Am 3. Oktober und 15. November diesen Jahres werden die Brasilianer ihren neuen Präsidenten, die Gouverneure der Bundesstaaten, Senatoren und Abgeordnete für das Bundesparlament und die Vertretungskörperschaften des Bundesstaaaten wählen. Für den entscheidenden Posten des Staatschefs liegt der Linkskandidat Luis Inacio da Silva, genannt Lula, seit Monaten in den Meinungsumfragen weit vorn.
Allerdings ist ein halbes Jahr vor dem ersten Wahlgang jede Prognose unsicher. Wirtschaftspolitische Maßnahmen wie der neue Anti-Inflationsplan und wahltaktische Allianzen der Parteien können diesen Trend abschwächen oder gar kippen. Die Parteien in Brasilien funktionieren meist – im Unterschied zu vielen anderen lateinamerikanischen Staaten – als ausgesprochen inkonsistente Wahlvereine, die sich um eine oder mehrere Führungspersönlichkeiten scharen. Lediglich die sozialistische Arbeiterpartei Lulas (Partido dos Trabalhadores – PT) oder auch die Brasilianische Sozialdemokratische Partei (Partido Social Democrätico Brasileiro – PSDB) bilden da eine Ausnahme. Als möglicherweise wahlentscheidender Faktor schält sich im inflationsgeschüttelten Brasilien (monatliche Inflationsrate von 40%) immer mehr die Anti-Inflationspolitik der Regierung heraus.
Davon, ob der neue Plan die rekordverdächtig hohe Inflation nun endlich – vielleich sogar wie angekündigt „endgültig“ -einzudämmen vermag oder ob – wie so oft in den vergangenen Jahren – nur eine sich schnell wieder verflüchtigende Beruhigung eintritt, wird der Erfolg von Fernando Enrique Cardoso („FHC“), des bedeutendsten politischen Kontrahenten Lulas, abhängen.
FHC – vom renommierten Soziologen zum „Anti-Lula“?
Am 30. März 1994 trat der 63jährige Cardoso, seit Mai vergangenen Jahres Finanzminister und starker Mann der schwachen Regierung von Präsident Itamar Franco von seinem Posten zurück und verkündete gleichzeitig seine Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen am 3. Oktober. Cardoso hatte sich 1967 mit seinem bekannten Buch „Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika“ (zusammen mit Enzo Faletto) weltweit einen Namen gemacht. Als einer der ersten formulierte er mit der sogenannten Dependenztheorie eine kritische Analyse der neoimperialen Abhängigkeitsmechanismen. Später distanzierte er sich zu Recht von allzu simplen Varianten dieser Theorie. Am Beispiel Brasiliens machte er deutlich, daß eine „abhängigassoziierte Entwicklung“ trotz ihrer internen Widersprüche auch eine nicht zu unterschätzende Wachstums-Dynamik erlangen konnte. Gegen Ende der Militärdiktatur avancierte Cardoso zu einem der führenden Männer der großen Oppositionspartei PMDB. Beim Rennen um das Bürgermeisteramt von Sao Paulo, der größten Stadt des Landes, verlor er jedoch 1985 gegen den Ex-Präsidenten Janio Quadros. Als einflußreicher Senator gehörte er zu den Initiatoren einer Linksabspaltung vom PMDB (Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens), aus der 1988 die Tucanos, wie die Sozialdemokraten in Brasilien nach ihrem bunt großschnäbligen Wappenvogel genannt werden, hervorgingen. Immerhin gelang ihnen bei den Wahlen von 1989 mit Mario Cuevas als Präsidentschaftskandidat ein Achtungerfolg: mit 11 % der Stimmen kam er im ersten Wahlgang auf den 4. Platz.
Auch FHC, wie Cardoso nach USA-Manier von den Zeitungen genannt wird, erhielt in den ersten beiden Monaten dieses Jahres bei Meinungsumfragen ca. 10% der Wählerpräferenzen. Damit lag er nach Lula (rund 30%) und kapp hinter Paulo Maluf, dem ewigen Rechtskandidaten und derzeitigen Bürgermeister von Sao Paulo, auf Rang 3. Sein Stern könnte sehr rasch steigen, wenn der nach ihm benannte Plan „FHC“ greifen sollte. Neben Sozialkürzungen und Steuererhöhungen zur Deckung des riesigen Haushaltsdefizits ist ab März die Einführung eines am Dollarkurs fixierten Index zur Festlegung der Preise und Löhne geplant. Noch weiß niemand genau, wie das ganze funktionieren soll und ob die ehrgeizigen Ziele überhaupt realisierbar sind. Bisher spricht jedoch vieles dafür, daß die linke und rechte Mitte – neben den Sozialdemokraten v.a. der PMDB – in FHC einen Kandidaten gefunden haben, der gute Chancen für den entscheidenden zweiten Wahlgang hat. Dabei kommt ihm zugute, daß die bislang dominierende PMDB, die seit 1985 hauptsächlich die Regierungsverantwortung in der „Neuen Republik“ getragen hatte, in den letzten Monaten ebenso von Skandalen gebeutelt wurde wie die kleineren Parteien der Rechten. Deren Kandidaten – Ex-Präsident Jose Sarney, der Ex-Gouverneur von Sao Paulo, Orestes Quercia, und dessen Nachfolger Luis Antonio Fleury – schneiden in der Gunst der Wähler nur schlecht bis sehr schlecht ab. FHC könnte also sehr wahrscheinlich zum Bannerträger einer Koalition der linken Mitte – PMDB, PSDB und kleinere Gruppierungen – werden, dem im zweiten Wahlgang auch die Stimmen der Rechten zufallen würden und dem es damit gelingen könnte, den sonst vermutlich unschlagbaren Lula vom Planalto-Palast, dem Sitz des Präsidenten, fernzuhalten.
Die Strategie Lulas – Koalitionen und „Glaubwürdigkeit“
Lula, heute mit 49 Jahren zum zweiten Male ernsthafter und diesmal aussichtsreicher Präsidentschaftsanwärter, hat die Gefahr erkannt und Cardoso als „Anti-Lula“ der Rechten angegriffen. Der frühere Gewerkschaftsführer und – in ideologisch und historisch-geopolitische seitenverkehrter Lage – „brasilianische Lech Walensa“ hat seit der Gründung seiner Arbeiterpartei 1980 viel Wasser in seinen Wein gegossen, um breitere Teile der Bevölkerung außerhalb der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu erreichen. Wie wichtig die Orientierung auf die städtischen Mittelschichten und die große Masse der Marginalisierten in Stadt und Land ist, hat sich schon bei den Wahlen vor fünf Jahren gezeigt. Oftmals Analphabeten, hatten sich viele der „marginalizados“ durch das allgegenwärtige Fernsehen manipulieren lassen und sich für den korrupten, aber telegenen Fernando Collor de Mello entschieden.
Auch die Unternehmer sollen heute nicht mehr durch linksradikale Parolen abgeschreckt werden. Sie sollen vielmehr erkennen, daß ein Sieg Lulas keineswegs das Ende der Privatinitiative oder der Unternehmergewinne bedeuten muß. Angesichts der extremen sozialen Abgründe im heutigen Brasilien, die sich in den letzten Jahren noch deutlich vertieft und die entsprechende Kosten verursacht haben, erscheint dieses Angebot an die Unternehmer durchaus plausibel. Es bleibt aber dennoch eine Tatsache, daß die ökonomisch Mächtigen einem unsicheren Linken eine Rechts- oder wenigstens eine Mitte-Rechts-Regierang vorziehen.
Innerhalb der Arbeiterpartei sind denn auch Tendenzen zu beobachten, die sich nicht mit einem sozial korrigierten Kapitalismus zufrieden geben wollen. So machen sich trotzkistische Einflüsse bemerkbar, neben basisdemokratischen, syndikalistischen, linkssozialdemokratischen und linkskatholischen Tendenzen sind auch „realsozialistische“ Töne vernehmbar. Manche dieser Gruppen wollen von Allianzen nichts wissen, wieder andere – wie auch Lula – versuchen hartnäckig mit Parteien wie Cardosos PSDB eine fortschrittliche Koalition zu bilden. Dies führt gelegentlich zu schweren internen Zerwürfnissen:
So liegt der PT-Kandidat für den Gouverneursposten im Bundesstaat Sao Paulo, Jose Dirceu, mit dem PT-Bürgermeister von Porto Alegre, Tarso Genro, im Streit, weil dieser gemeint hatte, im Interesse der Bildung einer Allianz von PT und PSDB müsse der PT auf einen eigenen Gouverneurskandidaten in Säo Paulo verzichten. Mag es mit der inneren Demokratie in den anderen Parteien auch kaum zum Besten stehen, so teilt doch der PT in manchen Punkten dieses Defizit. Aber im Gegensatz zu diesen Parteien war die Arbeiterpartei nicht in die Korruptionswelle der letzten Monate verwickelt, in deren Gefolge allem 20 Bundesabgeordnete wegen nachgewiesener schwerer Korruption aus dem Kongreß ausgeschlossen werden sollen. Nach dem schweren Schock über den angeblichen Saubermann Collor, der erstmals in der brasilianischen Geschichte sein Präsidentenamt durch ein Amtsenthebungsverfahren – ebenfalls wegen Korruption – verloren hatte, fand der PT deshalb die Gunst vieler enttäuschter Wähler.
Ein anderer Punkt, der bei den Wahlen von Bedeutung sein wird, ist die Rolle von Leonel Brizola und seiner Demokratischen Arbeiterpartei (Partido Democratico Trabalhista – PDT). Der heute 72jährige Gouverneur von Rio de Janeiro wird mit Sicherheit noch einmal in den Ring steigen, wahrscheinlich aber außerhalb seiner Hochburgen Rio de Janeiro und Rio Grande do Sul nur wenige Stimmen erhalten. Für den zweiten Wahlgang wird er dann vermutlich – wie schon 1989 – seinen Anhängern empfehlen, trotz aller Rivalität und oft bissigen Polemiken mit Lula für diesen zu stimmen.
Ein Sieg Lulas erscheint durchaus wahrscheilich, ist jedoch keineswegs sicher. Stattdessen sehen sogar einige FHC als künftigen Präsidenten oder jedenfalls als einzige Alternative zu drohender Gewalt und Chaos. Ob sich mit FHC ein starkes Zentrum bilden und sich gegen Lula durchsetzen kann, oder ob doch noch eine breite Linkskoalition zustande kommt, bleibt vorerst offen. Nicht ganz auszuschließen ist auch die Variante, daß ein „neuer Kandidat“ – ähnlich wie Collor vor fünf Jahren – von den Massenmedien hochgeschossen wird und dann das Rennen macht. Die wahltaktischen Schlammschlachten zeitigen, obwohl gerade erst entbrannt, schon einige Wirkung. So ist unschwer zu erraten, worauf der Vorwurf zielt, der PT verfüge nicht über genügend qualifizierte Führungskräfte. Auch der Vorwurf, daß ja die Arbeiterpartei – außer ihren führenden Leuten (!) – aus allzu einfachen Geistern bestünde, die Ideen von vorgestern, „vor dem Fall der Berliner Mauer“, nachhingen. Dabei wird natürlich vergessen (gemacht), daß der PT mit jener Mauer in Europa nichts zu schaffen hatte und daß – wie Lula schon 1989 zu Recht meinte – in Brasilien eine andere Mauer, jene „Schandmauer“, die die wenigen Priviligierten gegen die unzähligen Armen und Elenden errichtet haben, zu Fall gebracht werden muß.