das erstgenannte beruft sich vor allem André Brie. Er führt an, daß die Linke generell und besonders die aus dem Realsozialismus hervorgegangene Linke in der Pflicht steht, Menschenrechtsverletzungen überall und wiederum mit besonderem Nachdruck, wenn sie im „eigenen Lager“ begangen werden, zu kritisieren. Das Recht und die Notwendigkeit einer solchen Kritik soll hier nicht bestritten werden. Ich habe aber dennoch zwei m.E. gravierende Einwände vorzubringen: Erstens stelle ich in Frage, ob die dafür gewählte Form die geeignete gewesen ist, und zweitens besteht linke Glaubwürdigkeit nicht allein und auch nicht primär darin, Kritik zu üben. Zur Kritik gehört gleichermaßen Solidarität mit dem „eigenen Lager“. Kritik sollte immer solidarisch sein und Solidarität immer kritisch. Im konkreten Fall hätte dies bedeutet, zu fragen, wem man Glaubwürdigkeit schuldig zu sein glaubt und worin linke Glaubwürdigkeit besteht. Das zweite Argument besteht darin, daß man mit Zustimmung bzw. Stimmenthaltung gegenüber einer milderen Variante der Verurteilung Kubas verhindern wollte, daß die EU gegenüber Kuba Sanktionen verhängt, was ursprünglich die Absicht der konservativen Parlamentarier gewesen sei. Ich kenne die Arbeitsweise der Fraktionen im EU-Parlament nicht gut genug, um mir eine eindeutige Meinung dazu bilden zu können. Ich frage aber, ob man das ganze dann nicht vorher mit der kubanischen Führung hätte diskutieren können. Diese hätte dann selbst sagen können, was für sie der größere Schaden gewesen wäre. Mein Hauptproblem mit den Befürwortern besteht aber darin, daß sie offensichtlich nicht die Wirkung ihres Verhaltens bedacht hatten. Was haben sie letztendlich erreicht: Die einseitige Form der Kritik an Kuba hat sicher nicht die Dialogbereitschaft der kubanischen Regierung befördert, die Situation der Dissidenten hat sich nicht verbessert, diejenigen, für die Kuba nichts weiter als eine menschenrechtsfeindliche Diktatur ist, fühlen sich von links bestätigt. Das einzig positive ist, daß eine Diskussion unter Linken über wichtige Fragen in Gang gekommen ist, die aber in ihrem bisherigen Verlauf wenig produktiv war, was jedoch die Schuld beider „Pole“ ist. In Abwägung aller hier aufgeführten Argumente kommt, so glaube ich zumindest, jeder ehrliche Kritiker zu dem Schluß, daß die Zustimmung zu dieser Resolution, die die komplexe Menschrechtsfrage in Kuba auf einen Punkt, nämlich den der Ausreise der „Damen in Weiß“ reduziert, kontraproduktiv war. Eine solidarische Kritik wäre auch in Form einer eigenen Resolution der linken Fraktion möglich gewesen. Zumindest aber wäre Stimmenthaltung der Problematik angemessener gewesen als Zustimmung.
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