Die Beziehung zwischen Natur und Mensch ist in Brasilien, und ganz Lateinamerika, selbstverständlich in literarische Diskurse eingeschrieben. Dass der Naturdiskurs eine tragende Rolle in der Identitätsbildung Brasiliens spielt, zeigt schon Euclides da Cunhas Roman Os Sertões (1902). Er beginnt mit dem Kapitel „A terra“, wo die karge Landschaft der Halbwüste Sertão porträtiert wird, in der die Handlung während des Krieges von Carnudo (1896-97) verortet ist. Aus Mangel an Fruchtbarkeit sowohl im ökologischen als auch ideologischen Sinne soll eine neue brasilianische Identität entstehen. Hier werden die Wechselbeziehungen zwischen der Beschaffenheit des Erdbodens oder Klimas und der Kulturentwicklung der menschlichen Gesellschaft verarbeitet.
Besonders zum Ende des 20. Jahrhunderts legte sich ein Fokus der lateinamerikanischen Narration auf die indigene Bevölkerung des Amazonasgebietes und deren besondere Beziehung zur Natur. Hierbei verändert sich das westlich geprägte Bild der edlen Wilden oder unterentwickelten Ureinwohner zunehmend hin zu einer Anerkennung der Weltanschauung unterschiedlicher brasilianischer Kulturen. Diese Entwicklung kann als selbstkritischer Wandel in den Geisteswissenschaften angesehen werden und ist noch in vollem Gange. In der Literatur wird die Weltanschauung der indigenen Bevölkerung sowohl auf inhaltlicher als auch auf der Ebene des Erzählens selbst sichtbar.
Der Anthropologe Darcy Ribeiro veröffentlichte 1976 seinen Roman Maira, der auf knapp 350 Seiten das Bild eines Dorfes mitten im Amazonas zeichnet, das auf seiner anthropologischen Forschung beruht. Ribeiros Experimentalroman führt eine ethnologische Bestandsaufnahme der kulturellen Landschaft der brasilianischen Gesellschaft im Amazonasgebiet ein. Insgesamt handelt es sich bei dem Roman um eine Collage unterschiedlicher Textformen und Erzählperspektiven, die anachronisch aufarbeiten, wie es zum Tod einer schwangeren Ordensschwester kam. Sie erreichte das Dorf gemeinsam mit dem Protagonisten Isaías, ursprünglich Avá, der jahrzehntelang als Priester in Europa ausgebildet wurde, und nun zurückkehrt, um seinen Platz als zukünftiger Vorsitzender im Dorf seiner Geburt einzunehmen – was sich weitaus schwieriger gestaltet als zunächst angenommen.
Maira besteht aus 66 Kapiteln, die vier Teilen zugeordnet sind: Antifona, Homilia, Canon und Corpus. Der Aufbau des Buches erinnert an den Ablauf einer christlichen Messe. Ausgehend von dieser katholischen Weltwahrnehmung, führt der Roman die Lesenden in die Weltanschauung des fiktiven Volkes der Mairun ein, während sie Isaías/Avá bei seiner Rückkehr begleiten. Die einzelnen Kapitel stellen eine Realität dar, die in Erinnerungen, Gedichte, Dokumente (Brief, Annotationen), Schöpfungsmythen, Investigation im Mordfall, die Stimme der indigenen Gottheiten, innere Monologe und Dialoge dekonstruiert wird. Einzelne Kapitel erzählen, wie die ersten Wesen der Schöpfung, Maíra (Sohn des Schöpfers, Monsaignar) und Micura, sich in die Körper der Figuren bewegen und so gleichzeitig Teil der Schöpfung der Welt und der Erzählgegenwart ein können.
In der Weltwahrnehmung der Mairun gibt es keine historische Linearität, sondern Götter und Menschen, Lebende und Tote können in der gleichen Wirklichkeit existieren. Raum und Zeit der Aussagen verschwimmen in der Wahrnehmung der Mairun, so wie sie sich uns im Roman vermittelt wird. Das bedeutet, dass im Roman unterschiedliche Welten, Wahrheiten und Aussagen zum gleichen Zeitpunkt möglich sind. Auf diese Weise schafft es der Anthropologe Ribeiro seinen Leser_innen die Kosmovision des Mairunvolkes zu vermitteln. Bei der Kosmovision handelt es sich um eine Weltauffassung, in der die Erde die Gesamtheit der Natur bedeutet, in der das Göttliche allgegenwärtig und immanent ist. Die Menschen sind als Kinder der Erde in ständigem Dialog mit ihr [1]. Genau dies wird in Darcy Ribeiros Roman vermittelt und für die christlich geprägte Leserschaft durch das Erzählen erfahrbar gemacht.
Im Gegensatz zu Ribeiro, der die Kulturen Brasiliens von außen betrachtet und beschreibt, spiegeln andere Werke der brasilianischen Gegenwartsliteratur die Legenden und Kulturen aus sich selbst heraus. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine junge Generation indigener Autor_innen in Brasilien formiert. Ihre Literatur erzählt die Geschichte Brasiliens ganz direkt aus eigener Perspektive. Zunächst wurden die Legenden der unterschiedlichen Kulturen Brasiliens in Kinderbuchform wiedergegeben und die Schöpfungsmythen gesammelt und festgehalten. Und zwar nicht aus einer externen Perspektive, sondern eben von Angehörigen der Kulturen selbst. Hierzulande gehört Daniel Munduruku wohl zu den bekanntesten indigenen Autor_innen unserer Zeit. Nicht zuletzt, weil er im Jahr 2013 einer der 70 geladenen brasilianischen Gäste der Frankfurter Buchmesse war.
Wie sein Nachname verrät, gehört er dem Stamm der Munduruku an. Er ist Anthropologe und promovierter Pädagoge. Seine Werke sind hauptsächlich der Kinder- und Jugendliteratur zuzuordnen, wobei er seit den 2000er Jahren auch Romane für ein erwachsenes Publikum verfasst hat. Sein Roman Todas as coisas são pequenas (2008) beschreibt die Erfahrung des gut situierten Brasilianers Carlos, der nach einem Flugzeugabsturz mitten im Amazonas durch einen, in einem nahegelegenen Ort lebenden Mann gerettet und von ihm auf besondere Art und Weise in die Vorstellungen der Kosmovision eingeführt wird. Der junge Mann findet so einen Weg, die Leere seiner Existenz, die er zuvor noch verspürt hat, zu verstehen. Sein neuer Name soll Irihi sein, und als dieser erlebt er die Kultur des Indios, wie er seinen Lehrer nennt, kennen. Besonders wichtig ist die Kommunikation der Menschen im Dorf untereinander. Sie scheinen ganz selbstverständlich über die Kraft ihrer Gedanken zu kommunizieren. Carlos begibt sich auf eine Reise zwischen Traum und Realität und kommt so seinem Lehrer und dessen Kultur immer näher, bis er schließlich vor eine große Aufgabe gestellt wird, die seine Weltwahrnehmung verändern wird. Über die Kommentare und Handlungen der Figuren öffnet sich auch für uns Lesende die Möglichkeit, die Kultur Mundurukus kennenzulernen und über die Literatur selbst erfahren zu können.
Die Oralität ihrer Kulturen zu verschriftlichen, ist eine der großen Herausforderungen, vor denen die indigenen Autorinnen und Autoren stehen. Die portugiesische Sprache bietet eine Möglichkeit, das Wissen der indigenen Völker auf der einen Seite zu bewahren und auf der anderen Seite ins Bewusstsein der brasilianischen sowie internationalen Gesellschaft zu lenken. Zwischen Traum und Realität kann die Leserin/ der Leser gleichzeitig mit Irihi einen Einblick in die Kulturen Brasiliens gewinnen. Die Kosmovision ist den fiktionalen Texten Mundurukus selbstverständlich eingeschrieben. Es wird deutlich, dass sich die unterschiedlichen Gesellschaften mit den gleichen existenzialistischen Fragen beschäftigen wie die europäischen Kulturen. Nur gibt es hier unterschiedliche Herangehensweisen, die zu der Erkenntnis führen, dass alle Dinge gleichzeitig voll von Bedeutung sind und doch nichts bedeuten – Todas as coisas são pequenas.
Er eröffnet über die Literatur einen Dialog der Kulturen untereinander, der aufgenommen werden sollte. Dabei kann die portugiesische Sprache als Vehikel der Kommunikation betrachtet werden. Anders als in den ehemaligen afrikanischen Kolonien, nutzen die indigenen lateinamerikanischen Autor_innen Sprache und Literatur nicht als Rückschlaginstrument gegen die ehemaligen Kolonisator_innen, wie Bill Ashcroft et al. in ihrem Werk The Empire Writes Back (1989) deutlich formuliert haben, sondern stellen einen ganz eigenen unabhängigen literarischen Diskurs auf. Es geht um das Bewusstsein der alternativen Geschichtsschreibung. Eine Reihe indigener Autor_innen lässt sich dieser alternativen Literatur und Geschichtsschreibung zuordnen.
Das Werk A terra dos mil povos: história indígena do Brasil contada por um índio (1998) von Kaka Werá Jecupé, zum Beispiel, beschreibt den Verlauf der Geschichte aus einer anderen Perspektive. Kaka Werá Jecupé gehört dem Stamm der Kayapo an. Er nutzt den Begriff „indigen“, erklärt aber auch, dass dieser erst mit den Winden der Meere des 16. Jahrhunderts Brasilien erreichte und jeder Stamm eine eigene Bezeichnung verdiente. So meint er beispielsweise die Tupi (Tupy) was laut Jecupé so viel wie gefusster Klang (som de pé) bedeutet – eine spirituelle Qualität, die in eine harmonische Form gebracht wurde. In der Kosmovision klingen alle Entitäten zusammen: Stein, Pflanze, Tier, Mensch, Himmel und Erde [2]. Es geht nicht um Menschen, die im Einklang mit der Natur leben, wie die indigenen Kulturen Brasiliens von außen oft charakterisiert wurden, sondern um ein Bewusstsein der Menschen dafür, dass der Mensch in direkter Abhängigkeit von der Natur lebt.
Kaka Werá Jecupé setzte sich an der Seite von Daniel Munduruku, Olívio Tupã und Roman Quetschua für eine intertribale Solidarität und Verteidigung der indigenen Staatsbürgerschaft ein. Auch hier zeigt sich, wie eng Literatur, Gesellschaft und Politik in Lateinamerika verwoben sind. In unruhigen Zeiten in der Politik und durch die internationale Aufmerksamkeit durch große Sportereignisse kann die brasilianische Zivilgesellschaft sich erneut Verhör verschaffen und das Bild dieser vielseitigen Gesellschaft neu gezeichnet werden.
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[1] Vgl. Nidia Arobbo (1997): „Die indigene Kosmovision“, in: Arno Teutsch (1997): Pachacuti. Der Traum einer neuen Welt. Merano: Alpha & Beta, 1 f.
[2] Vgl. Kaka Werá jecupé (1998): A terra dos mil povos: história indígena brasileira contada por um índio. São Paulo: Peirópolis.
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Bildquelle: [1]–[4] Buch Cover