Eine Einschätzung zu den aktuellen Entwicklungen von zivilgesellschaftlichen Aktivistinnen
Seit Jahren bringt das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn, junge Nachwuchsführungskräfte aus verschiedenen Schwellenländern zusammen, um über unterschiedliche Themen von globaler Reichweite zu diskutieren und neue Perspektiven kennen zu lernen. Neben der Entwicklung gemeinsamen Wissens tauschen sich die Eingeladenen auch über aktuelle Entwicklungen in ihren Ländern aus. An dem Programm in Bonn nahmen dieses Jahr aus Mexiko Nancy Landa, Beraterin im Bereich Migration, Bertha González, u.a. Anwältin und Feministin, sowie Edna Martínez, Mitarbeiterin im Umweltministerium, teil.
Eine komplexe Lage
Seit spätestens September 2014 ist Mexiko hierzulande durch das Verschwinden von 43 Studentinnen und Studenten im Bundesstaat Guerrero in den internationalen Schlagzeilen. Aber auch zuvor bestimmten Nachrichten von brutalen Morden an Frauen, Abrechnungen zwischen Drogenkartellen oder die Bildung von lokalen Milizen die Nachrichtenlage aus dem mittelamerikanischen Land. Dabei geschehen in Mexiko auch jenseits dieser Schreckensmeldungen berichtenswerte Dinge.
In vielen Bundesstaaten engagieren sich Bürgerinnen und Bürger für unterschiedlichste Belange: von der Aufklärung der repressiven Vergangenheit über die Bearbeitung der jüngsten Gewalttaten, den Schutz der Umwelt bis zum Kampf um die Rechte indigener Gemeinschaften, lassen sich eine ganze Reihe von Aktivitäten beobachten: „Es gibt viel Aktivismus auf verbaler Ebene. Dafür ist Mexiko weltweit in den Schlagzeilen. Die Leute machen viel Krach, weil sie unzufrieden sind“, meint Edna Martínez. Auch gibt es Unterstützung aus dem Ausland, was sich vor allem in den Protesten nach dem Verschwinden der 43 Studentinnen und Studenten letzten Jahres in vielen Ländern außerhalb Mexikos zeigte.
Nancy Landa, die seit sechs Jahren nach ihrer Deportation aus den USA wieder in Mexiko lebt, macht ein hohes Potential für sozialen Wandel in ihrem Land aus: „Das Land ist kompliziert und nicht mehr so, wie ich es aus Kindertagen kannte. Als ich in den USA lebte, wurde der Sturz der PRI (Partido Revolucionario Institucional) gefeiert. Jetzt bin ich zurück, und sie sind wieder dran.“ Es gäbe also immer noch viel zu tun, um eine sozial gerechte Gesellschaft zu schaffen. So ist die Gewalt gegen Frauen weiterhin ein wichtiges Thema, die journalistische Arbeit ist lebensgefährlich, und es gibt eine Diskriminierung gegen Migrantinnen und Migranten aus Zentralamerika, die auf ihrem Weg in die USA durch Mexiko kommen, beschreibt Landa die Situation aus ihrer Sicht.
Hinzu komme die schwierige Lage vieler junger Leute, die unter Arbeitslosigkeit und fehlenden Bildungschancen leiden. „Auch muss gesagt werden, dass es in Mexiko eine Krise der Menschenrechte gibt, wie von der interamerikanischen Kommission für Menschenrechte kürzlich festgestellt wurde“, fasst Bertha González ihre Perspektive zusammen. Aber etwas Positives kann sie der aktuellen Lage auch abgewinnen: „Das Gute ist, dass sich viele Organisationen und Einzelpersonen zur Wehr setzen. Sie organisieren Demonstrationen oder Unterschriftensammlungen, um auf die Missstände aufmerksam zu machen“, erläutert sie.
Kampfzone Umwelt
Wie in vielen anderen Ländern der Region werden auch in Mexiko eine Reihe von Ressourcen abgebaut. Neben dem Erdöl, das vor allem im Golf von Mexiko gewonnen wird, fördern meist ausländische Firmen zahlreiche Erze. Der Abbau dieser Mineralien führt zu Umweltschäden und zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung. Oftmals werden indigene Gruppen und die von ihnen reklamierten Territorien in die Konflikte einbezogen, wie im Falle der Huicholes.
„Das Territorium der Huicholes erstreckt sich über mehrere Bundesstaaten im mittleren Westen Mexikos, zu denen Jalisco und Nayarit gehören. Einmal jährlich besuchen Abgesandte der Huicholes Wirikuta, ein Gebiet im Bundesstaat San Luis Potosi. Hier führen sie Rituale durch, die u.a. eine gute Ernte garantieren sollen. Das Gebiet erfüllt für die Gruppe somit sakrale Zwecke. Im Jahre 2009 vergab die mexikanische Regierung 22 Konzessionen an mehrere kanadische Firmen, die auf dem von den Huicholes als heilig angesehenen Land Mineralien abbauen wollten. Im Zuge dieser Konzessionierung kam es über den lokalen Rahmen hinaus zum Widerstand. „Es gab viele Proteste. Bekannte Musikgruppen sind für die Sache aufgetreten, und viele Leute, u.a. ich selbst, haben zum ersten Mal davon gehört. Das Anliegen der Huicholes wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt“, erklärt Edna Martínez.
Die Gesetzeslage in der Frage der Konzessionierung von Schürfrechten ist kompliziert und nicht immer eindeutig. So kommt es immer wieder zu Fällen von Umweltverschmutzung, wie am Fluss Sonora. Hier war 2014 der Damm eines Rückhaltebeckens gebrochen und 40 Millionen Liter giftiger Abwässer gelangten in den Fluss. Die Folgen für die ansässige Bevölkerung waren gravierend. Die Ahndung dieses und ähnlicher Vorfälle gestaltet sich schwierig, denn die verantwortlichen Unternehmen verweigern den zuständigen Behördenvertretern u.a. den Zutritt zu ihren Anlagen – oder die Folgen werden verschleiert. In Umkehrung einer bekannten Metapher meint Martínez dazu: „Es fehlt eine harte Hand, die hier die Regierung kontrollieren würde.“
Migration auf beiden Seiten des Atlantiks
Mexiko ist seit Jahrzehnten Herkunftsland vieler Migrantinnen und Migranten, die das Land auf der Suche nach einem besseren Leben gen Norden verlassen. Ihr Ziel sind zu 98 Prozent die USA. Mittlerweile leben über zehn Millionen Mexikaner, viele ohne Papiere, in den Vereinigten Staaten. Gleichzeitig dient Mexiko vielen Frauen, Männern und Kindern aus Zentralamerika als Durchgangsstation auf ihrer Flucht vor Armut, Perspektivlosigkeit und zunehmend vor der grassierenden Gewalt in ihren Ländern. Alle Migrantinnen und Migranten sehen sich am Zielort, also in den USA, strengen Grenzkontrollen sowie einer restriktiven Migrationspolitik gegenüber.
Für die Menschen aus Zentralamerika kommt die gefährliche Reise durch Mexiko hinzu, auf der sie all zu oft Opfer von Gewalt werden. „In den sozialen Medien wurde in letzter Zeit darüber gesprochen, dass die Flucht nach Europa und in die USA sehr ähnlich ist“, meint Nancy Landa. „Nur müssen die Flüchtenden aus Zentralamerika nicht übers Mittelmeer, sondern durch Mexiko“. Die Aktivistin beklagt, dass Mexiko in der Migrationspolitik den Vorposten der USA bilde, obwohl es Gesetze und Menschenrechte gebe, die jedoch nicht genügend Beachtung fänden. So wurde bereits vor Jahren die Südgrenze Mexikos im Zuge des Plan Sur militarisiert, um die Flüchtlinge aus Zentralamerika von der Weiterreise abzuhalten.
„Während der humanitären Krise letztes Jahr, bei der eine große Zahl an Menschen ihre Herkunftsländer verließ, von denen viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge waren, konnte dies beobachtet werden. Viele Personen aus Zentralamerika, die es nicht in die USA schafften oder abgeschoben wurden, versuchten es erneut. Bei ihrer Migration müssen sie sich aber nun zuerst mit den mexikanischen Behörden herumschlagen.“
Zusätzlich fliehen mittlerweile auch Menschen aus einigen mexikanischen Bundesstaaten vor der Gewalt der Drogenkartelle. Die Fluchtgründe dieser Menschen werden jedoch von den US-Behörden nicht anerkannt, da es eine Regelung ähnlich denjenigen in Europa gibt, wonach bestimmte Staaten sichere Herkunftsländer sind, in welche die Menschen gefahrlos zurückkehren könnten. Was für mexikanische Flüchtlinge in den USA gilt, lässt sich für Zentralamerikanerinnen und Zentralamerikaner in beiden Staaten konstatieren. Viele Anträge auf Asyl werden also sowohl nördlich als auch südlich des Rio Grande abgelehnt. „Zwischen den USA und Europa gibt es in der Flüchtlingskrise einige Ähnlichkeiten. Jetzt heißt es Krise, weil die Krise in Europa angekommen ist. Beispielsweise gibt es in beiden Regionen Gesetze zum Schutz der Menschenrechte, die nicht komplett eingehalten werden“, konstatiert Landa.
Die USA haben in den letzten Jahren eine Vielzahl von Menschen nach Zentralamerika und Mexiko zurückgeschickt. „Die Deportationen, die ich selbst erlebt habe, betreffen zwei Millionen Menschen, von denen 98 Prozent aus Mexiko und dem Rest Lateinamerikas stammen. Ich glaube, dasselbe könnte auch vielen Flüchtlingen in Europa drohen, die nicht aus Syrien kommen. Sie werden versuchen, trotzdem in Europa zu bleiben und im Schatten zu leben wie viele Mexikaner in den USA.“ Mexiko sieht sich derweil einem Phänomen gegenüber, dass wenig Beachtung findet, nämlich Menschen, die nach Jahren zwangsweise aus den USA zurückgekehrt sind. Ihnen wird auf beiden Seiten der Grenze kaum Aufmerksamkeit zuteil, obwohl sie auch mit unterschiedlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Dazu gehört die Anerkennung von Identitätsdokumenten oder Schulabschlüssen aus den USA.
Gewalt gegen Frauen
In Mexiko kommt es immer wieder zu Übergriffen gegen Frauen. In die Schlagzeilen gerieten dabei die unaufgeklärten Morde an Frauen in und um Ciudad Juarez, die bis heute nicht aufgearbeitet worden sind. Aber das Problem gehört keineswegs der Vergangenheit an, wie Bertha González verdeutlicht: „Der Bundesstaat mit der höchsten Zahl von Frauenmorden ist im Moment der Bundesstaat Mexico, was nicht heißt, dass sich die Situation in Juarez bedeutend entspannt hätte.“
Dabei fehlt es in Mexiko nicht an entsprechenden Gesetzen. So sind die Behörden juristisch verpflichtet einzugreifen, wenn eine Anzahl von Faktoren gegeben ist, die Gewalt gegen Frauen wahrscheinlich erscheinen lässt. „Notwendige Maßnahmen zum Schutz von Frauen werden aber oft nicht ergriffen, um den Ruf der verantwortlichen Politiker nicht zu gefährden, wie z.B. im Staat Mexico, in dem die nötigen Voraussetzungen zwar gegeben waren, aus Rücksicht auf die Wiederwahl des zuständigen Politikers jedoch nichts unternommen wurde“, sagt Bertha González.
Die Gewalt gegen Frauen ist in Mexiko weit verbreitet und hat eine lange Tradition, die auch mit dem Sexismus zusammenhängt. „Aber neben entsprechenden Kampagnen fehlt es auch an präzisen Mechanismen. So werden auf der Ebene der Verwaltung Familienangelegenheiten und die Gewalt gegen Frauen zusammengefasst und nicht als separate und spezifische Probleme behandelt“, fügt Edna Martínez hinzu. Ein weiteres Problem ist die unterschiedliche Definition von Gewalt gegen Frauen, die in der Sphäre der Medien und der Öffentlichkeit verschieden verstanden wird. Aus diesem Grund gestaltet sich die statistische Aufarbeitung der Gewalt schwierig. „Es gibt viel Gleichgültigkeit beim Thema, viel Apathie. Deshalb ist es eine sehr schwierige Angelegenheit“, meint Gonzalez.
Die aktuelle Situation in Mexiko bleibt alles in allem schwer zu beurteilen. Aber Nancy Landa bemerkt abschließend selbstkritisch: „Wir müssen auch mal schauen, wo in unseren Foren Mechanismen sind, die eine Agenda von sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten voranbringen. Sowohl innerhalb Mexikos, aber auch im Ausland. Es ist die große Herausforderung, innerhalb der Agenda 2030 zu schauen, wie die Anliegen sozialer Gerechtigkeit und der Menschenrechte vorangebracht und umgesetzt werden können“, unterstreicht die Aktivistin. Auch wenn Mexiko positive makroökonomische Entwicklungen aufweist und vielfach als Schwellenland bezeichnet wird, gilt das nicht für alle gesellschaftlichen Bereiche, wie Bertha Gonzalez abschließend konstatiert. Hier wäre noch einiges zu tun, nicht nur auf Seiten der Zivilgesellschaft und der NGOs.
Bildquellen: [1] Marianna Fierro; [2] Zapata_; [3] Omar Omar; [4] unsureshot (karen) [5] Sandra Sandoval.