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Der Clayton-Bulwer-Vertrag

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Der Clayton-Bulwer-Vertrag wurde am 19. April 1850 in Washington vom US-amerikanischen Außenminister John Middleton Clayton (1796-1856) und dem britischen USA-Botschafter William Henry Lytton Bulwer (1801 -1872) unterzeichnet und am 4. Juli 1850 vom Senat mit 42:11 Stimmen ratifiziert. Die beiden Signatarmächte gaben sich darin gegenseitig die Zusage, daß sie keine ausschließliche Kontrolle über einen künftigen Kanal durch den zentralamerikanischen Isthmus anstreben. Sie bekundeten ferner ihren Willen, zur Sicherung der Neutralität auf jegliche Befestigungen und Gebietserwerb in Zentralamerika zu verzichten. Obwohl Großbritannien mit dem Vertrag weit hinter den Status quo zurückging, fanden sich in den USA zahlreiche Kritiker, die eine Revision zugunsten weiterer Zugeständnisse der britischen Regierung einforderten. Zentraler Streitpunkt war die Frage, ob die Vertragsbestimmungen nur prospektiv oder retrospektiv gelten sollten. Letzteres hätte bedeutet, daß Großbritannien auf seine halb-/ kolonialen Besitzstände in Zentralamerika verzichten müßte.

Die Briten sträubten sich jedoch hartnäckig, ihre 1841 zum Protektorat erklärte Einflußzone an der nikaraguanischen Atlantikküste aufzugeben. Sie hatten sich dort festsetzen können, weil sowohl die spanische Kolonialmacht als auch der nikaraguanische Staat zu schwach waren, um die Miskito-Küste, wie das Gebiet nach der dort lebenden Bevölkerung genannt wurde, in ihren Herrschaftsbereich zu integrieren. Erst 1894 konnte der schwelende Konflikt durch den Einmarsch nikaraguanischer Truppen beendet werden.

Während es den Briten vorrangig um die Sicherung ihrer Einflußgebiete auf der karibischen Seite des zentralamerikanischen Isthmus ging, waren die USA vor allem an der „Kanalfrage“ interessiert. Bereits die Spanier hatten Überlegungen angestellt, den Atlantischen und Pazifischen Ozean, die in Mittelamerika nur durch eine schmale Landbrücke voneinander getrennt waren, miteinander zu verbinden. Für einen künstlichen Wasserweg boten sich drei Engstellen auf dem Isthmus an: die Landenge von Tehuantepec im südlichen Mexiko, Panama, und der Nikaragua-See. Eine Kommision, die US-Präsident Grant kurz nach seiner Wiederwahl 1872 eingesetzt hatte, kam nach ernsthafter Prüfung aller Möglichkeiten zu dem Schluß, daß von den drei „klassischen“ Kanalprojekten die Nikaragua-Route die besten Voraussetzungen für den Bau und den Unterhalt eines Kanals bot. Bereits 1846 hatte Louis Napoleon, der später als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen gekrönt wurde, mit Feuereifer Studien über einen isthmischen Kanal betrieben. Er war ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, daß sein selbstherrlich als „Canal Napoleon de Nicaragua“ bezeichnetes Projekt, das die Route über den Rio San Juan, den Nikaraguasee bis in den Golf von Fonseca favorisierte, die besten Chancen einer Realisierung hatte. Daraufhin begannen die hellhörig gewordenen Briten, sich gleichfalls für einen „Nikaragua-Kanal“ zu erwärmen. Dieser rückte schlagartig in den Mittelpunkt konkurrierender Interessen, als im Januar 1849 in Kalifornien das erste Gold entdeckt wurde. Da eine transkontinentale Eisenbahn in Nordamerika noch bis 1869 auf sich warten ließ und der Seeweg um Kap Horn an der Südspitze des Doppelkontinents nicht nur gefährlich war, sondern auch sehr lange dauerte, bot sich der Weg über den zentralamerikanischen Isthmus, der eine Zeitersparnis von 254 Tagen brachte, als die günstigste Reiseroute an. Washington ging nun unverzüglich daran, den britischen Einfluß in der Region zurückzudrängen und die geplante Route sowohl technisch als auch vertraglich abzusichern. Zu diesem Zwecke versuchte man, von der nikaraguanischen Regierung Konzessionen und Sonderrechte für den Transitverkehr zu erlangen. Der Konflikt mit den Briten war vorprogrammiert. Als der USA-Gesandte Ephraim George Squier sich durch Verhandlungen mit der honduranischen Regierung nominell in den Besitz der Insel Tigre, die im Golf von Fonseca dem voraussichtlichen Endpunkt des Kanals gegenüberlag, gebracht hatte, zögerte sein britischer Widerpart Fredrick Chatfield nicht lange und ließ Tigre am 16. Oktober 1849 kurzerhand durch Truppen besetzen, die zwei Monate später wieder abzogen.

Im Zuge der vorübergehenden Einigung zwischen der alten und der künftigen Hegemonialmacht in der Region mußten die Briten ihre weitreichenden Ambitionen in Bezug auf „Greytown“ zurückschrauben. Diesen Ort, der unter dem Namen San Juan del Norte zu Nikaragua gehörte und an der Mündung jenes Flusses lag, der zum karibischen Eingang des künftigen Kanals auserkoren worden war, hatten britische Truppen 1848 prophylaktisch erobert. In den nachfolgenden Jahren diente „Greytown“ dem anschwellenden Strom von Transitreisenden, die nach Kalifornien wollten, als Einfallstor. 1857 fiel dieser Zankapfel, um den sich Briten und US-Amerikaner immer wieder stritten, der Zerstörung anheim. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, einen „amerikanischen Kanal“ zu bauen und in eigener Regie zu betreiben, und der Einsicht, daß ein direkter Konflikt mit dem Empire zu riskant war, entschloß sich Washington, nachdem die Briten kolonialistische Enthaltsamkeit signalisiert hatten, scließlich einzulenken und einer Art Kondominium über Nikaragua den Vorzug zu geben.

Die Vision eines interozeanischen Kanals hatte Begehrlichkeiten geweckt, die die Existenz Nikaraguas als souveräner Staat in Frage stellten. Schon der Abschluß des Vertrages, der die „Kanalfrage“ regeln sollte, hatte die Fragilität und Abhängigkeit Nikaraguas enthüllt, das bei einer derart gravierenden Entscheidung über seine Zukunft in die Rolle eines Objektes gedrängt wurde. Die chronisch zerstrittene nikaraguanische Elite öffnete diesen Begehrlichkeiten noch Tür und Tor. Auf äußerst großzügige Konzessionen an US-Unternehmer für die Bewirtschaftung der Transitroute, folgte die Anwerbung von Söldnern aus den USA. Deren Anführer, William Walker, nutzte die Gelegenheit, um sich 1856 zum Präsidenten Nikaraguas zu machen. Als glühender Anhänger der „Manifest Destiny“ wollte er der „Vorsehung“ ein wenig nachhelfen. In Nikaragua wurde kurzerhand die Sklaverei wiedereingeführt und Englisch in arroganter Manier zur Amtssprache erklärt. Nicht der Clayton-Bulwer-Vertrag, sondern der selten einmütig geführte „Guerra Nacional“ aller zentralamerikanischen Staaten beendete 1857 das verhängnisvolle und gefährliche Kapitel.

Die USA waren trotz offizieller Neutralität viel zu sehr in das Abenteuer verstrickt, um den Expansions- und Annektionsgelüsten, die von den Bundesstaaten im Süden ausgingen und von einem Großteil der eigenen Öffentlichkeit unterstützt wurden, ernsthaft Einhalt gebieten zu können oder zu wollen. Es war mehr die Furcht, daß mit der Angliederung Nikaraguas an die Südstaaten, die Walker erklärtermaßen anstrebte, die Balance zwischen Nord und Süd aus dem Lot geraten würde, als die vielfach beschworene Vertragstreue, die Washington davon abhielt, die „Filibuster“, wie sich Walker und seine Leute nannten, offen zu unterstützen. Die Briten halfen ihrerseits den Zentralamerikanern finanziell und mit Waffenlieferungen in ihrem Kampf gegen Walker. Dieser fiel bei seinem letzten Versuch, Zentralamerika zu verheeren, in die Hände der Briten, die ihn an Honduras auslieferten, wo er exekutiert wurde. Großbritannien zog insofern seinen Nutzen aus diesem Ausgang der „Walker-Affäre“, als daß es sich noch einige Jahrzehnte seiner indirekten Herrschaft über die Miskito-Küste erfreuen konnte.

Mit der Entscheidung der USA für den Bau des Panama-Kanals war auch das Ende jenes Vertrages besiegelt, der bis dahin die „Kanalfrage“ offen gehalten hatte. An die Stelle des Clayton-Bulwer-Vertrages trat am 18. November 1901 der Hay-Pauncefote-Vertrag, dem John Milton Hay (1838-1905), von 1898 bis 1905 US-Außenminister unter W. McKinley und T. Roosevelt, sowie Sir Julian Pauncefote (1828-1902), britischer Botschafter in den USA, den Namen gegeben hatten, in Kraft. Der erste Entwurf dieses Vertrages vom 5. Februar 1900 hatte noch Befestigungsanlagen am Kanal verboten, eine Einschränkung, an der sich der US-Senat stieß und die dann in der Endfassung verschwunden war. Diese übertrug den USA die alleinige Vollmacht zum Bau, zur Verwaltung und zur Verteidigung eines interozeanischen Kanals in Zentralamerika. In den fünfzig Jahren zwischen beiden Verträgen hatten sich gewaltige Veränderungen in der Region vollzogen. Großbritannien mußte sich als Hegemon verabschieden, die nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 endgültig den USA zufiel. Diese beanspruchten jetzt nicht nur die alleinige Kontrolle über den künftigen Kanal, sondern maßten sich auch an, allein die Entscheidung darüber zu treffen, ob, wann und wo er gebaut wurde. Schon 1880 hatte Präsident Hayes mit drohendem Unterton verkündet: „Die wirkliche Politik der USA, was einen Kanal betrifft, der an irgendeiner Stelle des Isthmus gebaut wird, ist: entweder es ist ein Kanal unter amerikanischer Kontrolle oder gar kein Kanal.“

Während der Panama-Kanal lange Zeit als „europäischer“ Kanal galt, präferierten die USA den Nikaragua-Kanal als amerikanisches Projekt. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Panama-Kanal-Gesellschaft 1889 wurden die Arbeiten zur Realisierung des Nikaragua-Kanals intensiviert. Obwohl nur noch 26,7 Meilen auszubaggern waren, wurden die Arbeiten aus Geldmangel 1892 eingestellt. Die endgültige Entscheidung gegen den Nikaragua-Kanal fiel am 28729. Juni 1902. Obwohl die Nikaragua-Route 63 Mio US-Dollar billiger als die Panama-Route war und von einer hochrangigen Kommission noch im November 1901 als die bestmögliche bezeichnet wurde, konnte sich das „Panamasyndikat“ mit Demagogie, Lüge und Bestechung durchsetzen. Als danach der nikaraguanische Präsident Zelaya (1893-1909) mit Deutschland und Japan über den Bau des Kanals ins Gespräch kommen wollte, ließen die USA ihre Muskeln spielen und stürzten ihn. Ein nikaraguanischer Nationalist an der Spitze des Staates, der über einen „europäischen“ Kanal in Zentralamerika verhandelte – das war doppelt unerhört.

Einstmals die große Hoffnung Nikaraguas, wurde der Kanal – obwohl niemals gebaut – im Schatten des „Koloß‘ im Norden“ zum Fluch, der dem zentralamerikanischen Land mehrere Invasionen der USA und eine der berüchtigsten und langlebigsten Diktaturen Lateinamerikas bescherte. Nach dem Clayton-Bulwer-Vertrag trat nun der „Big Stick“ in Aktion.

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