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Regierungswechsel in Chile – vom Regen in die Traufe?

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Gleichgültigkeit und Enttäuschung begleiteten den letzten Akt der Regierung von Patricio Aylwin, der gleichzeitig der erste Akt der neuen Regierung Frei war. Mit der Amtsübernahme durch den Unternehmer Eduardo Frei Tagle-Ruiz beginnt die zweite Regierungszeit der concertacion genannten Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten. Den Vorsitz der feierlichen Zeremonie führte General Augusto Pinochet, von 1973-89 Diktator Chiles und nach wie vor der oberste Mann im chilenischen Militär. Patricio Aylwin war vier Jahre zuvor nicht zuletzt auch deshalb gewählt worden, um Pinochet aus dem Amt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte zu entfernen und die Verbrechen zu ahnden, die während der Zeit der Militärdiktatur begangen wurden. Doch der Ex-Diktator hat seinen Widersacher „überlebt“: Aylwin geht und Pinochet bleibt. Und obendrein führt er die Amtsübergabe an einen neu gewählten Präsidenten, der ihm schon im voraus versicherte, daß es in nächster Zukunft noch wesentlich engere und herzlichere Beziehungen zwischen der Regierung und den Streitkräften geben werde. Pinochet kann zufrieden sein: Die impunidad [1] wurde faktisch zur Staatsdoktrin erhoben; ihm droht also auch weiterhin keine Gefahr. Nach außen wahrt das „Modell“ Chile den Anschein einer konsolidierten Demokratie, Fesseln der Diktatur konnten „demokratisch“ legitimiert werden. In diesem Jahr mußte Pinochet nicht einmal Gegendemonstrationen gegen seine Funktion bei der Amtsübergabe hinnehmen, wie das noch im März 1990 bei der Amtsübernahme Aylwins der Fall war. Die Polizei hatte derartige Aktionen von vornherein zu verhindern gewußt. Ebensowenig gab es Abgeordnete, die aus Protest gegen die Anwesenheit des Putschisten Pinochet den Festsaal des Kongresses verließen. Haben sich die demokratischen Kräfte Chiles mit dem verhaßten Ex-Diktator ausgesöhnt oder haben sie vor seiner Allmacht kapituliert?

Es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Dabei kann es nicht darum gehen, einen Vergleich der Regierungen von Pinochet und Aylwin anzustellen. Ohne Zweifel hat Aylwin große Verdienste bei der Schaffung demokratischer Strukturen in Chile. Auch auf sozialem Gebiet wie z.B. in den Bereichen des Wohnungsbaus und des Umweltschutzes sind die Verdienste seiner Regierung unbestreitbar. Aber Aylwin ist auch an seinen Wahlversprechen zu messen und an den Erfordernissen des Prozesses einer wirklichen und umfassenden Demokratisierung der chilenischen Gesellschaft. Die breite Bewegung der im Widerstand mobilisierten Massen, die das Ende der Diktatur erzwang und im Plebiszit von 1988 der Pinochet-Diktatur ein eindeutiges „NO“ entgegenschleuderte, hatte bei der Wahl Aylwins sicher partiell andere Ziele als der Kandidat selbst. Doch Aylwin trat seine Kandidatur mit dem Versprechen an, alle Verantwortlichen für die während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen zu bestrafen und eine vollständige Demokratisierung des Landes durchzuführen. Das schloß auch die Einführung eines neuen -effizienteren und gerechteren – ökonomischen Systems ein. Erfüllt hat er diese Wahlversprechen nicht, jedenfalls nicht in dem Maße, wie seine Wähler das erwarteten.

Es mag als ein Widerspruch erscheinen, daß Aylwin trotz einer eher negativen Bilanz auf die Unterstützung des chilenischen Volkes bauen konnte. Die Wahl Eduardo Preis, der der gleichen Parteienkoalition angehört, ist ein deutlicher Beleg dafür. Nach außen hin verkörperte Aylwin das beruhigende Bild des „Familienvaters“, das natürlich einen starken Kontrast zur unverhüllten Brutalität seines Vorgängers bildete. Die vorwiegend rechts dominierten Massenmedien behandelten ihn mit Wohlwollen. Hinzu kommt neben der begonnenen Demokratisierung, deren Effekt in einem Land, das über 15 Jahre von einer faschistischen Militärdiktatur beherrscht wurde, nicht hoch genug angerechnet werden kann, die Tatsache, daß außer der concertacion in Chile keine politische Kraft existiert, der zur Zeit eine wirksame Alternative zu Pinochet zugetraut werden kann. Die Linke im Land ist zu zersplittert und zu schwach als daß ihre Vorschläge und Politikansätze einen größeren Kreis als den ihrer Anhänger erreichen könnten. Darüber hinaus hat auch in Chile die Politikverdrossenheit um sich gegriffen, breite Teile der Bevölkerung haben sich von jeglicher politischer Aktivität zurückgezogen, nachdem sie aktiv am Kampf gegen die Diktatur teilgenommen hatten. In einer solchen Situation bildet die Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten so etwas wie eine sichere Bank, bei der man weiß, was man hat und von der zumindest Bemühungen in die richtige – sprich: demokratische – Richtung zu erwarten sind.

Man darf auch nicht aus den Augen verlieren, daß alle noch so kleinen Schritte zu einer weiteren Demokratisierung der Gesellschaft durch die ungebrochene Macht des Militärs stark erschwert werden. Pinochet hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er seinen Militärputsch im Jahre 1973 nach wie vor für richtig und notwendig hält und daß er im Notfall wieder bereit sein werde, das Land zu retten. Noch vor Ablauf eines Jahres nach Aylwins Amtsantritt wurde die Angst vor einem Militärputsch durch die Mobilmachung des Heeres wiederbelebt, eine Situation, die sich im Mai 1993 mit dem boinazo [2] wiederholen sollte.

Solcherart Drohgebärden führten natürlich zur Lähmung der politischen Kräfte im Lande und hatten zum Ergebnis, daß die politische Lage der ersten seit 1973 vom Volk gewählten Regierung dem Stand vom März 1990 entspricht. Das Militär hat es immer verstanden, seine Vormachtstellung gegenüber der zivilen Regierung zu behaupten. Belege dafür sind die autonome Finanzierung des Militärs aus 10% der Einnahmen aus dem Kupferexport, die Unantastbarkeit semer Oberbefehlshaber durch die Regierung und das Parlament, die Existenz des Sicherheitsrates und der Militärgerichtsbarkeit, die allesamt geeignet sind, die Dominanz des Militärs aufrecht zu erhalten. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, daß Chile im Bereich der Menschenrechte nach wie vor große Defizite zu verzeichnen hat. Während Aylwin die Aussöhnung der Gesellschaft für vollendet erklärte, kann sich das Militär auf die impunidad verlassen – Straffreiheit für begangene Verbrechen scheint weitgehend sicher zu sein. Die verfassungsmäßig garantierten persönlichen Rechte und Freiheiten sind bis heute nicht voll durchgesetzt. In den vergangenen vier Jahren starben mehr als 100 Personen, in ihrer Mehrzahl Jugendliche, unter den Schüssen, Stockschlägen und Stiefeltritten einer Polizei, die Demonstrationen mit ungezügelter Brutalität unterdrückt. Die Regierung der concertacion übernahm darüber hinaus das neoliberale Wirtschaftsmodell ihrer Vorgängerin. Die Privatisierung staatlicher Firmen wurden weiter vorangetrieben. Beispiele dafür sind der Gütertransport der staatlichen Eisenbahn, das im Norden Chiles ansässige Elektrounternehmen „Empresa Electrica del Norte -EDELNOR“ und das Staatliche Unternehmen der Kupferminen „CODELCO“. Im Bildungsbereich wurde mit der Einführung der geteilten Finanzierung das traditionelle Gleichheitsprinzip der öffentlichen Bildung abgeschafft. Inzwischen sind multinationale Konzerne so stark im Lande präsent, daß 10% des Bruttosozialproduktes allein durch diese Unternehmen aus Chile abfließen. Chiles Wirtschaft ist in extremem Maße von außen abhängig und damit sehr störanfällig. Das ist selbst dem Ex-Präsidenten Aylwin bewußt gewesen – „Das Wirtschaftswachstum; nun gut, wir haben vieles erreicht, und wir haben allen Grund, zufrieden zu sein. Aber wie lange wird das noch so bleiben? Chile ist ein Land, das sehr stark vom Ausland abhängig ist. Die Rezession in Europa bedeutet in diesem Jahr für uns einen Exportrückgang, also den Verlust von einer Milliarde Dollar; und das in einem Land, das ein Exportvolumen von 10 Milliarden Dollar hat. Das sind ja 10%!“ [3] Eine solche Wirtschaftspolitik ist natürlich nur wenig geeignet, die Armut im Lande auszumerzen. Berichten der Weltbank zufolge ist Chile weiterhin das lateinamerikanische Land mit der ungerechtesten Einkommensverteilung. Im Klartext heißt das, daß die Spanne zwischen Arm und Reich hier besonders groß ist. Das reichste Fünftel der Bevölkerung verfügt über zwölfmal mehr Einkommen als das ärmste Fünftel. Die soziale Polarisation verschärfte sich so weit, daß die 10% Reichsten über 45,3% des gesellschaftlichen Reichtums verfugen können, während die 10% Ärmsten lediglich 1,5% desselben besitzen. Das ist eine Folge der Wirtschaftspolitik Pinochets, die von Aylwin im wesentlichen fortgesetzt wurde. Die Verringerung der Armut war eher Wunschvorstellung als Realität. Eine Umverteilungspolitik gab es nicht; man zog es vor – wie bereits zu Zeiten der Diktatur -, darauf zu hoffen, daß der wachsende Wohlstand der Reichen irgendwann zu den Armen durchsickern würde. So kam man mit den Spitzen der Gewerkschaftsführung überein, die Forderungen der Arbeiter auf etwas später zu verschieben, um das Gedeihen der Demokratie nicht zu gefährden.

Die neue Regierung unter Eduardo Frei Tagle-Ruiz scheint entschlossen zu sein, die Wirtschaftspolitik der ersten concertacion-Regierung fortzusetzen. Preis Enthusiasmus für das neoliberale Wirtschaftsmodell brachte ihm in Chile den Spitznamen neuer Manager der Chile-AG [4] ein. Seine erste Amtshandlung war die Versammlung von 107 Großunternehmern aus aller Welt, deren Ziel offensichtlich der Verkauf Chiles war. Wie die Zeitung „La Segunda“ schrieb, sei dies der einzige Weg, um die Bevölkerung des Landes aus der Armut herauszuführen. Und sie fügte hinzu: „In dieser Aufgabe gibt es keinen Klassenkonflikt, sondern nur gemeinsame Interessen und gemeinsamen Nutzen. Unser Präsident Frei hat wiederholt die Zielstellung geäußert, das Einkommen eines jeden während der nächsten sechs Jahre zu verdoppeln, so daß beim Eintritt in das neue Jahrtausend kein Chilene mehr in Situationen extremer Armut leben muß.“ Die Zeitung versäumte es nicht, daraufhinzuweisen, daß sich „Chile den ausländischen Investoren als sicheres und effizientes Land für Investitionen präsentiert“. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der neuen Regierung sind zweifelsohne eng mit ihrem Ziel der Vervollkommnung der Demokratie verbunden. Der Weg einer wirklichen Demokratisierung kann aber nur dann erfolgreich beschritten werden, wenn alle Überbleibsel der Pinochet-Diktatur beseitigt werden. Gegenwärtig versucht die Regierung jedoch nicht nur, sich mit den Spitzen von Parteien und Gewerkschaften zu verständigen, um die Bevölkerung ruhig zu halten, sondern sie fährt nach wie vor einen Schmusekurs mit den Verantwortlichen der faschistischen Diktatur. Das oben zitierte Versprechen Preis an General Pinochet belegt das auf fatale Weise. An diesem Bild kann auch die Vorgehensweise der Justiz gegen den obersten Polizeichef nicht allzu viel ändern. Es mag in der Logik der neuen Regierung liegen, daß sie nicht auf die Mobilisierung des Volkes für die Durchsetzung einer wahrhaften Demokratie setzt, könnte sich doch eine solcherart herausgeforderte Bevölkerung eines Tages auch um die Folgen der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik kümmern. Es bleibt abzuwarten, wie Frei die beiden Pole seiner derzeitigen Politik – weitere Demokratisierung der Gesellschaft und Abschaffung der Armut – miteinander in Einklang bringen will und kann, ohne die Macht des Militärs anzutasten.

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[1] Straffreiheit für während der Diktatur begangene Verbrechen
[2] vgl. QUETZAL 3/93, S. 30.
[3] Punto Final Nr. 310, S. 4.
[4] Ebenda.

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