Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Interview mit Nelson Cabrera
Dokumentarfilmer aus Valparaíso

Mario Casasús | | Artikel drucken
Lesedauer: 12 Minuten

Das Kino erlaubt uns, politisch aufzutreten, zu sensibilisieren und die Stadt neu zu erfinden

Valparaiso: Blick zum Hafen - Foto: Quetzal-Redaktion, sscMexiko DF.- In einem telefonischen Interview von Valparaíso aus spricht Nelson Cabrera über die Aktivitäten des Cine Forum: „In der ersten Januarwoche präsentieren wir Cine Otro, im Oktober führen wir das Festival des indigenen Kinos durch und im Mai eröffnen wir eine Ausstellung mit allem Material, das wir über Valparaíso erhalten haben.

Unser Interesse liegt darin, alle ohne Ausnahme miteinzubeziehen, da die technische Entwicklung es ermöglicht, dass wir alle die Umgebung mit offenen Augen wahrnehmen, und uns motiviert, diese Vernetzung zu schaffen. Wir laden die Studenten ein, ihre Examensarbeit audiovisuell umzusetzen, damit ihre Arbeit über die Akademie hinaus bekannt wird. Es gibt ein neues Kino, das noch im Verborgenen liegt und das wir zeigen müssen.“

Nelson Cabrera, Regisseur der Dokumentarfilme Ahuyentando el temporal (1994), El circo mágico de Valparaíso (2000) und La singular historia aérea y cósmica de Bruno Bernal (2004), meint: „Man denkt, uns überlisten zu können, indem man uns glauben macht, dass Valparaíso Weltkulturerbe ist, und dabei stimmt das nicht. Das trifft nur auf drei Stadtviertel zu. Dort kaufte die Bourgeoisie alle prächtigen Häuser und richtete Restaurants, Bars, Hotels und Cafés für nordamerikanische und europäische Touristen ein. Praktisch gehören diese Viertel nicht mehr zu Valparaíso, und das ist ein Witz. Wir bekennen uns zu den Leuten der Straße, die überleben, indem sie irgendetwas verkaufen oder klauen, weil sie keine feste Arbeit haben, und auch das neoliberale Modell erwägt nicht, neue Arbeitsplätze zu schaffen, und deshalb bleiben dort weiterhin die Verdammten der Erde und des Meeres.“

Mario Casasús (MC.) – Was ist die Thematik Ihrer Dokumentarfilme?

Valparaiso - Foto: Quetzal-Redaktion, sscNelson Cabrera (NC.) – Ich lasse mich von den Randbezirken Valparaísos inspirieren, vom Hafen und den Vierteln der Armen. Meine drei Dokumentarfilme sind: Ahuyentando el temporal (1994) über die Fischer und das Ritual von San Pedro; El circo mágico de Valparaíso (2000) handelt vom Eindringen der Transvestiten in die äußeren Stadtbezirke, weil während der Diktatur durch die Ausgangssperre das Nachtleben und auch die sexuelle Arbeit der Transvestiten mit einem Schlag zu Ende war, so dass sie sich entschieden, in die Außenbezirke zu wechseln; und La singular historia aérea y cósmica de Bruno Bernal (2004) über die alten Leute aus dem Gedicht von Pablo de Rokha: Oceanía de Valparaíso.

MC.- Welche Filmfestivals koordinieren Sie in Valparaíso?

NC.- Zwei: zum einen das Festival, das sich mit politischen, sozialen und Menschenrechtsproblemen beschäftigt – Cine Otro -, welches das Thema der Unsichtbaren beleuchtet; zum anderen eröffnen wir einen Zyklus des Cine Indígena, weil man über die filmische Aufzeichnung die Leute sensibilisieren kann. Wir wollen, dass das Abkommen 169 der OIT verpflichtend wird für die Verfassung der chilenischen Republik, in die auch die Erklärung der Menschenrechte aufgenommen wurde.

MC.- Was beleuchten die Dokumentarfilme, die über die Geschichte der Mapuche gedreht wurden?

NC.- Es ist sehr sonderbar, aber es gibt kaum Material über die Mapuche. Die Forderungen, die das Volk der Mapuche an den chilenischen Staat stellt, d.h. die Spiritualität, die Medizin der Mapuche und das geschichtliche Gedächtnis, sind unbekannte und wenig angesprochene Themen. Es gibt viel Filmmaterial. Manchmal beschränken sich die Regisseure von Doku auf das Filmen der Proteste und der politischen Gefangenen der Mapuche, aber ich glaube, wenn wir die ganze Vielfalt der Mapuche-Kultur darstellen würden, wäre die Wirkung größer, um die winka zu sensibilisieren.

MC.- Und auf internationaler Ebene? Erinnern Sie sich an die Namen von Regisseuren aus anderen Breitengraden, die an den Filmfestivals in Valparaíso teilnahmen?

Chile: Proteste der Mapuche - Foto: antitezoNC.- Wir konnten mit einer großen Zustimmung aus Spanien rechnen, denn dort gibt es ein unabhängiges, fortschrittliches Kino als Protest gegen das aktuelle globale Modell. Gerade aus Spanien kommt viel filmisches Material, ich erinnere an José Luis Penade. Aus Argentinien kam Mundo Alas (Geflügelte Welt) von León Gieco. Und aus der Schweiz erhielten wir einen Dokumentarfilm über die Maßlosigkeit des neoliberalen Systems, der aufzeigt, was sie alles einsetzen, um das Land zu industrialisieren, koste es, was es wolle: die Verantwortlichen morden, bombardieren oder siedeln die Dörfer von Bauern oder Maultiertreibern um. In den nördlichen Ländern siedeln sie sogar die Hirten um, weil die internationalen Unternehmen auf den Feldern Gas gefunden haben. Wir erhalten Filme aus der ganzen Welt.

MC.- Wie werden diese beiden Kinofestivals im Ausland verbreitet?

NC.- Durch die spanische Internetseite Rebelion.org haben wir die Regisseure in aller Welt aufgerufen, und die starke Rückmeldung, die wir erhielten, zeigt uns, dass wir die Glaubwürdigkeit des Gremiums der Dokumentarfilmer und Regisseure gewonnen haben.

MC.- In Lateinamerika existieren ähnliche Festivals und manchmal wissen sie nicht einmal voneinander. Wie kann man die Festivals des indigenen Kinos untereinander verbinden?

NC.- Es stimmt, dass es einen unglaublichen Mangel bezüglich der Kommunikation in Lateinamerika gibt. Wir haben eine sehr enge Beziehung zu Argentinien – ich empfehle hier das Festival der sozialen Anthropologie in Buenos Aires, das zum Nationalen Institut für lateinamerikanische Anthropologie und Denken (Instituto Nacional de Antropología y Pensamiento Latinoamericano) gehört. Es ist ein Festival, das bereits seit über 20 Jahren besteht. Dort wird die Arbeit der Anthropologen wiedergegeben, und man lädt uns ein, bei der Ausstellung der Dokumentarfilme mitzuwirken. Mit Paraguay hingegen kommunizieren wir per E-Mail, aber bis jetzt haben sie uns noch nie ihre Filme geschickt, genauso wenig wie Peru. Das heißt, es fehlt eine gute Vernetzung. Zudem sind manchmal auch die Organisatoren der indigenen Kinofestivals sehr puristisch und nehmen von uns keine Notiz, wenn wir Mestizen sind – obwohl ich Quechua-Wurzeln habe.

MC.- Haben Sie auf Grund des Alters des Festival Cine Otro weitere Verbindungen in Lateinamerika?

Valparaiso: Graffiti - Foto: Quetzal-Redaktion, mgNC.- Bei einer Gelegenheit waren wir beim Encuentro de Festivales de Cine in Buenos Aires, da der Gedanke aufgekommen war, ein Netzwerk zu gründen. Bedauerlicherweise mussten wir uns mit wirtschaftlichen und politischen Gedanken auseinandersetzen, die wir zum Beispiel mit dem Studio und der Produktionsfirma Séptimo Ojo aus Sucre nicht teilten. Wir sind eine soziale Organisation, und das Kino ist ein Instrument, um politisch bei den Aufgaben in der Stadt in Erscheinung zu treten; sie dagegen sind an eine Institutionalisierung gebunden und wurden von Holland aus unterstützt. Wir hingegen weigerten uns, Geld von internationalen Organisationen anzunehmen, obwohl wir weder Mittel für Plakate noch Kataloge oder glamouröse Einladungen für große Regisseure hatten. Wir ließen uns nicht darauf ein, weil wir in Valparaíso weiterhin anerkannt werden wollten.

MC.- Wie können lateinamerikanische Dokumentarfilmer Ihnen ihre Vorschläge, Anfragen oder Ausstellungseinladungen zukommen lassen?

NC.- Wir haben die Internetseite Cineforum.cl und weisen stets auf unsere drei Aktivitäten pro Jahr hin: In der ersten Januarwoche präsentieren wir Cine Otro, im Oktober eröffnen wir das Festival des indigenen Kinos und im Mai beginnen wir eine Ausstellung mit all dem Material, das wir über Valparaíso bekommen haben. Der Mai ist der Monat des Meeres und wir haben beschlossen, diese Ausstellung als Ehrung für alles, was im Meer verschwunden ist, zu machen. Unser Interesse liegt darin, alle ohne Ausnahme miteinzubeziehen, da die technische Entwicklung es ermöglicht, dass wir alle die Umgebung mit offenen Augen wahrnehmen, und uns motiviert, diese Vernetzung zu schaffen. Wir laden die Studenten ein, ihre Examensarbeit audiovisuell umzusetzen, damit ihre Arbeit über die Akademie hinaus bekannt wird. Es gibt ein neues Kino, das noch im Verborgenen liegt und das wir zeigen müssen. In dieser Hinsicht sollte man eine Koordinierung in Lateinamerika schaffen.

MC.- Während der Studentenproteste in Valparaíso habe ich keine Dokumentarfilmer entdecken können. Liegt das an der Beständigkeit oder der Abnutzung dieses Themas nach fast einem Jahr Demonstrationen?

NC.- In Valparaíso haben wir ja ständig die audiovisuelle Aufzeichnung, aber auf Grund individueller Initiative. Die Akademie selbst nimmt nicht die Studentenbewegungen auf, weil die Mitglieder der Akademie vom neoliberalen politischen Modell durchdrungen sind. Aus diesem Grund haben wir unser Kollektiv gegründet und zeigen eine Zusammenfassung des Materials über Valparaíso. Auf diese Weise geben wir dem Volk seine Bilder zurück, und zwar in den Ausstellungen und Festivals, in den öffentlichen Aufführungen, in den Außenbezirken, weit weg vom touristischen Glamour des Hafens.

MC.- Über wie viele kulturelle Räume und öffentliche Foren verfügt Valparaíso?

Valparaiso: Graffiti - Foto: Quetzal-Redaktion, mgNC.- Valparaíso ist eine Stadt, in der alles erlaubt ist. Ich hebe das Fest der 1000 Trommler hervor, das zwischen dem 5. und 8. Oktober in Erinnerung an Ernesto Che Guevara und Miguel Enríquez stattfindet. Es wird vom Centro Cultural Playa Ancha organisiert und lockt viele Leute an. Sie können nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen; es sind Jugendliche, die mit ihren Gruppen aus dem ganzen Land kommen, und ihre Losung des letzten Jahres war die kostenlose Ausbildung. Es gibt die Volkshochschule, die ein weiterbildendes akademisches Programm anbietet. Valparaíso ist eine Stadt, die ein unglaubliches geistiges Leben ausstrahlt, und vor allem die jungen Leute tragen etwas zu diesem Rhythmus bei, der entstanden ist. Das vergessene Valparaíso ist das der Außenbezirke, wo der Drogenhandel floriert, es sind die Randbezirke, wo es nicht einmal die geringste soziale Versorgung gibt, also eine immer noch ungelöste Aufgabe. Kino durch Ethnographie könnte eine Antwort für die Jugendlichen sein: Wir müssen die Stadt neu erfinden!

MC.- Was können Sie mir über den Parque Cultural Ex Cárcel (Kulturpark einstiges Gefängnis) von Valparaíso erzählen?

NC.- Das Projekt des Ex-Gefängnisses könnte bedeuten, eine große Anzahl Jugendlicher anzusprechen, und zwar durch die Umgestaltung von Valparaíso in eine Studentenstadt – hier entstanden sehr viele private Universitäten, außerdem wurden einige öffentliche Universitäten ausgebaut, was viele junge Leute anzog. Diese erobern mit ihren künstlerischen Arbeiten das einstige Gefängnis. Ich glaube, dass das Volk nicht in die Gefängnisse geht, um zu sehen, wo jemand gefangen war oder unterdrückt wurde, sondern dass es nun ein Gefängnis der gemeinsamen Grundrechte ist, das Gefängnis der Vergessenen von Valparaíso. Ich verstehe wirklich, dass man kulturelle Stätten braucht, aber es müssen öffentliche Räume sein, und nicht private oder Stätten, die von verschiedenen Organisationen mit staatlicher Beteiligung verwaltet werden, weil ihre intellektuellen Organe ausschließlich Vorstellungen für die Reichen vorschlagen würden. Ich meine, dass die Regierung den passenden Zeitpunkt abwartet, um die unabhängigen Bürger und Künstler aus der Corporación Mixta del Parque Cultural Ex Cárcel de Valparaíso hinauszuwerfen. So wird der Staat sich in vollem Umfang dieser Stätte bemächtigen, die vorher von den Bürgern zurückgewonnen wurde. Ich persönlich möchte lieber in Freiheit arbeiten, ohne der Rechten irgendetwas zuzugestehen, und genau aus diesem Grund habe ich Valparaíso mi amor gegründet.

MC.- Warum haben Sie Ihr kulturelles Forum nach dem Film Valparaiso mi amor benannt?

NC.- Mich hat der Film Valparaíso mi amor (1969), der von Aldo Francia als Antwort auf die Arbeit von Joris Ivens A Valparaíso (1962) gedreht wurde, sehr beeindruckt. Aldo Francia drehte seinen Dokumentarfilm über die Armen von Valparaíso, eingerahmt in den italienischen Neorealismus, weil seine Schauspieler die Bewohner der Stadt sind. Er handelt von der Ästhetik der Armut im Hafen, von Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Ich teile diese Konzepte sowohl im Kino als auch im kulturellen Raum.

MC.- Hat die Ernennung von Valparaiso zum Weltkulturerbe die Unterschiede zwischen der Stadt der Touristen und der Bevölkerung, die am Rande lebt, verdeutlicht?

NC. – Man meint, uns überlisten zu können, indem man uns glauben macht, dass Valparaíso Weltkulturerbe ist, und dabei stimmt das nicht. Das trifft nur auf drei Stadtviertel zu. Dort kaufte die Bourgeoisie alle prächtigen Häuser, die von der UNESCO zumValparaiso: La Sebastiana, Wohnhaus von Pablo Neruda - Foto: Quetzal-Redaktion, ssc Weltkulturerbe ernannt wurde, und richtete dort Restaurants, Bars, Hotels und Cafés für nordamerikanische und europäische Touristen ein. Praktisch gehören diese Viertel nicht mehr zu Valparaíso, das ist ein Witz. Wir bekennen uns zu den Leuten der Straße, die überleben, indem sie irgendetwas verkaufen oder klauen, weil sie keine feste Arbeit haben, und auch das neoliberale Modell erwägt nicht, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb bleiben dort weiterhin die Verdammten der Erde und des Meeres.

MC.- Letze Frage: Welche Rolle spielt La Sebastiana im kulturellen Geflecht des Hafens?

NC.- Keine, denn das Museum von Neruda ist nicht für die Bevölkerung konzipiert. Es wurde nur für die Touristen entworfen. Uns haben sie nicht mehr eingeladen, nachdem wir ein Festival über soziale Poesie in La Sebastiana organisiert haben. Sie sind nur auf Profit aus. Ich erinnere mich, dass ich ein Mal in La Sebastiana eine Reportage über die Trauerfeier von Pablo Neruda vorgeführt habe – 17 Minuten Farbfilm und mit Originalton. Man verlangte von mir, diese historische Filmaufnahme – in 8-Millimetern – zu spenden und zwar für die Stiftung Neruda. Die sind so etwas von dreist.

—————————————-

Original-Beitrag aus Clarín de Chile vom 15. Januar 2012. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitung. 

Übersetzung aus dem Spanischen: Annelie Rochholl

Bildquellen: [1], [2], [6] Quetzal-Redaktion, ssc, [3] antitezo, [4], [5] Quetzal-Redaktion, mg

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert