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Vor 100 Jahren: Haiti unter US-Besatzung (1915-1934)

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 16 Minuten

Am 28. Juli 1915 landeten 350 US-Marines in Port-au-Prince. Für Haiti folgten lange 19 Jahre der Besatzung. Die letzten Truppen Washingtons zogen erst im August 1934 wieder ab. Die Okkupation der ersten freien schwarzen Republik durch den Koloss im Norden ordnet sich in eine Zeit ein, in der die USA die Karibik zu ihrem Mare Nostrum machten und zur Weltmacht aufstiegen. Diese Entwicklung begann 1898 mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, in dessen Folge das nordamerikanische Land, das erst 1783 seine eigene Unabhängigkeit erkämpft hatte, selbst zur Kolonialmacht wurde und sich in die Gruppe der imperialistischen Mächte einreihte. Sie führte weiter über die Abspaltung Panamas von Kolumbien und die Errichtung einer US-Marinebasis in Guantanamo (1903), die zweite Intervention der USA in Kuba (1906), die Einmischung in Nicaragua (1909) und die Eröffnung des Panama-Kanals (1914). Es folgten der 1. Weltkrieg (1914-1918), an dem sich die Vereinigten Staaten seit 1917 beteiligten, die Besetzung der Dominikanischen Republik (1916-1924), mit dem sich Haiti die Insel Hispaniola teilt, und schließlich die Weltwirtschaftskrise (1929), in deren Gefolge der deutsche Faschismus die Macht ergriff (1933) und die Weltherrschaft zu erobern suchte (1939-1945).

Vor diesem Hintergrund wirft die Besetzung Haitis mehrere Fragen auf: Was bewog Washington, die Inselrepublik für so lange Zeit zu okkupieren, und was bedeutete dies für die Haitianer, die sich in einem langen, blutigen Kampf (1791-1804) selbst von der Sklaverei befreit hatten und nun von den weißen Marines ihrer Souveränität beraubt wurden? 111 Jahre nach seiner Unabhängigkeit befand sich Haiti in einer tiefen Krise. Die Gesellschaft war gespalten: Die schwarze Mehrheit der Haitianer lebte als marginalisierte Bauern auf dem Lande, während sich in den Städten, wo die Politik konzentriert war, die mulattische Elite und die meist schwarzen Militärs in erbitterte Fraktionskämpfe verstrickt waren. Die daraus resultierende Blockade des politischen Systems spitzte sich nach dem Sturz der letzten „stabilen“ Präsidentschaft von Nord Alexis (1902-1908) rasch zu. Von 1911-1915 regierten sechs Präsidenten das Land, allein 1914 waren es drei – darunter mit Michel Oreste (4. Mai 1913 bis 27. Januar 1914) der erste zivile Präsident Haitis. Der letzte Präsident vor dem Einmarsch der Marines, Vilbrun Guillaume Sam, wurde nach knapp fünfmonatiger Herrschaft unter besonders brutalen Umständen am 27. Juli 1915 gestürzt. Dies nahmen die USA dann auch offiziell zum Anlass, um militärisch zu intervenieren.

USA: Präsident Theodore Roosevelt - Foto: Pach BrothersDie Besetzung Haitis erfolgte auf Grundlage des Roosevelt Corollery. Der 26. Präsident der USA, Theodore Roosevelt (1901-1909), hatte in seiner Jahresbotschaft am 6. Dezember 1904 vor dem Kongress seine Version der Monroe Doctrine von 1823 vorgestellt. Darin bestätigte er nicht nur das Interventionsverbot für europäische Mächte in der westlichen Hemisphäre, sondern begründete mit Verweis auf die lateinamerikanischen Länder auch das einseitige Recht der USA, in Fällen von Chaos und Instabilität oder bei Nichteinhaltung eingegangener Verpflichtungen „internationale Polizeigewalt auszuüben“. Bei Haiti ging es den USA offiziell um die Wiederherstellung der Ordnung, den Schutz des Lebens und des Eigentums der Ausländer sowie um eine Neuordnung der Finanzen des hochverschuldeten Landes.

Welche Motive hatte Washington bei der Besetzung Haitis wirklich?

In der einschlägigen Literatur werden die wirklichen Motive Washingtons unterschiedlich bewertet. Im Kontext des 1. Weltkrieges besitzt die „deutsche Frage“ eine gewisse Plausibilität (Castor S. 23; Schmidt S. 57, 91). Unternehmer, Händler und Banker aus Deutschland hatten im Vorfeld der Okkupation wichtige Positionen in der Wirtschaft Haitis, vor allem im Großhandel, erobert und waren durch Einheiraten sowie Geschäftsallianzen enge Beziehungen mit der haitianischen Elite eingegangen. Außerdem kursierten Gerüchte, dass Deutschland die Errichtung einer Kohlestation oder gar einer Basis für U-Boote in der Inselrepublik plante. Mit dem Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg knapp zwei Jahre nach der Landung der Marines in Port-au-Prince bot sich Washington die günstige Gelegenheit, sich der deutschen Konkurrenz zu entledigen. Die Tatsache, dass die Besetzung Haitis nach Kriegsende fortgesetzt wurde, verweist darauf, dass die „deutsche Frage“ besten Falls ein Motiv neben anderen war.

Gewichtiger dürften geopolitische Überlegungen Washingtons zur Absicherung seiner Vormachtstellung in der Karibik gewesen sein. Nach der Fertigstellung des Panama-Kanals und der Errichtung der Marinebasis in Guantanamo gewann die Kontrolle über die Windward-Passage zwischen Kuba und Haiti für Umsetzung der ökonomischen wie militärischen Interessen der USA deutlich an Gewicht. Auch wenn die USA letztlich auf eigene Stützpunkte in Haiti verzichteten, so kam der Stabilisierung des ins Chaos abgeglittenen Inselstaates dennoch eine zentrale Bedeutung zu. Maßgebliche Autoren (Schmidt) geben den geopolitischen Motiven den Vorrang vor den ebenfalls diskutierten Wirtschaftsinteressen. Im lateinamerikanischen Vergleich sehen die US-Investitionen in Haiti in Höhe von vier Millionen US-Dollar tatsächlich sehr bescheiden aus. Allein in Mexiko hatten die Vereinigten Staaten 800 Millionen und im benachbarten Kuba 220 Millionen investiert. Waren die ökonomischen Motive deshalb aber sekundär? Und in welchem Verhältnis standen sie zu den (geo-)politischen?

Wie gingen die USA politisch in Haiti vor?

Um weiteren Aufschluss über die Ziele der USA zu gewinnen, ist es angebracht, deren Vorgehen in Haiti genauer zu betrachten. Zunächst benötigten die USA einen neuen „demokratisch“ gewählten Präsidenten. Dieser hatte vor allem zwei Aufgaben zu erfüllen: Erstens die Regierungsübernahme von Dr. Rosalvo Bobo verhindern; zweitens die US-Besatzungspolitik legitimieren, ohne dieser gefährlich werden zu können. Die Wahl Washingtons fiel auf den damaligen Senatspräsidenten Philippe Sudre Dartiguenave. Am 11. August 1915 bestimmte ihn der haitianische Kongress unter massiver Präsenz der Marines zum Präsidenten. Bobo, der bereits im Vorfeld der Besatzung versucht hatte, mit Hilfe bewaffneter Anhänger aus dem Landesnorden, der so genannten Cacos, die Macht zu übernehmen, machte einen Rückzieher und ging ins Ausland. Dartiguenave blieb bis 1930 im Amt (siehe Tabelle).

Haiti/USA: Präsidenten der USA und Haitis 1915-1934 - Tabelle: Quetzal-Redaktion, pg

Nach seiner Wahl, deren Korrektheit selbst von US-Marineminister Hosephus Daniels angezweifelt wurde, konnte die US-Regierung unter Woodrow Wilson Schritt zwei angehen: der Abschluss eines Vertrages, mit dem alle notwendigen Modalitäten der Besatzung geregelt wurden. Die Unterzeichnung erfolgte am 9. September 1915. Sein Text beinhaltete folgende Punkte: Aufbau einer Gendarmerie, die dem Kommando von US-Offizieren unterstellt war; die Übergabe der Verfügungsgewalt über die Zolleinnahmen Haitis an die USA, die außerdem neben den Staatsausgaben noch das Gesundheits- und Bauwesen kontrollierten; später kamen das Telefon- und Telegrafennetz hinzu; ohne Zustimmung der USA konnte Haiti keine internationalen Verträge abschließen. Mit dieser „Magna Carta des Okkupationsregimes“, wie der Vertrag auch genannt wurde (Castor, S. 35), wurde der neue Status von Haiti als Protektorat der USA festgeschrieben.

Komplettiert wurde das Ganze durch Schritt drei: Die Ausarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung. Dies sah die Besatzungsmacht deshalb als notwendig an, weil der Vertrag vom September 1915 in etlichen Punkten nicht mit der gültigen Verfassung übereinstimmte. Zunächst wurde am 5. April 1916 der Senat aufgelöst und das Abgeordnetenhaus in eine Konstituyente umgewandelt. Diese wurde dann 1917 ebenfalls nach Hause geschickt, weil sie sich beim Abfassen der Verfassung nicht willfährig genug zeigte. Übrig blieb ein Staatsrat von 21 Mitgliedern, die alle vom Präsidenten ernannt worden waren. Am 12. Juni 1918 wurde die Verfassung per Plebiszit mit 69.337 Ja-Stimmen und 235 Nein-Stimmen gebilligt (Castor, S. 37; Schmidt, S. 99 gibt ein Verhältnis von 98.225 zu 768 Stimmen an). Allein die hohe Zustimmungsrate und die geringe Zahl der abgegebenen Stimmen – lediglich fünf Prozent der Bevölkerung – lassen Zweifel am demokratischen Gehalt der Veranstaltung aufkommen (Bernecker S. 127). Hinzu kommt, dass mit Artikel 5, der Ausländern erstmals den Erwerb von Land erlaubte, eine zentrale Errungenschaft des Unabhängigkeitskampfes der Haitianer aufgegeben wurde (Castor S. 36-38). Bereits an diesem Punkt wird klar, wie eng die politische Durchsetzung des US-Besatzungsregimes mit zentralen ökonomischen Weichenstellungen verknüpft war, worauf noch zurück zu kommen ist.

USA: Generalmajor John H. Russell Jr. - Foto: United States Marine CorpsDie Jahre 1922 bis 1929 gelten als Phase der relativen Stabilität und Ruhe in Haiti. Institutionell wurde diese Entwicklung durch die Einsetzung eines Hohen Kommissars mit geradezu diktatorischen Vollmachten abgesichert. Bis November 1930 übte Generalmajor John Russell, von 1934 bis 1936 Kommandeur des US-Marine Corps, dieses Amt aus. Sein Nachfolger Dana Munro, Historiker und hoher US-Diplomat, initiierte als ziviler Bevollmächtigter im Range eines Botschafters die „Haitianisierung“ des Besatzungsregimes. Im Oktober 1932 übernahm Norman Armour diesen Posten. Unter ihm erfolgte dann der Abzug der US-Truppen aus Haiti.

Welche wirtschaftlichen Ziele hatten die USA in Haiti und wie wurden sie umgesetzt?

In der Logik der USA sollten mit der Besetzung Haitis drei Ziele erreicht werden: Politisch stand die Herstellung stabiler Verhältnisse im Vordergrund. Zugleich galt es, einen kontinuierlichen Schuldendienst sicher zu stellen. Um beides zu ermöglichen, plante Washington drittens, aus Haiti ein zweites Kuba zu machen (Bernecker S. 125). Dies bedeutete, dass es zu den zentralen Aufgaben des Besatzungsregimes gehörte, die Rückkehr zum exportorientierten System der Großplantagen in die Wege zu leiten. Da das Land mehrheitlich von subsistenzwirtschaftenden Bauern bearbeitet wurde, beinhaltete die Durchsetzung dieses Wirtschaftsmodells die Zerstörung und Vernichtung des „haitianischen Systems“ der kleinbäuerlichen Landwirtschaft (Schmidt 178).

Während der US-Besatzung wurden 108.000 ha Land enteignet, und mehr als 50.000 haitianische Bauern waren von dieser Maßnahme betroffen (Castor S. 52). Die anvisierte Plantagenwirtschaft erforderte aber mehr: Ausreichende Investitionen, billige Arbeitskräfte und eine infrastrukturelle Basis. Der letztgenannte Punkt fiel in den Aufgabenbereich des Okkupationsregimes, das zu diesem Zwecke auf ein längst vergessenes Gesetz aus dem 19. Jahrhundert zurückgriff. Die für den Straßen- und Brückenbau erforderlichen Arbeitskräfte wurden einfach unter der armen Landbevölkerung zwangsrekrutiert. Besondere Empörung rief der Umstand hervor, dass die US-Amerikaner die relativ moderaten Bestimmungen des erwähnten Gesetzes einfach verschärften. Statt drei Tage Arbeitseinsatz im eigenen Distrikt abzuleisten, mussten die Zwangsverpflichteten wochenlang in entfernten Gebieten unter schwierigsten Bedingungen für die Modernisierung nach kubanischem Muster schuften. Es nimmt nicht Wunder, dass dieses an die Sklaverei erinnernde System (corvée) unter den Haitianern aufs äußerste verhasst war und auf erbitterten Widerstand stieß. Die Aufhebung der Zwangsarbeit 1918/19 kam zu spät, um die erneute Rebellion der bäuerlichen Bevölkerung des Nordens zu verhindern. Als dann im Gefolge der großen Depression von 1929 sowohl der kleinbäuerliche Kaffeesektor in die Krise geriet, als auch das „Ventil“ der Arbeitsmigration nach Kuba und in die Dominikanische Republik ausfiel, brach das Kartenhaus des US-amerikanischen Modernisierungstraums vollends in sich zusammen.

Als Washington 1934 Bilanz zog, fiel diese sehr ernüchternd aus. Insgesamt wurden 1.700 km Straßen und Wege gebaut bzw. instand gesetzt. Das Land erhielt ein eigenes Telefonnetz, und wer es sich leisten konnte, fuhr eines der 3.000 zugelassenen Autos. Außerdem entstanden 11 neue Krankenhäuser, und zehn Städte bekamen eine Trinkwasserversorgung. Die US-Investitionen hatten sich zwar von 4 Mio. (1913) auf 14 Mio. US-Dollar (1930) erhöht, waren damit aber unter den hochfliegenden Erwartungen geblieben. Die Weltwirtschaftskrise begrub die Hoffnungen auf ein zweites Kuba endgültig. Was den Aufbau eines modernen Plantagensektors angeht – immerhin das Kernstück des geplanten Entwicklungsmodells –, so fällt dort die Bilanz noch weit enttäuschender aus: Die USA hinterließen nach 19 Jahren Protektorat über Haiti lediglich eine neue Zuckerfabrik und einige Sisalhanfplantagen. Washington war mit seinem Wirtschafts- und Entwicklungsmodell nicht nur auf breiter Front gescheitert, sondern der Versuch seiner rücksichtlosen Umsetzung hatte sogar einen solchen Widerstand unter den Haitianern provoziert, dass das US-Protektorat 1934 vorzeitig aufgegeben werden musste.

Wie leisteten die Haitianer Widerstand?

Haiti: Guerillero Charlemagne Peralte - Foto: Public DomainDie USA sahen sich in den 19 Jahren Besatzungszeit mit verschiedenen Formen des Widerstands konfrontiert. Die erste Welle, die vom Kampf der Cacos gegen die Besatzungstruppen geprägt war, fand 1916 infolge des militärischen Übergewichts der US-Amerikaner relativ schnell ein Ende. Aber bereits 1917 formierten sich die Bauernrebellen im Norden des Landes neu. Ihre Hauptursache hatte diese zweite Welle, die am 17. Oktober mit einem ersten frontalen Zusammenstoß begann, in der bereits erwähnten Einführung der Zwangsarbeit durch die Besatzungsmacht (corvée). Ihr talentierter Anführer Charlemagne Péralte mobilisierte 30.000 bis 40.000 Cacos und brachte damit die US-Amerikaner in arge Bedrängnis. Da die Gendarmerie bei ihrem ersten Härtetest kläglich versagt hatte, mussten die Besatzungstruppen der Marines von 900 auf 1.200 aufgestockt werden. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Besatzungspolitik der 1920er Jahre, dass selbst die Haitianisierung der Gendarmerie bzw. Garde nur zögerlich voranschritt. 1921 waren lediglich neun von 117 Offizieren Haitianer, 1929 betrug ihr Anteil 39,6 Prozent. Damit waren immerhin noch sechs von zehn Offizieren US-Amerikaner.

Durch Verrat und Bestechung gelang es den US-Amerikanern schließlich doch, Péralte zu liquidieren und seine Truppen damit führerlos zu machen. Der Caco-General fiel in der Nacht zum 1. November 1919 einem Mordanschlag getarnter Marines zum Opfer. Im sich anschließenden Gefecht fielen 163 Cacos, und 300 gerieten in Gefangenschaft. Damit war der Rebellenaufstand im Norden beendet. Péraltes Stellvertreter Benoit Batraville setzte den Kampf südlich von Hinche bis zum 18. Mai 1920 fort. Auch er wurde von Marines erschossen. Die offiziellen Angaben über die bis 1920 getöteten Cacos sind widersprüchlich und reichen von 2.250 bis 3.250. Die Zahl der gefallenen Marines wird mit 14 bis 16 angegeben (Schmidt 102f). Insgesamt wird die Zahl der getöteten Haitianer auf mehr als 10.000 geschätzt (Bernecker S. 130).

Die danach einsetzende Phase der Stabilisierung des Besatzungsregimes fand 1929 ihr jähes Ende. Die Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Situation im Gefolge der Weltwirtschaftskrise (Absturz der Kaffeepreise, sinkende Staatseinnahmen, Entlassungen, Steuererhöhungen, Wegfall der Migration) einerseits verband sich mit politische Unruhen, die durch die für 1930 angekündigten Wahlen befeuert wurden, andererseits. Die im Oktober einsetzenden Proteste der Studenten gegen den Service Technique entwickelten sich zum Katalysator einer landesweiten Bewegung. Als schließlich die Zollangestellten in Port-au-Prince Anfang Dezember einen Streik ankündigten und die Loyalität der in Garde umbenannten Gendarmerie in Frage gestellt schien, musste Hochkommissar Russell auf seine Marines zurückgreifen. Am 5. Dezember 1929 wurden bei Protesten gegen die Bildungspolitik und die Pressezensur der Besatzungsmacht 24 Studenten von US-Soldaten getötet.

Das Massaker von Les Cayes hatte Haiti: Präsident Sténio Vincent - Foto: Public Domainweitreichende Folgen. Die Verbitterung der Haitianer über das Vorgehen der Besatzungsmacht beförderte einerseits den überwältigenden Sieg der nationalistischen Kräfte bei den Wahlen vom 14. Oktober 1930 und brachte einen ihrer führenden Köpfe, Sténio Vincent, ins Präsidentenamt. Die 288.555 Wähler favorisierten klar die Nationalisten, die 49 Mandate erhielten, während die „Kooperationisten“ nur auf zwei kamen (Castor S. 100). Andererseits sah sich Washington nunmehr veranlasst, ernsthaft über einen Abzug nachzudenken und den Übergangsprozess entsprechend der eigenen Interessenlage zu gestalten. Zu diesem Zweck entsandte Präsident Herbert Hoover die Forbes-Kommission im März 1930 nach Haiti. Sie empfahl die Ablösung von Hochkommissar Russell und die Einsetzung eines zivilen Nachfolgers, eine beschleunigte Haitianisierung aller Institutionen des Besatzungsregimes, die erkennbare Zurückhaltung US-amerikanischer Offizieller bei den anstehenden Wahlen sowie anschließende Verhandlungen mit dem neuen Präsidenten über den für 1936 vorgesehenen Rückzug Washingtons aus Haiti.

… und warum war der haitianische Widerstand letztlich erfolgreich?

Neben dem Widerstand des haitianischen Volkes gegen die Besatzungsmacht, der trotz der Niederlagen von 1915/16 und 1920 Ende der 1920er Jahre stärker denn je aufloderte, waren die Fehler und die inneren Widersprüche der US-Besatzungspolitik ausschlaggebend für den Rückzug der USA, den sie am Ende sogar um zwei Jahre vorziehen mussten. Die meisten Autoren heben den Rassismus, den Paternalismus und das undemokratische Vorgehen der Besatzungsmacht als „Hauptfehler“ der USA-Politik gegenüber Haiti hervor. Obwohl diese Charakterisierung zweifellos zutreffend ist, bedarf sie zweier wichtiger Ergänzungen.

Erstens stellt sich die Frage, ob die Besatzungspolitik der USA diese „Fehler“ hätte vermeiden können? Oder handelt es sich vielmehr um Grundmuster, die aus historischen und strukturellen Gründen der Politik Washingtons inhärent sind? Sieht man sich die Interventionen und Okkupationen der USA nach Haiti näher an, dann stößt man immer wieder auf Rassismus, Paternalismus, Menschrechtsverletzungen und undemokratische Praktiken, die auch in den USA selbst – und zwar bis heute – zu finden sind. Generell krankt die Politik der USA daran, dass sie einerseits immer wieder Demokratie und Menschenrechte als höchste Werte postuliert und sich zum obersten Sachwalter ihrer weltweiten Durchsetzung erklärt, andererseits diese Postulate immer wieder selbst durch das eigene Handeln konterkariert. Insofern stellt die Okkupation Haitis 1915 bis 1934 keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel dar.

Zweitens gibt es einen weiteren „Hauptfehler“, der mit den bereits genannten zwar zusammen hängt, zugleich aber tiefer liegt und auf ein Grunddilemma Haitis verweist. Es besteht ein grundlegender Konflikt zwischen den Verwertungsmustern der USA und des Weltmarkts einerseits sowie den Lebensbedürfnissen und der Erhaltung des Lebensraumes der Haitianer andererseits. Für die erste Seite dieses Konflikts stehen die finanzielle Ausplünderung Haitis durch die USA und der Traum von einem zweiten Kuba, der durch den Ausbau eines modernen Plantagensektors verwirklicht werden sollte. Die USA wollten nicht mehr und auch nicht weniger, als die Restauration jener Ökonomie, die den Franzosen im 18. Jahrhundert die reichste Kolonie der westlichen Hemisphäre – und zugleich die erste siegreiche Sklavenrevolution der Weltgeschichte – beschert hatte. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte Washington praktisch die gesamte Gesellschaft Haitis austauschen oder erneut versklaven müssen. Am Ende haben dann das Beharrungsvermögen und der Widerstand der haitianischen Bauern sowie die Weltwirtschaftskrise Washington vor einer solchen Entscheidung bewahrt. In Abwägung der steigenden Kosten und des sinkenden Nutzens entschlossen sich die USA nach 19 Jahren Besatzung folgerichtig zum Rückzug. Geblieben sind den Haitianern das Grunddilemma zwischen ihren Lebensbedürfnissen und den Weltmarktzwängen sowie eine zerstörte Ökologie. Im Rückblick hat das Desaster der US-Okkupation von 1915 bis 1934 einen wesentlichen Anteil an der Vertiefung dieses Dilemmas. Das Exempel Griechenland – 100 Jahre nach der Landung der Marines in Haiti – zeigt, dass letztlich alle Völker dieser Welt in demselben Dilemma gefangen sind. Bleibt nur zu hoffen, dass immer mehr Menschen begreifen, dass Dilemmata auch gesprengt werden können, bevor sie sich in eine unentrinnbare Sackgasse verwandeln.

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Literatur:

Bernecker, Walther: Kleine Geschichte Haitis. Frankfurt a. M. 1996

Castor, Suzy: La ocupación norteamericana de Haiti y sus consecencias 1915-1934. La Habana 1978

Melody, Fonseca: Construcción del Otro haitiano: Apuntes sobre la ocupación estadounidense de Haití 1915-1934. Buenos Aires 2010

Renda, Mary: Taking Haiti: Military Occupation and the Culture of U.S. Imperialism, 1915-1940. Chapel Hill 2001

Schmidt, Hans: The United States Occupation of Haiti, 1915-1934. New Brunswick 1995 (1. Auflage 1971)

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Bildquelle: [1] Pach Brothers, Public Domain; [2] Quetzal-Redaktion, pg; [3] Public Domain; [4] Public Domain; [5] Public Domain.

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